Cohen (USPD):
Rede zur 3. Lesung der Verfassung (Juli 1919)
Die Verfassung krankt [...] an der Überschätzung parlamentarischer
Möglichkeiten. Mir will scheinen, die Form, die Tiefe, die Größe der
Kämpfe, in denen wir uns befinden, und auch die Größe der Forderungen,
die wirtschaftlich zum Wiederaufbau an das deutsche Volk gestellt werden,
beweisen, dass die Grenzen des Parlamentarismus, die Grenzen der
Möglichkeit, durch parlamentarische Verhandlungen und Entscheidungen, die
Entwicklung zu registrieren und zu beeinflussen erreicht waren, wenn nicht
schon überschritten sind. Diese Aufgaben und diese Entwicklung des
gesellschaftlichen Lebens überhaupt können und würden sich in der
gesetzgeberischen Ausgestaltung der Dinge nicht mehr von einem zentralen
Parlament aus regeln lassen. Was nötig ist, ist auf erhöhter Stufe zu
einem System zurückzukehren, bei dem Gesetzgebung und Verwaltung
vereinigt sind. Wir kranken an den Lehren, die
•
Montesquieu
aufgestellt hat: für ihre Zeit mögen sie richtig und sogar ein
wesentlicher Fortschritt gewesen sein, aber durch die Entwicklung bei uns
und in den anderen Ländern gleicher Entwicklungsrichtung sind sie
überholt. Wenn man - wie ich - annimmt, dass die Schwerkraft der
staatlichen Entwicklung in die Zelle staatlichen und wirtschaftlichen
Aufbaus zurückverlegt werden muss, so ergibt sich daraus die Vernichtung
des Parlamentarismus in seiner heutigen Form; dann ergibt sich daraus die
Notwendigkeit, in jedem einzelnen kleinsten Element des Aufbaus die
Kräfte zu finden und zu vereinigen, die gestaltend und ausführend
notwendig und geeignet sind, um die Entwicklung fortzuführen...
(aus:
Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung,
Stenographische Berichte, Berlin 1919, S, 2093ff.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.12.2024