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Friedrich Dürrenmatt bringt in einem Gespräch mit
Horst Bieneck
(1930-1990) in besonders eindrücklicher Weise zum Ausdruck, wie er das
Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit bzw. zwischen ästhetischer Fiktion und
Wirklichkeit versteht;
"Ich traue mir nicht zu, mit einem Theaterstück die Wirklichkeit
wiedergeben zu können; dazu halte ich die Wirklichkeit für zu gewaltig,
für zu anstößig, für zu grausam und zu dubios und vor allem für viel zu
undurchsichtig. Ich stelle mit einem Theaterstück nicht die Wirklichkeit
dar, sondern für den Zuschauer eine Wirklichkeit auf. [...] Das Ziel
jedes Theaterstücks ist es, mit der Welt zu spielen . Theater ist also,
für meine Überzeugung, nicht Wirklichkeit, sondern ein Spiel mit der
Wirklichkeit, deren Verwandlung im Theater. Ich glaube, dass
Wirklichkeit an sich nie erkennbar ist, sondern nur ihre Metamorphosen."
(Bienek 1965,
S.122)
Theater, mithin auch die Kunst im Allgemeinen, kann die komplexe und vom
einzelnen nicht durchschaubare Wirklichkeit nicht abbilden. Kunst und
Wirklichkeit sind nach Dürrenmatt grundverschieden.
Im Falle des Theaters
aber gingen sie doch nicht so weit auseinander, dass ein Stück, das noch so
grotesk gestaltet sei, aus der Wirklichkeit herausfallen könne. Irgendwie
werde eben jedes Theaterstück "von der Wirklichkeit genährt, inspiriert". (ebd.)
Indem Dürrenmatt damit betont, dass Realität und Fiktion nicht eins werden
können, betont er zugleich auch den Konstruktionscharakter der dramatischen
Spielwelt auf der Bühne des Theaters. Ein Theaterstück ist für Dürrenmatt
eine willkürlich konstruierte Welt der Illusion, die von seinem Publikum in
durchaus "naiver" Art und Weise akzeptiert werde. Diese Rezeptionshaltung
des Publikums führt nach Dürrematt dazu, dass die Zuschauer "instinktiv"
mitmachen und mitspielen (vgl.
ebd.).
Das Paradoxe als Schlüssel zur Weltsicht Dürrenmatts
Das ▪ Weltbild, dem Dürrenmatt folgt, ist dabei im Gegensatz zu anderen
modernen Dramatikern wie z. B. Bertolt Brecht pessimistisch.
Die
Wirklichkeit der Welt stellt für ihn ein "Chaos",
"ein Rätsel an Unheil" dar, das
zugleich sinnlos wie
hoffnungslos ist. (Dürrenmatt, Theaterprobleme, Zürich 1955, S.34f.)
In
seiner Rede auf Vaclav Havel am 22.11.1990 hat Dürrenmatt dies in prägnanter
Weise formuliert: "Durch den Menschen wird alles paradox, verwandelt sich
Sinn in Widersinn, Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit, Freiheit in Unfreiheit,
weil der Mensch selbst ein Paradoxon ist, eine irrationale Rationalität."
(F. Dürrenmatt, Die Schweiz - ein Gefängnis. Rede auf Vaclav Havel,
22.11.1990)
Der Begriff des Paradoxen ist dabei der Schlüssel zur Weltsicht des Autors.
Wikipedia definiert den Begriff wie folgt:
Ein Paradox(on) (auch Paradoxie, Plural Paradoxien oder Paradoxa;
von altgriechisch παράδοξον, von παρά para "neben", "außer", "daran
vorbei" und δόξα doxa "Meinung", "Ansicht") ist ein scheinbar oder
tatsächlich unauflösbarer Widerspruch. ( »Wikipedia,
23.04.13)
Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1864-1961,1971)
spricht beim Paradoxen von etwas, das der gewöhnlichen Ansicht
widerstreitet, widersinnig, befremdlich und sonderbar ist. Mit der Betonung
des Widersinnigen und Widersprüchlichen erweist sich das Paradoxe freilich
keineswegs als absurd, d. h. vollkommen sinnlos. Das Paradoxe nämlich
gewinnt durch die Verknüpfung von Widersprüchlichem einen zumindest
scheinbaren Sinn und täuscht damit denjenigen, der es wahrnimmt über die
"irrationale Rationalität" (Dürrenmatt) hinweg.
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Die bestmögliche dramatische Form: Die Komödie als Mausefalle
Diese Sicht auf die Welt ist auch der Grund, weshalb
Dürrenmatt meint, dass
die Komödie die dramatische Form darstellt, mit der die Beziehung von Mensch
und Wirklichkeit in der Moderne am besten ausgedrückt werden kann.
Dabei
läge angesichts seines pessimistischen Weltbildes nahe, dass er die Tragödie
bzw. das Tragische bevorzugen würde. Aber für Dürrenmatt gilt: "Die Komödie
ist eine Mausefalle, in die das Publikum immer wieder gerät und immer noch
geraten wird." (Dürrenmatt, Theaterprobleme, Zürich 1955, S.34f.,
Hervorh. d. Verf.)
Ihre komischen
Einfälle nämlich, die im Gegensatz zur tatsächlichen Realität eine
fiktionale Wirklichkeit zeigen, "mit der zu rechnen, die aber auch zu
berechnen ist", "verwandelt die Menge der Theaterbesucher besonders leicht
in eine Masse, die nun angegriffen, verführt, überlistet werden kann, sich
Dinge anzuhören, die sie sich sonst nicht so leicht anhören würde." (ebd.)
Dürrenmatt hat sich mit der Frage, welche dramatische Form am ehesten zur
Moderne passt, im Vergleich mit den Dramen ▪ Friedrich
Schillers (1759-1805) auseinandergesetzt:
"Schiller schrieb so, wie er schrieb, weil die Welt, in
der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als
Historiker erschuf, spiegeln konnte. Gerade noch. War doch »Napoleon
vielleicht der letzte Held im alten Sinne. Die heutige Welt, wie sie uns
erscheint, lässt sich dagegen schwerlich in der Form des geschichtlichen
Dramas Schillers bewältigen, allein aus dem Grunde, weil wir keine
tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, die von
Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen
ausgeführt werden. Aus »Hitler
und »Stalin
lassen sich keine »Wallensteine
mehr machen. Ihre Macht ist so riesenhaft, dass sie selber nur noch
zufällige, äußere Ausdrucksformen dieser Macht sind, beliebig zu
ersetzen, und das Unglück, das man besonders mit dem ersten und ziemlich
mit dem zweiten verbindet, ist zu weitverzweigt, zu verworren, zu
grausam, zu mechanisch geworden und oft einfach auch allzu sinnlos. Die
Macht Wallensteins ist eine noch sichtbare Macht, die heutige Macht ist
nur zum kleinsten Teil sichtbar, wie bei einem Eisberg ist der größte
Teil im Gesichtslosen, Abstrakten versunken.
Das Drama Schillers setzt
eine sichtbare Welt voraus, die echte Staatsaktion, wie ja auch die
griechische Tragödie. Sichtbar in der Kunst ist das Überschaubare. Der
heutige Staat ist jedoch unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden,
und dies nicht etwa nur in Moskau oder Washington, sondern auch schon in
Bern, und die heutigen Staatsaktionen sind nachträgliche »Satyrspiele,
die den im Verschwiegenen vollzogenen Tragödien folgen. Die echten
Repräsentanten fehlen, und die tragischen Helden sind ohne Namen. Mit
einem kleinen Schieber, mit einem Kanzlisten, mit einem Polizisten läst
sich die heutige Welt besser wiedergeben als mit einem Bundesrat, als
mit einem Bundeskanzler.
Die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern
vor, dringt sie überhaupt zu Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht
mehr. Kreons Sekretäre erledigen den Fall Antigone. Der Staat hat seine
Gestalt verloren, und wie die Physik die Welt nur noch in mathematischen
Formeln wiederzugeben vermag, so ist er nur noch statistisch
darzustellen. Sichtbar, Gestalt wird die heutige Macht nur etwa da, wo
sie explodiert, in der Atombombe, in
diesem wundervollen Pilz, der da
aufsteigt und sich ausbreitet, makellos wie die Sonne, bei dem
Massenmord und Schönheit eins werden. Die Atombombe kann man nicht mehr
darstellen, seit man sie herstellen kann. Vor ihr versagt jede Kunst als
eine Schöpfung des Menschen, weil sie selbst eine Schöpfung des Menschen
ist. Zwei Spiegel, die sich ineinander spiegeln, bleiben leer. "
(Dürrenmatt, Theaterprobleme, Zürich 1955, S.34f.)
In einer von Paradoxien geprägten Welt fällt der Kunst, im Falle des
Theaters vor allem der Komödie, eine zentrale Aufgabe zu. Dürrenmatt fährt
dazu im Anschluss an das vorige Zitat fort:
"Doch die Aufgabe der Kunst, soweit sie überhaupt eine Aufgabe haben
kann, und somit die Aufgabe der heutigen Dramatik ist, Gestalt,
Konkretes zu schaffen. Dies vermag vor allem die Komödie.
Die Tragödie,
als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine gestaltete Welt voraus. Die
Komödie - sofern sie nicht Gesellschaftskomödie ist wie bei »Molière -
eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am
Zusammenpacken ist wie die unsrige. Die Tragödie überwindet die Distanz.
Die in grauer Vorzeit liegenden Mythen macht sie den Athenern zur
Gegenwart. Die Komödie schafft Distanz, den Versuch der Athener, in
Sizilien Fuß zu fassen, verwandelt sie in das Unternehmen der »Vögel, ihr
Reich zu errichten. vor dem Götter und Menschen kapitulieren müssen.
[...]
Das Mittel nun, mit dem die Komödie Distanz schafft, ist der
Einfall.
Die Tragödie ist ohne Einfall. Darum gibt es auch wenige Tragödien,
deren Stoff erfunden ist. Ich will damit nicht sagen, die
Tragödienschreiber der Antike hätten keine Einfälle gehabt, wie dies
heute etwa vorkommt, doch ihre unerhörte Kunst bestand darin, keine
nötig zu haben. Das ist ein Unterschied. »Aristophanes dagegen lebt vom
Einfall. Seine Stoffe sind nicht Mythen, sondern erfundene Handlungen,
die sich nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart abspielen.
Sie fallen in die Welt wie Geschosse, die, indem sie einen Trichter
aufwerfen, die Gegenwart ins Komische, aber dadurch auch ins Sichtbare
verwandeln. Das heißt nun nicht, dass ein heutiges Drama nur komisch sein
könne.
Die Tragödie und die Komödie sind Formbegriffe, dramaturgische
Verhaltensweisen, fingierte Figuren der Ästhetik, die Gleiches zu
umschreiben vermögen. Nur die Bedingungen sind anders, unter denen sie
entstehen, und diese Bedingungen liegen nur zum kleineren Teil in der
Kunst.
Die
Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In
der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse,
gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr.
Alle
können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne
jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Rechen hängen.
Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden
unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist
unser Pech, nicht unsere Schuld:
Schuld gibt es nur noch als persönliche
Leistung, als religiöse Tat.
Uns kommt nur noch die Komödie bei. Unsere
Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe, wie ja die
apokalyptischen Bilder des »Hieronymus Bosch auch grotesk sind. Doch
das
Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die
Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt,
und genau so wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr
auszukommen scheint, so auch die Kunst,
unsere Welt, die nur noch ist,
weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.
Doch ist das Tragische immer noch möglich, auch wenn die reine Tragödie
nicht mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komödie heraus
erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich
öffnenden Abgrund, so sind ja schon viele Tragödien »Shakespeares
Komödien, aus denen heraus das Tragische aufsteigt.
Nun liegt der Schluss nahe, die Komödie sei der Ausdruck der
Verzweiflung, doch ist dieser Schluss nicht zwingend. Gewiss, wer
das
Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch
ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine
Antwort, die er auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort wäre sein
Nichtverzweifeln, sein Entschluss etwa, die Welt zu bestehen, in der wir
oft leben wie »Gulliver unter den Riesen. Auch der nimmt Distanz, auch
der tritt einen Schritt zurück, der seinen Gegner einschätzen will, der
sich bereit macht, mit ihm zu kämpfen oder ihm zu entgehen. Es ist immer
noch möglich, den mutigen Menschen zu zeigen.
Dies ist denn auch eines meiner Hauptanliegen. Der Blinde, Romulus,
Übelohe, Akki sind mutige Menschen. Die verlorene Weltordnung wird in
ihrer Brust wieder hergestellt, das Allgemeine entgeht meinem Zugriff.
Ich lehne es ab, das Allgemeine in einer Doktrin zu finden, ich nehme es
als Chaos hin. Die Welt [die Bühne somit, die diese Welt bedeutet] steht
für mich als ein Ungeheures da, als ein Rätsel an Unheil, das
hingenommen werden muss, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf.
Die Welt ist größer denn der Mensch, zwangsläufig nimmt sie so
bedrohliche Züge an, die von einem Punkt außerhalb nicht bedrohlich
wären, doch habe ich kein Recht und keine Fähigkeit, mich außerhalb zu
stellen. [...]"
(Dürrenmatt, Theaterprobleme, Zürich 1955, S.34f.)
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Baustein: Aspekte des Weltbildes von Friedrich Dürrenmatt
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024
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