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Das Groteske schafft nach
▪
Friedrich Dürrenmatt, der den Begriff ganz
pragmatisch aus der Perspektive eines Schriftstellers definiert (vgl.
Mayer 1981/1991,
S, 13), einen sinnlichen Ausdruck unserer von
Paradoxien geprägten Welt.
Werner
Oberle (1962,
S.15) formuliert dies so: "Das Groteske ist das Unstimmige, Ungereimte,
Unharmonische; zum Grotesken gehört das Paradoxe. Das Groteske ist das
Gegenteil des wohlgeordneten Kosmos, das Groteske ist die Dissonanz, die den
Verlust der Harmonie ausdrückt. Das Groteske ist nicht Abbild einer bis ins
Letzte sinnvollen und gestalteten Welt; es verfällt andererseits nicht in
die pathetische Verherrlichung des Absurden."
Der Mensch kann dabei weder als einzelner noch im Kollektiv die von ihm
selbst gemachten Paradoxien der Wirklichkeit nicht mehr durchschauen. Im
realen Leben hält er sich daher nur an das scheinbar Stimmige, das
Paradoxon, und die Schemata seiner Wahrnehmung nehmen dessen Objektivationen
als "echte" Wirklichkeit, weil auch "der Mensch selbst", wie Dürrenmatt
formuliert, "ein Paradoxon ist, eine irrationale Rationalität." (F.
Dürrenmatt, Die Schweiz - ein Gefängnis. Rede auf Vaclav Havel, 22.11.1990)
Um das Paradoxe als solches überhaupt erfahrbar zu machen, greift die Kunst
auf das Groteske als Variante des Komischen zurück. Sie schafft es mit dem
Mittel des Grotesken, die real vorhandenen Paradoxien so zu verfremden, dass
das Paradoxe der Wirklichkeit der Wahrnehmung überhaupt erst wieder
zugänglich wird.
Das Grundparadox der Moderne
Das
Grundparadox der Moderne, dass die Menschheit nur deshalb noch existiert,
weil es die Atombombe gibt, wird von den Menschen gelebt, ohne dass sie sich
der Widersinnigkeit des Ganzen bewusst sind.
So existiert die Menschheit für
Dürrenmatt nur fort aus Furcht vor der Atombombe mit ihrem "wundervollen
Pilz, der da aufsteigt und sich ausbreitet, makellos wie die Sonne, bei dem
Massenmord und Schönheit eins werden." (Dürrenmatt, Theaterprobleme,
Zürich 1955, S.34f.)
Das Bild, das er mit diesen Aussage entstehen lässt,
trifft den Kern dessen, was allgemein als Wesen des Grotesken gilt, nämlich
"Darstellung einer verzerrten Wirklichkeit, die auf paradox erscheinende
Weise Grauenvolles, Missgestaltes mit komischen Zügen verbindet." (Duden)
Die objektivierende Wirkung des Grotesken
Für Dürrenmatt als Dramatiker erzielt das Groteske eine Art objektivierender
Wirkung. (vgl. Mayer 1981/1991, S, 13)
Die Wirkung des Grotesken besteht dabei in einer
eigentümlichen Verbindung von Lachen und Grauen, die den ansonsten
verstellten Blick auf die undurchschaubare, chaotische, sinnlose und
paradoxe Welt ermöglicht. Indessen geht von einem Lachen, das durch das
Groteske bewirkt wird, keine befreiende Wirkung aus. Es bleibt, wie man
sagt, im Halse stecken, "da es sich der restlosen Perversion menschlicher
Freiheit gegenüber sieht." (Heidsieck
1969, 17f.)
In der so genannten "Seziersaalszene" hat Dürrenmatt selbst ein
besonders eindrückliches Beispiel dafür gegeben, wie das
Groteske "funktioniert:
"Im Seziersaal lag der Großvater, ausgeweidet, auf anderen
Seziertischen zwei weitere männliche Leichen, die Hirne in Schüsseln. Am
Großvater und an einer anderen Leiche arbeiteten Assistenzärzte, die
dritte wurde von einem Angestellten zusammengenäht, roh, als arbeite ein
Sattler, die Leiche hopste. [...] Der Pathologe triumphierte, rief die
beiden Assistenzärzte herbei, an den Darmwänden hatte er Spuren einer
alten Syphilis gefunden, typische Flecken, Sensation, eine Syphilis in
einem so prachtvoll entwickelten Stadium war selten geworden, der
Pathologe verlangte das Hirn zu sehen. In welcher Schüssel? In dieser?
Nein, in jener. Auch hier Anzeichen von Syphilis, fabelhaft, eine durch
sie verursachte Gehirnblutung hatte zum Tode geführt, nicht die
diagnostizierte Lungenentzündung - welche Diagnose stimmt schon, reine
Glückssache, wenn einer Nierenkrebs hatte, konnte es auch der andere
habe. Der Pathologe wühlte im Unterleib des Großvaters, auch ein
Nierenkrebs, erklärte er beglückt, die Duplizität der Fälle, das
passiere ihm immer wieder, und der Angestellte meinte, statistisch
gesehen hätten sie zwölf Leichen zu wenig, der Pathologe tröstete ihn,
ihm Dezember hole man das Manko schon ein." (Dürrenmatt, Stoffe I, S.
30f. zit. n. Schulte 1987, S.1)
Auch wenn man grundsätzlich konzediert, dass ein Pathologe für die meisten
Menschen "etwas Unheimliches an sich" hat, weil sie gar nicht genau wissen,
"was sich hinter den Türen des Seziersaales tatsächlich abspielt" (Bankl
2003, S.18), ist eine Obduktion als "die letzte ärztliche Untersuchung am
Menschen und die letzte Möglichkeit, die Krankheitssymptome mit
entsprechenden Organveränderungen vergleichen zu können" (ebd.,
S. 21), selbst nicht per se grotesk.
Und doch wirkt der den Pathologen
nachgesagte Spruch "Der Pathologe weiß alles…aber zu spät." irgendwie
paradox und man bekommt das Gefühl nicht los, dass auch dies eine der
Ursachen ist, weshalb viele Menschen dem Pathologen "mit gemischten
Gefühlen" (ebd.,
S.16) begegnen. So resultiert die Wirkung der Seziersaalszene Friedrich
Dürrenmatts sicher zum Teil auch aus grundsätzlichen Einstellungen. Die groteske
Gestaltung der Szene freilich, die uns das Lachen im Halse stecken lässt,
macht vieles mehr sichtbar.
Der Großvater, eine Vorstellung, die gemeinhin mit emotionaler Nähe in einem
familiären Umfeld konnotiert wird, wird hier zu einem reinen
Forschungsobjekt degradiert, der Leichnam würdelos wie in einem Schlachthof
"ausgeweidet". Grob und ohne jeden Anschein von Pietät wird an den toten
Menschen hantiert, so dass eine Leiche sogar "hopste". In Schüsseln liegen
die Gehirne der sezierten Menschen, von denen offenbar keiner der mechanisch
vor sich Hinarbeitenden weiß, welches Gehirn eigentlich zu wem gehört. Und
die Frage, wem das in einer Schüssel befindliche Gehirn zuzuordnen ist,
kommt eigentlich nur auf, weil der Pathologe in seinem Übereifer wissen
will, ob das Gehirn auch Anzeichen der von ihm diagnostizierten Syphilis
aufweist.
Sein Ausruf ("fabelhaft") zeigt, dass es nicht mehr um das
Schicksal eines einzelnen Menschen geht, sondern nur noch um einen "Fall,
der desto eher fesselt, je mehr sein Körper von tödlichen Krankheiten
zerfressen ist. [...] In perverser Umkehrung des medizinischen Berufsethos
ist die Freunde über erfolgte Fortschritte hier nicht mit der Heilung eines
Menschen verbunden, sondern mit der Entdeckung jener Faktoren, die eine
Heilung verhinderten. Die Entdeckung der Spuren einer alten Syphilis wird
daher als 'Triumph', ihr 'prachtvoll entwickeltes Stadium' als 'Sensation'
empfunden. Der Anblick eines Nierenkrebses löst in dem Unterleib des
Großvaters 'wühlenden' Pathologen wahre Glücksgefühle aus." (ebd.,
S.2)
Für Vera
Schulte
(1987, S. 2f.) ist klar, dass der zur Darstellung gebrachte Kontrast
"nicht nur grausig, sondern zugleich auch lächerlich (wirkt), wenn man den
Anlass dieser Freude berücksichtigt." (ebd.)
Der komische Kontrast zwischen dem, was man eigentlich beim Umgang mit einem
Toten erwartet, und dem Handeln der medizinischen Fachkräfte löst nämlich
sowohl Grauen als auch Lachen beim Leser aus, dessen Verhaltenserwartung"
durch den gleichgültig schnoddrigen Umgang der Ärzte und Angestellten mit
den Leichen überraschend düpiert (wird)."
Kontraste mit gleicher Wirkung
zeigen sich auch in weiteren sprachlichen Elementen des Textes. Allen ist
indessen eines gemeinsam: Sie verbinden Gegensätzliches miteinander und
lösen auf diese Weise bestimmte Reaktionen beim Rezipienten aus. "Die
paradoxe Zusammenstellung von Unvereinbarem wirkt komisch und grausig
zugleich, komisch, indem sie bestimmte Erwartungen des Lesers düpiert, und
grausig aufgrund der sichtbar werdenden Entindividualisierung und
Verdinglichung des Menschen. (vgl.
ebd.)
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Das Groteske ist, wie
Oberle (1962,
S.15) anmerkt, "ein wesentlicher Grundzug" des Werkes von Friedrich
Dürrenmatt. Nach Auffassung Dürrematts muss sich die dramatische Kunst auf
die ästhetische Gestaltung des Grotesken konzentrieren.
Dabei hat sie nach Dürrenmatt nicht die Aufgabe, die ohnehin
sinnlose und chaotische Welt abzubilden, und kann dies auch gar nicht. Denn
würde sie dies tun, und damit einer mimetischen Kunstauffassung folgen, käme
ja wieder nichts anderes heraus als die Darstellung einer
undurchschaubaren, chaotischen und von scheinbar Sinnhaftem (Paradoxien)
geprägten Welt.
Insofern soll "die radikale Befreiung der Kunst von der
Wirklichkeit", wie
Frizen
(1991) betont, "einen Schlussstrich unter die über
zweitausendjährige Diskussion der aristotelischen Poetik und der
Mimesislehre setzen."
Eine Kunst, die sich unter den Bedingungen der Moderne, in die Moderne
selbst verstrickt, bestätigt nach Auffassung Dürrenmatts die Welt und den
Menschheit eben nur in ihrem jeweiligen Zustand.
Aus diesem Grund muss die
Kunst sich gegenüber der Realität autonom zeigen. Dieser Autonomieanspruch
der Kunst ist Voraussetzung dafür, dass sie mit dem Mittel des Grotesken
eine eigene "Spielwelt", die als eine Art Gegenwelt eine Distanz zur
eigentlichen Wirklichkeit schafft, ohne die auch nur ein für kurze Zeit
mögliches Durchschauen der Realität jenseits scheinbarer Stimmhaftigkeit des
Daseins nicht möglich ist.
Dürrenmatt selbst spricht in diesem Zusammenhang
vom "Aufstellen von Eigenwelten", die vom Autor so gestaltet werden, dass
sie am Ende doch wieder "ein Bild der Welt geben." (Dürrenmatt, Vom Sinn der
Dichtung in unserer Zeit, in: ders., Theater-Schriften und Reden, hrsgg. v.
Elisabeth Brock-Sulzer, Zürich 1966, S.63f.)
Beispiele für solche
Eigenwelten sind z. B. die grotesken Bilder von »Hieronymus Bosch
(1450-15616) und »Jonathan
Swifts (1667-1745) »Gullivers
Reisen, über die Dürrenmatt sagt: "Alles in diesem ist erfunden, es ist
gleichsam eine Welt neuer Dimensionen erstellt worden. Doch durch die
innere, immanente Logik wird alles wieder zu einem Bilde unserer Welt. Eine
logische Eigenwelt kann gar nicht aus unserer Welt fallen. Das ist ein
Geheimnis: die Übereinstimmung der Kunst mit der Welt." (ebd.) Das Theater stellt für Dürrenmatt somit einen Experimentalraum dar, "um die
Paradoxien und Perversionen unserer realen Welt modellhaft auf der Bühne
durchzuspielen." (Schulte 1987, S.4)
Die ästhetische Erfahrung des Grotesken überwindet
Wahrnehmungsgrenzen in der Fiktion
Mit
Stücken, welche die ästhetische Erfahrung des Grotesken ermöglichen, können,
zumindest zeitweise, auf dem Weg der Illusionierung die Wahrnehmungsgrenzen
und Wahrnehmungsschemata von Realität im Rahmen der dramatischen Fiktion
überwinden werden.
Dabei bringt Dürrenmatt immer wieder das Motiv der Welt als
ein Labyrinth zur Gestaltung: "Indem ich die Welt, in die ich
mich ausgesetzt sehe, als Labyrinth darstelle, versuche ich
Distanz zu ihr zu gewinnen, von ihr zurückzutreten, sie ins Auge
zu fassen wie ein Dompteur ein wildes Tier. Die Welt, wie ich
sie erlebe, konzentriere ich mit einer Gegenwelt, die ich
erdenke." (F. Dürrenmatt, Stoffe I, S. 77)
Mit Hilfe
des Theaters will er, das ist die grundlegende Intention seiner Werke "neue
Einsichten in unsere unübersichtliche und 'labyrinthisch' gewordene
Wirklichkeit gewinnen" (Schulte 1987, S.4).
Zugleich will er aber auch "massive Kritik an den Perversionen unserer
Gesellschaft üben." (ebd.,
S.7)
Dabei verweigert sich seine Kunst dem Anbieten eines Lösungsweges aus
der existenziellen und gesellschaftlichen Misere. Anders als z. B. Bertolt
Brecht will Dürrenmatt mit Hilfe des Grotesken nur "das Chaos unserer
paradoxen, dem apokalyptischen Zusammenbruch zueilenden Welt sichtbar
machen." (ebd.)
In seiner Gestaltung des Grotesken bildet das Motiv des apokalyptisch Auf-einen-Abgrund-Zurasens mit dem Motiv des Ausgeliefertseins an eine
undurchschaubare Totalität von Welt und den Motiven des Labyrinths und der
so genannten "Weltfratze" einen immer wiederkehrenden Bezugsrahmen.
In seinen Arbeiten über das "Gesellschaftlich-Komische" bei im dramatischen
Werk Bertolt Brechts hat Peter Christian
Giese (1974,
S.47) die Ursachen für die zunehmende Verbreitung des Grotesken als
Gestaltungsmöglichkeit des Komischen in den Zusammenhang gesellschaftlicher
Entwicklungen der Moderne gebracht: "In dem Maße, wie - abstrakt gesprochen
- der Begriff des Individuums und die Verbindlichkeit des
Gesellschaftsganzen in der bürgerlichen Welt immer fragwürdiger werden
mussten, verloren traditionelle Mittel wie Charakterkomik oder bloße
Sprachkomik an Bedeutung. Das Groteske hat demgegenüber die Tendenz, die
Darstellung auf den körperlichen Ausdruck zu konzentrieren: so schrumpft was
ehemals dramatis persona hieß auf etwas zusammen, das mehr als Sache denn
als Mensch zu fungieren scheint und statt aus Aktionen aus mechanischen
Gesten, Bewegungen und Zuckungen besteht."
Dürrenmatt, Stoffe. Diogenes, Zürich 1981 (darin: Mondfinsternis); vom Autor
revidierte Neuausgabe: Labyrinth. Stoffe I–III, ebd. 1990
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024
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