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Kontextuelles Filmverstehen

Methoden des Filmverstehens am Beispiel »Trainspotting«

Lothar Mikos

 
FAChbereich Deutsch
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[Methoden des Filmverstehens am Beispiel »Trainspotting«]
Lothar Mikos (1998)
Filmverstehen geht dabei wie oben beschrieben von einem anderen Verständnis von Filmen aus. Im Mittelpunkt steht einerseits die Frage danach, wie Filme in erster Linie verstanden und erst in zweiter Linie interpretiert werden, andererseits die Frage, wie sich Filme als bedeutungsvoller Diskurs in sozialen Gruppen und in der Gesellschaft konstituieren. Idealerweise werden in der Analyse formale und inhaltliche Elemente berücksichtigt, jedoch nicht an und für sich, sondern unter Berücksichtigung von Produktion und Rezeption, die im Rahmen diskursiver, kultureller und gesellschaftlicher Kontexte gesehen werden. Zu diesem Ziel führen verschiedene Wege und Methoden, die jedoch alle ihre Stärken und Grenzen haben. [...]

So entstand die Idee, anhand eines Beispielfilms verschiedene Analyseansätze darzustellen und zu diskutieren. Als Film wurde Trainspotting (Großbritannien 1995, Danny Boyle) ausgewählt. Der Film hatte in der öffentlichen Diskussion zu Kontroversen um unterschiedliche Interpretationen geführt und schien daher besonders geeignet, die verschiedenen Analyseverfahren an ihm vorzuführen. Die vier vorgestellten Verfahren waren die tiefenhermeneutische Rekonstruktion (König), ein textanalytisches Verfahren (Struck/Wulff) sowie zwei diskursanalytische Verfahren, die sich einerseits auf die diskursanalytische Tradition in der Literaturwissenschaft bezogen (Müller) und andererseits auf die Diskursanalyse, wie sie sich in der Tradition der Cultural Studies entwickelt hat (Winter). [...]

Während es der tiefenhermeneutischen Rekonstruktion um die Offenlegung von manifesten und latenten Sinnstrukturen und den davon betroffenen Lebensentwürfen im Film geht, leistet die Textanalyse eine Rekonstruktion der narrativen Struktur und der Strategien der Darstellung des Films. Die literaturwissenschaftlich orientierte Diskursanalyse begreift den Film als eine "institutionalisierte Aussagenmenge" (Plumpe 1988), die als eine der möglichen Aussagen in einem historischen Feld verstanden werden. Die an den Cultural Studies orientierte Diskursanalyse begreift dagegen den Filmtext als symbolisches Material, das erst im Rahmen von spezifischen Diskursen Sinn macht und rückt so die sozialen Kontexte der Rezeption in den Mittelpunkt.

Jeder Ansatz setzt so in der Analyse bzw. dem Prozess des Filmverstehens unterschiedliche Schwerpunkte und kommt so auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die tiefenhermeneutische Rekonstruktion arbeitet Szenenkomplexe heraus, in denen subjektive Erfahrungen aufgegriffen werden wie z.B. den Szenenkomplex, "Spaß daran zu haben, ein Junkie zu sein". Sie leistet so eine "textimmanente Rekonstruktion der ästhetischen Sinnstruktur" (König). Die Textanalyse arbeitet globale Strukturen des Films heraus, die sie mit den Begriffen "vorher ­ nachher" beschreibt und zeigt, wie sich das semantische Potential von Trainspotting über seine narrative Struktur entfaltet. Die Diskursanalyse von Müller arbeitet die Drogenproblematik als zentralen Diskurskomplex des Films heraus und zeigt, dass Trainspotting anders damit umgeht als vergleichbare "Drogenfilme". Alle drei Methoden des Filmverstehens konzentrieren sich auf das Thema des Films, den Genuss von Drogen als Aktivität einer Subkultur. Die an den Cultural Studies orientierte Diskursanalyse geht über diesen Aspekt weit hinaus, indem sie die Diskurskomplexe der Gesellschaft heranzieht, um anhand der Kritiken zu dem Film die verschiedenen Lesarten von Trainspotting als Elemente eben dieser gesellschaftlichen Diskurspraktiken deutlich zu machen.

Abgesehen von der textanalytischen Variante gehen alle Ansätze auf den Inhalt des Films ein, dramaturgische und formale Darstellungsmittel spielen dabei keine Rolle. Wenn man davon ausgeht, dass die Strukturen des Filmtextes aber die Rezeption eines Filmes vorstrukturieren, so bleibt dieser Aspekt bei diesen drei Ansätzen unberücksichtigt bzw. auf den Inhalt beschränkt. Lediglich in der Textanalyse wird aufgrund der narrativen Struktur das semantische Potential des Filmes entfaltet. Alle vier methodischen Zugangsweisen machen jedoch deutlich, dass der Film nicht einfach als Anti- oder Pro-Drogenfilm gesehen werden kann, sondern dass er zahlreiche Brüche enthält, sowohl ästhetische als auch narrative und inhaltliche. Sie zeigen damit, wie komplex ein populärer Film sein kann. Damit sind sie klassischen Varianten der Inhaltsanalyse und der Filminterpretation überlegen, da jene darauf aus sind, eine einheitliche, kohärente Botschaft oder Ideologie des Films auszumachen.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den vier Zugängen zu dem Film ist der ihnen zugrundeliegende Textbegriff. Die tiefenhermeneutische Rekonstruktion und die Textanalyse gehen von einem abgeschlossenen Text aus. Während in der Textanalyse vom Text als "gestalteter Ganzheit" (Struck/Wulff) ausgegangen wird, in der werkbezogen die Elemente analysiert werden können, sieht die tiefenhermeneutische Rekonstruktion den Text als eine geschlossene Sinneinheit, aus der die manifesten und latenten Sinnstrukturen herausgearbeitet werden können. Die beiden Ansätze der Diskursanalyse zeigen jedoch, dass es den Sinn eines Filmtextes nicht gibt und nicht geben kann. Sie sehen den Filmtext in ein Netz von Diskursen verwoben, die verschiedene Lesarten hervorbringen. In den ersten beiden Fällen bildet der Text einen Korpus, aus dem Elemente herausgearbeitet oder Sinn herausinterpretiert werden kann, in der Diskursanalyse ist er dagegen nur als Teil eines Kommunikationsprozesses denkbar. Grundsätzlich besteht allerdings auch in der Tiefenhermeneutik die Vorstellung, dass "es eigentlich keinen 'Originaltext' gibt, denn der wäre ja nicht-gelesen, nicht-gehört oder nicht-gesehen (vgl. Belgrad 1996, S. 52).

Auch wenn zwischen den Ansätzen unterschiedliche Textbegriffe hervorgehoben werden, besteht bei allen vier Zugangsweisen Einigkeit darüber, dass ein Film auf der rein materiellen Basis einen Textkorpus darstellt, der einen Anfang und ein Ende hat. Wird dieser materielle Korpus aber zu symbolischem Material und tritt in Kommunikations- und Interaktionsprozesse ein, kann er nicht mehr als geschlossene Einheit betrachtet werden. Damit ist ein zentraler Punkt angesprochen. Denn Filmtexte, die der Analyse zugänglich sind, sind in jedem Fall rezipierte Texte. Hinzu kommt, dass Filmtexte immer zum Wissen der Zuschauer hin geöffnet sind (vgl. Mikos 1996ff.). So geht die Tiefenhermeneutik zwar richtig davon aus, "um zu Deutungen zu gelangen, dient unser Alltagsverständnis und unsere eigene Subjektivität als erste Basis für die Deutungen"; sie sieht darin aber nur "die Voraussetzung für die objektivierende Interpretation" (Belgrad 1996, S. 56). Damit wird letztlich unterstellt, dass es so etwas wie eine objektiv richtige Interpretation eines Filmes gibt. Die Diskursanalyse macht dagegen deutlich, dass jede Interpretation von den sozialen und kulturellen Diskursen abhängt, die in der Gesellschaft kursieren. Gerade weil die Filmtexte zum Wissen der Zuschauer hin geöffnet sind, gelingt es ihnen, sich in der Rezeption in die sozialen und kulturellen Diskurse einzuklinken.

Ein Film ist so aufgrund der Tatsache, dass er rezipiert wird, immer in ein unbegrenztes Spiel von Bedeutungen verstrickt. In diesem Spiel werden aber aufgrund von ideologischen Strukturen, spezifischen kulturellen und sozialen Diskursen bestimmte Bedeutungen favorisiert. Die von der Tiefenhermeneutik herausgearbeitete "objektivierende Interpretation" stellt daher nur eine der Bedeutungsstrukturen des Textes dar, die von einem spezifischen Diskurs abhängt, dem der psychoanalytischen, tiefenhermeneutischen Rekonstruktion, aber auch von ideologischen, sozialen und kulturellen Diskursen, die diesen spezifischen Diskurs beeinflussen. Eine "objektivierende Interpretation" ist ohne die Diskurse, in die sie eingebettet ist, nicht möglich.

Für medienpädagogische Forschung scheint es sinnvoll, Filmtexte nicht als geschlossene Einheiten zu betrachten, aus denen ein manifester und latenter Sinn rekonstruiert werden kann, sondern als in Diskurse eintretende Texte, die in unterschiedlicher Weise gelesen werden können. Nur so können z.B. die Zugangsweisen und Lesarten von Kindern und Jugendlichen zu populären Filmen in die medienpädagogische Arbeit einfließen. Es nützt z.B. nichts, die Rocky-Filme mit Sylvester Stallone ausschließlich als körperbetonte Männlichkeitsrituale zu sehen, wenn nicht die komplexe Struktur der Filme mit einbezogen wird und andere Bedeutungsebenen verstanden werden, die der Film nahe legt und die auf soziale Diskurse rekurrieren. Solche Filme können in unterschiedlichen sozialen Kontexten auch unterschiedlichen Sinn machen. Die Lesarten von Medienpädagogen, Gymnasiasten und arbeitslosen Jugendlichen aus marginalisierten Familien unterscheiden sich mit großer Wahrscheinlichkeit. Die Diskursanalyse wäre, will man den Gründen für diese unterschiedlichen Lesarten auf die Spur kommen, sicher die angemessenere Methode des Filmverstehens.

(aus: Lothar Mikos, Filmverstehen. Annäherung an ein Problem der Medienforschung, in: medien praktisch Texte Nr. 1, S. 3-8, Sonderheft I/1998, leicht gekürzt; veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 08.06.2020

 

   Arbeitanregungen:
  1. Arbeiten Sie die vier verschiedenen, vom Verfasser dargestellten Formen des Filmverstehens heraus.

  2. Zeigen Sie auf, worin der jeweils besondere Schwerpunkt des Ansatzes liegt.

  3. Machen Sie am Beispiel des diesen Ansätzen zugrunde liegenden Textbegriffs die Unterschiede deutlich.

  4. Zeigen Sie, mit welchen Argumenten sich Mikos letztlich für den Ansatz der Diskursanalyse ausspricht.

   
 

 
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