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Goethe benötigte, um die
etwa 10 Jahre dauernden Lehrjahre Wilhelm Meisters zu erzählen, etwa 600
Seiten;
Thomas Mann
für den im wesentlichen im Stil traditioneller Erzählkunst gehaltenen
Roman "Buddenbrooks"
etwa die gleiche Seitenzahl, um eine Zeitspanne von 42 Jahren
darzustellen; da weder alle Ereignisse der zehnjährigen Lehrzeit Wilhelm
Meisters noch die der vier Generationen der Lübecker Patrizierfamilie
vollständig auserzählt werden konnten, war eine starke
Raffung
der Zeit nötig, wenn der Zusammenhang der Handlung
überhaupt gewahrt werden sollte. Ganz anders aber ist der Erzählvorgang
bei
James Joyce, in dessen
Roman "Ulysses"
auf über 1600 Seiten ein einziger Tag dargestellt wird, wie ihn Menschen
in Dublin von 8 Uhr früh bis Mitternacht erleben. Hier zerdehnt der
Erzähler in einer einzigartigen Weise die Zeit und berichtet in einer Art
von Zeitlupentempo von allen Wegen, Besorgungen und Unternehmungen der
Menschen seines Romans - es sind dies der irisch-jüdische
Anzeigenvermittler Leopold Blum, seine Frau Marion und der junge Dichter
und Bohemien Stephan Dädalus -, vor allem aber lässt er sie ihre
Gedanken in endlosen
inneren
Monologen aussprechen. Diese bedingen denn auch das
außerordentliche Übergewicht der
Erzählzeit
gegenüber der
erzählten
Zeit.
Raffung der Zeit setzt eine
auktoriale
Haltung des Erzählers voraus; der Erzähler muss immer den Plan
und das Ganze seines Werkes im Auge haben: "Nur so kann er
Selbständigkeit gegenüber den Teilen wahren, Brennpunkte herausarbeiten,
den Ablauf aus dem Überblick über das Ganze gliedern, die Zeitteile frei
ordnen, sie füllen oder leer lassen", mit einem Wort, den Gang der
Handlung souverän bestimmen.
Die traditionelle Erzählkunst gestaltete "Zeit" durch die
Darstellung ständig wechselnder Ereignisse in kontinuierlicher
Reihenfolge und zeigte so "des Daseins unendliche Kette"; die
moderne Erzählkunst macht sie uns offenbar, indem sie die Zeitaspekte der
Vergangenheit und Zukunft negiert, sie in der Gegenwart ineinander
fließen lässt und in neue Dimensionen vorstößt, in der die früher
gekannten zeitlichen Perspektiven aufgehoben zu sein scheinen und die Zeit
in den Raum der Zeitlosigkeit übergeht.
Alfred Döblin sagte einmal, er wisse beim Ansetzen der Feder noch nicht,
wohin sie führe, so dass der Verlauf beim Beginn eines epischen Werkes
noch ganz ungewiss sei. Die traditionelle Erzählkunst, meint Döblin,
habe es auf Grundriss, Gerüst, Architektur, auf eine glatte, in einer
bestimmten Zeit fortschreitende Handlung abgesehen und vereinfache alles.
Der moderne Roman aber habe mit Handlung nichts zu tun. Sein Merkmal sei
vielmehr äußere und innere Unbegrenztheit. Der moderne Erzähler
beobachtet das "Abtropfen der Zeit" im Alltag und kommt zu der
Erkenntnis, dass die Zeit nur scheinbar mechanisch gleichmäßig abläuft,
dass sie im Bereich des Lebendigen sich ständig verändert, dass die
innere, die Erlebniszeit, von der äußeren, physikalischen Zeit abweicht
und dass die Zeit zum Raum und der Raum zur Zeit wird.
(aus:
Neis, Struktur
und Thematik, 1965, S.66f.)
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