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Harald Müller

Mäck


Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte...  Heiliger Kafka! So kann man doch nicht anfangen, nimm dich zusammen! Der Reihe nach also. Gregor hieß mitnichten Samsa, wer heißt schon so? Bei seinen Schülern war er mehrheitlich unter dem Namen McStress bekannt, sein eigentlicher Name: Mackensen.

Gregor Mackensen also erwachte an diesem Dienstag aus einem häufig wiederkehrenden Alptraum: Er rauschte kopfüber im Sturzflug an einer Hochhauswand hinunter und seine größte Sorge dabei war, dass er keine gültige Landeerlaubnis nachweisen konnte. Er suchte fieberhaft, aber sie musste wohl in einer anderen Jackentasche  stecken, er konnte sie nicht finden. Seine furchtsame Erwartung galt auch dem Hausmeister. Würde er ihm jemals verzeihen, wenn Gregor den Eingangsbereich des Hauses mit Blut und anderen, womöglich noch  unappetitlicheren Inkredenzien – wer weiß schon was in einem steckt – verunstalten würde? Kurz vor dem Aufschlag, Gregor konnte schon die ersten Bodenplatten der Pflasterung erkennen, wachte er auf. Schweißüberströmt, desorientiert. Marthe schnarchte neben ihm in gleichmäßigen Zügen, als gäbe es nichts Schreckliches in der Welt. Als er seine Koordinaten  - Marthe, den Türgriff, das Fenster, den Wecker – wieder geortet hatte, schlich sich die Erklärung für diesen Traum langsam in sein Bewußtsein zurück. Immer wenn er beim Schlafen mit dem Kopf über das Kopfkissen so  hinausrutschte, dass dieser tiefer zu liegen kam als der Oberkörper, musste er mit solchen Träumen rechnen. Ob sich der Kauf eines orthopädischen Kissens lohnen würde? Was würde die Versicherung sagen, war es ein medizinisch gerechtfertigter Kauf? In diese Überlegungen hinein fiepte der Wecker. Da seine Frau nur ein ärgerliches Grunzen nach Art eines Nilpferdes von sich gab und sich wegdrehte, schließlich durfte sie noch 30 Minuten schlafen, stellte er ihn ab und begab sich ins Bad. Der Spiegel konfrontierte ihn mit einer eigentümlichen Fratze aus bleicher Haut, Bartstoppeln, Tränensäcken und Augenringen, die er letztlich notgedrungen als sein Gesicht akzeptieren musste. Später machte er sich routiniert daran, den Tisch zu decken. Butter und Milch aus dem Kühlschrank, Wasser aufgesetzt, Zeitung geholt, Kaffee aufgegossen, Zucker, Marmelade, Honig Teller, Tassen, Messer, Löffel, Frühstücksflocken ... Inzwischen trudelten die Kinder ein. Max wortlos sich setzend, Heinrich mit verklebten Augen und Haaren, ein Bild des Jammers. Das Übliche also. Aber trotzdem war heute etwas anders. Er konnte es nicht benennen, er spürte es untergründig aus dem Bauch heraus. Zeitung aufgeschlagen – sie wirkte seltsam schal. War ein nicht ausgerufener Ozonalarm tatsächlich die Meldung des Tages? Wetter – wie immer. Aktienkurse – was gingen sie ihn an, hatte er etwa Geld? Lokalteil – halt: Jugendlicher in Bahnhofsunterführung zusammengeschlagen. Auto durch volltrunkenen 16Jährigen (1,8 Promille) mit Stein demoliert. Vandalismus im Stadtpark, hier spielte das Leben! Offenbar gab es ein anderes Leben in dieser Kleinstadt, sozusagen eine zweite Ebene, der er bei seinen üblichen Verrichtungen, auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen nie begegnete. Oder er begegnete ihr, erkannte sie aber nicht. Vielleicht wollte er sie bisher einfach nicht wahrnehmen? Leicht irritiert sah er zur Uhr. 7:25, er musste sich beeilen. Also: Zähne geputzt, in die Galoschen, die Tasche untern Arm – hatte er auch nichts vergessen? - , den Schulschlüssel  - heiliges Kleinod – eingesteckt und ab. Als er die Garage öffnete, blickte er auf einen Haufen ineinander verkeilter Fahrräder, wovon seines, wie üblich, das unterste war. Leise vor sich hinfluchend entwirrte er den Haufen und machte sich schon einmal ein Bild von den Reparaturaufträgen, die die Familie demnächst für ihn haben würde. Ein Lichtkabel gerissen, zwei Plattfüße, Schaltzug abgeknickt. Zwar würden die Aufträge erfahrungsgemäß erst nach und nach eingehen, da es in seiner Familie immer etwas dauerte, bis die Schäden bemerkt und dann an ihn  - warum eigentlich immer ihn? – weitergemeldet würden. Aber ihm schien es, als seien es bereits Auftragsbestätigungen auf Abruf. Sein Fahrrad funktionierte halbwegs. Er konnte starten.

Während er durch die Fußgängerzone dem Richenthal-Gymnasium entgegensteuerte, kam ihm sein Traum wieder in den Sinn, auch Gregor Samsa spukte in seinem Kopf. Was wäre, wenn er  aus dem einen oder anderen Grund heute nicht zur Arbeit käme? Er könnte ja zunächst nur die erste Stunde, Geschichte in Klasse 7c, ausfallen lassen. Wecker hat versagt, Trauerfall in der Familie, Fahrradpanne, kranke Großmutter, Rohrbruch, Bus verspätet ... Schülerentschuldigungen passten nicht zu ihm, er müsste sich etwas anderes überlegen. Geschichte 7c war auch nicht gerade verlockend. All diese hypermotorischen - oder sollte man sagen verhaltensgestörten? - kleinen Tobiasse, Marks und Sabrinas. Waren sie ohne ihn, er ohne sie nicht glücklicher? Neulich waren ihm die Eltern in die Quere gekommen, weil er das Wort Australopithecus verwendet hatte. Es sei eine Zumutung für die Kinder, derart schwierige und nebenbei auch wissenschaftlich bedenkliche Begriffe zu verwenden. Eine Mutter witterte gar einen darwinistischen Angriff auf den biblischen Schöpfungsbericht. Wenn die wüssten! Keine Spur von Sapiens sapiens ! In seinen Augen bestätigten sie mit ihrem Verhalten tagtäglich den alten Darwin und ihre Bälger könnten geradezu die Missing links in der Entwicklung der Primaten darstellen. Aber das durfte man ja nicht sagen!

Da, ein Schnellimbiss, hier gab es um diese Zeit doch tatsächlich schon Kundschaft. Ob er einmal hineingehen sollte? Ohne sich eigentlich entschieden zu haben, bemerkte er, wie sich sein  Tritt verlangsamte. Er hielt an und befestigte sein Rad an einem Geländer in respektvoller Entfernung von einem verfilzten, mottenzerfressenen, alten Schäferhund, der am selben Geländer festgemacht war.  Der hatte wohl auch schon bessere Tage gesehen. Gregor sagte sich, dass es ja nur für eine Stunde sei, dafür würde ihm schon noch eine Ausrede einfallen. Er betrat das Etablissement. Eine Geruchswolke empfing ihn. Ranziges Pommes-Fett mit einem Hauch von billigem Fusel und Ketchup war eigentlich nicht sein Stil, aber in der Aussicht auf einen zweiten Kaffee setzte er sich an den Tresen. Ein stoppelbärtiger Mann, dessen Alter schwer zu schätzen war, setzte sich neben ihn und bestellte ein Bier. Er trug ein Fransenhemd, Cowboystiefel und hatte sich die fettigen Haare mit einem Lederriemen zusammengebunden. Solche Leute hatte Gregor  bisher gemieden. Vielleicht war das ein Fehler, vielleicht pulste gerade hier das Leben. Er blickte sich um. In der dunstigen Ecke des Lokals saßen drei Gestalten, die mit einem Würfelspiel beschäftigt waren. Ihr Outfit schwankte zwischen schäbig und abenteuerlicher Müll-Couture. Der Wirt , ein Russe, Kasache, Armenier, Tschetschene, Ingusche – what‘s the difference, dachte er, aber halt: dieser Unterschied konnte entscheidend sein , er war ja der Grund für all diese Kriege und Bürgerkriege-, der Wirt also musterte ihn neugierig, als er den Kaffee brachte. Ey Alter, haste mal fünf Mack tönte es aus der Tiefe seines Nachbarn. Gregor hatte. Ik  bin Jimmy, bedankte sich dieser mit Vertraulichkeit. Mit der Zeit erfuhr Gregor einiges über Jimmy, dem die Stadt wohl schon einmal eine Sozialwohnung angeboten hatte, der es aber vorzog, neben der Kläranlage zu kampieren. Wegen da Freiheit, vastehste? Gregor versuchte zu verstehen. Freiheit, interessant. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es jetzt eigentlich Zeit wäre, dem Grundkurs Deutsch etwas über den Ehrbegriff des Majors Tellheim beizubringen. Was hätte das für einen Sinn? War der Begriff Ehre überhaupt ins Idiom der heutigen Schüler übersetzbar, gab es dazu eine Entsprechung in deren Wirklichkeit? Gregor beschloss an diesem Punkt ein andermal weiterzudenken. Jetzt musste er erst einmal entscheiden, ob er heute den ganzen Tag fehlen sollte. Da er sich zum Aufstehen nicht entscheiden konnte, entschied er sich fürs Fehlen. Nachdem er mit Jimmy drei Biere gezischt hatte kamen drei Kumpels von Jimmy ins Lokal und begrüßten diesen lautstark. Einer brachte, vom Wirt in dessen kehligem Idiom unmissverständlich dazu aufgefordert, seinen Hund nach draußen, wo er ihn kurzerhand an Gregors Fahrrad band.  Dieser Hund, offenbar eine Kreuzung aus Wolf und Blutwurst, fletschte von nun an immer grimmig die Zähne, wenn sich ein Passant auf drei Meter dem Fahrrad näherte. Gregor konnte dies alles durch die Glastür des Lokals erkennen. Jimmy und die Kumpels hatten offenbar etwas Wichtiges zu erledigen. Sie verschwanden unter Zurücklassung des Hundes. An ein Weggehen war also vorerst nicht zu denken.  Bis später, hörte er sich sagen. Er hatte mittlerweile Hunger bekommen und bestellte sich eine Grillwurst mit Pommes. Damit setzte er sich zu den Würflern. Nachdem er einen Runde ausgegeben hatte, durfte er mitspielen. Nach einigen Würfelrunden war es 12:20 geworden, eigentlich Zeit für die 10b: Das Ende der Weimarer Republik. Warum sich mit etwas beschäftigen, das gar nicht funktioniert hat? Kein Chemiker käme auf die Idee die Fehler der frühen Alchimisten vorzuführen. Gregor überwand seinen Widerstand, schleppte sich zum Tresen und ließ sich vom Wirt, mittlerweile als Dschingis bekannt, mit seiner Schule verbinden.

Richenthal-Gymnasium, Sägmüller, ich verbinde -. So kurz war Frau Sägmüller noch nie gewesen, es hatte also mittlerweile Ärger gegeben. Dr. Schuster, schnarrte der Chef seinen Namen. Gregor musste sich zusammennehmen, um erst zu bleiben. Er entschuldigte sein Fehlen mit einer plötzlichen Kreislaufschwäche. Reichlich spät, in Zukunft früher, wir planen, die Schüler, die Kollegen, die Eltern... Bruchstückhaft registrierte  Gregor die Zurechtweisungen und Belehrungen durch den Chef, während vom Spieltisch her lautstark nach ihm verlangt wurde. Wo sind Sie überhaupt? fragte Dr. Schuster irritiert. Gregor musste zu einer kleinen Notlüge greifen: In der Notaufnahme des Ursulinen-Krankenhauses, hier ist viel los. Plötzlich verselbständigte sich seine Geschichte, warum nicht, dachte er: Ich bin zu einer Herzuntersuchung angemeldet, es kann länger dauern, mein Hausarzt vermutet etwas Gravierendes. Der Chef war stumm, den hatte er erst einmal abgeschüttelt. Äh, dann gute Besserung, hörte er ihn das Gespräch beenden. Gregor hatte jetzt Luft. Wegen seines Beamtenstatus‘ brauchte er sich vorläufig um keine Krankmeldung zu kümmern. Nach einigen Würfelrunden war es Zeit nach Hause zu fahren. Gregor verabschiedete sich von Erwin, Witold und Rita, die er mittlerweile kennen gelernt hatte, zahlte für alle und  - ging nicht. Die wölfische Blutwurst bewachte immer noch sein Fahrrad. Endlich kamen Jimmy und seine Clique von ihrer offensichtlich erfolgreichen Tour zurück. Sie hatten einige Büchsen in ihren Tüten dabei. Einer von ihnen, Django genannt, band schließlich den Hund los. Burschi ist harmlos, sagte er, während dieser gerade zuschnappte und Gregors Hosenbein um Millimeter verfehlte.

Zu Hause wartete Marthe mit dem Essen. Die Kinder drängelten , weil es ausnahmsweise Pommes Frites gab. Gregor hatte irgendwie keinen Appetit. Tadelnde Blicke, Nasenrümpfen – Marthe schien mit ihm nicht zufrieden zu sein. Zum Glück hatte sie im Krankenhaus, sie war dort halbtags Sekretärin, einige unangenehme Kunden erlebt, von denen sie unbedingt erzählen musste. Gregor hörte mit halbem Ohr hin und kaute auf seinen Pommes. Nachmittags zog er sich zur Unterrichtsvorbereitung zurück, d.h. er legte sich auf die Couch in seinem Arbeitszimmer und döste vor sich hin, schließlich war er krank.

Die folgenden Tage war Mäck, wie ihn seine neuen Freunde zu nennen pflegten, regelmäßiger Gast bei Dschingis. Er galt dort als erfolgloser Handelsvertreter und passte sein Äußeres langsam dem von Jimmy, Erwin, Witold und wie sie alle hießen an. Als schwierig erwies sich allerdings der Versuch, eine gewisse Balance zu finden zwischen den divergierenden Ansprüchen seiner Familie und seiner Kumpels. Galt er zu Hause gerade noch als leger statt abgerissen, so wirkte er bei Dschingis immer noch bürgerlich. Leider konnte man bestimmte äußere Merkmale, wie Zahnlücken, verfilzte Haare und Tätowierungen nicht temporär besitzen. Es würde immer eine gewisse Fremdheit zu den Brüdern bleiben. Rita, die einzige Frau bei Dschingis, gefiel ihm. Wenn sich ihr Busen unter dem engen, verblichenen T-Shirt Raum zu schaffen suchte, erweckte sie durchaus Verlangen in Mäck alias Gregor, zumal sich auch interessante Einblicke in ihr Decolletée boten, schließlich war sie um einiges kleiner als Gregor. Geruchsempfindlich durfte man allerdings nicht sein. Rita musste einmal schön gewesen sein, doch hatte das Leben mittlerweile tiefe Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Von der alten umherschweifenden Haschrebellin  aus dem München des Jahres 67 waren nur noch welke Reste geblieben, sozusagen eine Hippieruine, ein Artefakt, ein Fragment. Von Hasch war schon lange keine Rede mehr. Nach langen Um- und Abwegen, die sie über Pattex, LSD und Heroin fast in den Tod geführt hätten, war sie zuletzt bei solidem Kalterer See, zwei Liter zu DM 2,99, ersatzweise Bommerlunder bzw. dessen billigeren Äquivalenten angekommen. Fusel war billig und legal, insofern hatte sie ihren Frieden mit der Gesellschaft gemacht, wenngleich sie deren Mitglieder bis zum Beweis des Gegenteils insgesamt für Arschlöcher hielt. Gregor fand, dass diese Philosophie durchaus ihren Charme hatte, und bemühte sich den Beweis des Gegenteils wenigstens für seine Person zu erbringen.

Witold, mit dem sie wohl ihr Schlaflager teilte – wie weit das ging, wusste Gregor nicht – war sogar Familienvater gewesen, hatte in der Nähe der Landeshauptstadt als Gemeindearbeiter malocht und immerhin DM1900 netto verdient. Leider hatte sich seine Frau, die gute Marianne, als nicht sehr belastbar erwiesen . Hübsch, zart und zurückhaltend wollte sie sich einfach nicht wehren und schluckte seine Gereiztheiten und Wutausbrüche nach der Arbeit mit stoischem Gleichmut. Damit forderte sie seine Gewalttätigkeit geradezu heraus. Odr, verschtehsch? Ab und zu oins in die Fresse, damit se überhaupt mol äppes sagt! Nach eineinhalb Jahren, in denen sich ihr Gesicht insbesondere die Augenpartie in allen Grün- und Blautönen verfärbt hatte – Sonnenbrille stand ihr aber gut -, zog sie samt gemeinsamem Sohn Ingolf zu ihren Eltern. Dort tauschte sie den körperlichen Terror des Ehegatten gegen deren sanfteren Psychoterror, war aber immerhin versorgt. Mit Witold war jetzt nicht mehr zu rechnen, er sah keinen Sinn mehr darin, täglich acht Stunden Kanaldeckel abzuheben, Unterführungen abzuspritzen oder Hecken zu schneiden. Sein Hang zum Konsum der jeweils neuesten Errungenschaften der Unterhaltungselektronik bracht ihm frühzeitig die Genüsse von Stereoanlage, Videorecorder, Walkman, CD-Player, Discman und  Videokamera ins Haus. Sie gipfelte im Kauf eines Großbildfernsehers im Bildformat von einem Quadratmeter, der ihm finanziell das Genick brach und ihn zum Quasi-Leibeigenen der örtlichen Sparkasse machte. DM 30 000 aufgelaufene Kleinkredite führten zur Lohnpfändung , und die war nun zusammen mit den Unterhaltsforderungen Mariannes (bzw. ihrer Eltern) Anlaß, keiner regelmäßigen Beschäftigung mehr nachzugehen. Witold verzog sich in eine andere Gegend, wo ihn keiner von denen kannte, die er früher mit seinem großspurigen Getue und seinem Elektronikfimmel genervt hatte. Gregor zweifelte, ob er ihn rückhaltlos sympathisch finden sollte,

Erwin schließlich war der verschlossenste der drei, das Mosaik seiner Geschichte setzte sich für Gregor erst nach einer Woche zusammen. Er war von Beruf EDV-Spezialist, hatte aber dummerweise einen Schwarzwaldhof mit Brennrecht geerbt. Dummerweise, weil seine Anerkennung im Dorf wesentlich auf seiner Trinkfestigkeit beruhte. Wie hätte man auch Obstler brennen können, ohne selbst zu probieren? Nach und nach tat sich ein unübersehbarer Spalt zwischen seinen beiden Existenzen auf. Als bodenständiger Schnapsbrenner war sein Alkoholismus zunächst unerkannt geblieben, später wenigstens nicht geschäftsschädigend. Anders bei Dynatex, einem europaweit operierenden Textilhersteller, bei dem er die Logistik auf EDV umstellen sollte. Hier setzte ihn sein smarter Vorgesetzter nach drei Abmahnungen vor die Tür. Beim Arbeitsgericht sah man sich wieder. Immerhin sprang noch eine Abfindung in Höhe von DM 20 000 heraus, weil die Kündigung nicht ganz korrekt formuliert war. Inzwischen war das Geld längst den Weg alles dessen gegangen, was sich im Aggregatzustand flüssig befindet. Er hatte es vertrunken, durch seine Eingeweide gespült und in diversen Herrentoiletten verpinkelt. Haus und Hof samt Brennrecht waren ihm von der neidischen und listigen Verwandtschaft abgeluchst und dann verkauft worden. Seine Frau hatte nach gewissenhafter Introspektion erkannt, dass ihre katholische Nächstenliebe nicht so weit ging, sie zum Leben mit einem Quartalssäufer (Alpha- oder Beta-Alkoholiker?) zu befähigen. Sie verließ ihn über Nacht und ward nicht mehr gesehen. So stand es um ihre Seelenheil nicht zum Besten , schoss es Gregor durch den Kopf, der Katholizismus steckte wohl noch in seinen Genen.

Gregor gehörte mittlerweile zum festen Inventar der Vormittage bei Dschingis, wobei ihm seine Spendierfreudigkeit als Integrationshilfe sehr zustatten kam. Nach drei Tagen hatte er sich abgewöhnt, immer wieder an den Stundenplan und die Schule zu denken, nach einer Woche hatte er ersteren bereits vergessen.

Zu Hause wurde seine Position  langsam prekär. Die Kinder bestanden darauf, möglichst weit entfernt von ihm zu sitzen, da sie seinen Geruch nicht ertrügen. Martha bemerkte seine Veränderung mit ziemlicher Zeitverzögerung. Sie waren nun schon seit 15 Jahren verheiratet und irgendwann zwischen dem 7. und dem 10. Ehejahr hatte sie eigentlich aufgehört, ihn zu registrieren. Er gehörte zum unvermeidlichen Inventar und war keiner genaueren Betrachtung mehr wert, wie ein Erbstück, das man sich nicht aussuchen kann. Hinzu kam, dass im Ursulinen eine neue Bürosoftware, eigentlich ein Intranet, eingeführt wurde, das ihre volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Die Krankenhausträger, eine private GmbH, die Stadt und die katholische Kirche, lagen in beständigem Clinch und waren sich eigentlich nur dahingehend einig, dass aus dem Personal bei geringeren Kosten mehr herauszuholen sein müsste. Kurz: Im Beruf funktionierte es hinten und vorne nicht recht, der Stress stand in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Entlohnung. Immerhin durfte sie sich damit als voll im Trend der Zeit liegend betrachten und Verständnis mit jedem Globalisierungsgeschädigten in der freien Wirtschaft aufbringen. Komisch nur, dass ihr niemand einfiel mit dem sie sich im globalen Wettbewerb begreifen konnte: die städtischen Kliniken in Nairobi, Miami, Kalkutta? Möglicherweise war Mutter Theresa am internationalen Gehalts- und Sozialdumping schuld, aber wie sollte eine einzelne Frau... ? Halt! Gab es da nicht die Chaos-Theorie, wonach der Flügelschlag eines Falters am Äquator letztlich für einen Wirbelsturm an einer ganz andern Ecke der Welt verantwortlich sei? Solche Grübeleien beschäftigten sie eher selten, lieber trat sie die Flucht in aushäusige Gesellschaft von Frauen, Stammtischen und Vereinen an, über die Gregor den Überblick schon seit Jahren verloren hatte.  Trotzdem registrierte sie die folgenden Symptome: üble Gerüche, Appetitlosigkeit Gregors, völliger Verzicht auf sexuelle Annäherungsversuche, vollständiger Rückzug aus dem familiären Geschehen und ein sich langsam vergrößerndes Loch in der Haushaltskasse, hervorgerufen durch Mäcks Lokalrunden. Diese Symptome schienen ihr nicht gerade auf eine andere Frau hinzudeuten, eher auf eine gewisse innere Kündigung oder Karriereverweigerung.  Dabei hätte sie Gregors Beförderung zum Oberstudienrat gerne noch erlebt, zweihundert Mark mehr hätten der Haushaltskasse gut getan. Zur Rede gestellt, begründete Gregor seine neuen Gewohnheiten mit plötzlichen Anfällen von Heißhunger auf dem Nachhauseweg von der Schule, die ihn regelmäßig zu McDonalds führten. Demnach brauche für ihn eigentlich auch nicht mehr gekocht bzw. mit dem Essen gewartet zu werden, was ja auch für sie eine Erleichterung darstelle. Marthe ließ es sich gesagt sein und gab sich damit zufrieden. Das gemeinsame Schlafzimmer erwies sich als lästig, da sie sich über seine olfaktorischen, er sich über ihre akustischen Emissionen ärgerte, und wurde aufgegeben. Gregor zog sich ganz in sein Arbeitszimmer zurück. Da dieses fortan nicht mehr geputzt wurde, schließlich war sie nach dem Verursacherprinzip nicht zuständig, er hingegen fühlte sich zu müde, entwickelte sich dort mit der Zeit eine eigene Atmosphäre, positiv ausgedrückt ein Biotop, in dem sich diverse Kleinlebewesen wohlfühlten  und vermehrten.

Wer hatte in dieser abgearbeiteten und übermüdeten Familie Zeit, sich um Gregor mehr zu kümmern als unbedingt nötig war? Der Haushalt wurde immer mehr eingeschränkt; das Dienstmädchen wurde nun doch entlassen; eine riesige knochige Bedienerin mit weißem, den Kopf umflatterndem Haar kam den Morgens und des Abends, um die schwerste Arbeit zu leisten; alles andere besorgte die Mutter neben ihrer vielen Näharbeit... Quatsch, dachte Gregor und legte das Buch zur Seite.

Glücklicherweise war es Gregor bisher gelungen, Post und Anrufe des Oberschulamtes bzw. der Schule an Marthe vorbei zu beantworten. Da der Arbeitgeber nach einigen Wochen, der Kalender spielte in Gregors Leben keine Rolle mehr, nun doch Näheres über Herrn Mackensens mysteriöse Erkrankung wissen wollte, musste jetzt aber  gehandelt werden. Gregor entnahm den Unterlagen seiner Frau ein Blankoformular des Ursulinen-Hospitals , in das er folgenden Text eintippte: Attest. Hiermit bescheinigen wir Herrn Gregor Mackensen vollständige Dienstunfähigkeit bis zum 27.10. Der Patient leidet an einer dysfunktionalen  phasenverschobenen Vorkammerinsuffizienz in Verbindung mit chronisch- systolischen Herzkammerbeschwerden. Ein Stempel fand sich in Marthes Unterlagen auch noch, die Unterschrift leistete bereitwillig Dschingis, dessen kyrillische Klaue sowieso komplett unleserlich war.

In den folgenden Wochen ergab es sich dann und wann, dass einer der Kumpels den großzügigen Sponsor Mäck auch einmal zu Hause besuchte. Gregor verstand es in den ersten Wochen, diese Besuche in Zeiten zu lenken, in denen mit der Anwesenheit seiner Frau und seiner Kinder nicht zu rechnen war. Eines Tages jedoch klingelte es an der Tür, und ehe Gregor sich von seiner Couch erheben konnte, hatte Max schon die Tür geöffnet und wollte den Hausierer abwimmeln. Gregor trat dazwischen und stellte Erwin als einen Kollegen vor, der sich zwecks Weltumseglung für ein Jahr habe beurlauben lassen. Max sagte nichts, aber sein Gesicht drückte Skepsis aus. Leider waren die Kumpels auf Dauer an keine Etikette zu  gewöhnen und trudelten zu allen erdenklichen Zeiten ein, wobei Gregor sie immer sehr schnell an den fassungslosen Familienmitgliedern vorbei in sein Zimmer schleuste. Dieses hatten sie sich mit einigen Matratzen gemütlich gemacht, auf denen sich beispielsweise Witold und Rita räkelten und fläzten, was Gregor wiederum nur unter Zuhilfenahme einer gewissen Dosis billigen Weines erträglich fand. Schließlich war Rita aber nicht so und ließ auch Gregor  näher an sich heran. Praktisch fanden sie alle, dass Gregors Weinvorräte direkt nebenan gelagert und jederzeit zugänglich waren. Je kälter der Herbst wurde, im Oktober war es nachts schon empfindlich kalt, desto häufiger fand sich auch Jimmy ein, der sein Campingleben wohl doch nicht immer so erstrebenswert fand. Die unvermeidlichen Begegnungen  mit Familie Mackensen gestalteten sich frostig, wo es ging, wich man sich aus. So ergab sich mit der Zeit eine Art Teilung des Hauses, wobei Gregor und die Seinen den Hintereingang, das Gästeklo, die Speisekammer mit dem Weinregal und selbstverständlich Gregors Arbeitszimmer mit Beschlag belegten. Jimmys lästige Gewohnheiten, wo immer es ihm einfiel auf den Boden zu spucken und in die Ecke zu pinkeln, ärgerten Gregor allerdings. Da Jimmy diese Verhaltensweisen aber als fundamentale Bestandteile seines Wesens – vastehste -  auffasste, waren sie ihm nicht ganz abzugewöhnen, man einigte sich darauf, sie wenigstens im Arbeitszimmer zu unterlassen. Marthe hatte versucht mit Gregor über seine Kumpels zu reden, da er aber dazu nicht bereit war, sie stattdessen als Spießerin titulierte, nahm sie Kontakt zu einer psychologischen Beratungstelle auf. Ohne Gregors Mitarbeit war allerdings weder an genaue Diagnose noch an Therapie zu denken. Ein vorläufiger Befund – mit allen Vorbehalten, Frau Mackensen – ging in Richtung unverarbeitete Midlife-crisis mit pubertärer Regression, möglicherweise ein Borderline-Fall. Da sich Gregor aber weiterhin in regelmäßigem Rhythmus bei Dschingis und nachmittags in seinem Arbeitszimmer einfand, galt er zu Hause immer noch als berufstätig, mithin auch arbeitsfähig. Der Psychologe wunderte sich und korrigierte den Borderline–Fall in Richtung schizoide Tendenz.

Gregors Söhne zogen sich immer mehr zurück. Fernseher, Walkman, Computer und Game Boy ersetzten den Vater prächtig. Im Haus war Gregor weniger leicht zu ersetzen. Technische Geräte wurden nicht mehr gewartet, Wasserhähne tropften, die Dachrinne lief über, aber Marthe hatte eine begnadete Art darüber hinwegzusehen, erkannte Mängel einfach zu vergessen oder, wenn es gar nicht anders ging, mit Klebeband, Kaugummi und Ähnlichem notdürftig zu reparieren.

Im dritten Monat nach Gregors erstmaliger Krankmeldung fand sich ein Brief des Oberschulamtes, in dem der Herr Studienrat Mackensen zu einer amtsärztlichen Untersuchung beordert wurde. An einem diesigen Novembertag schwang Gregor sich auf sein Fahrrad, es war das einzige, das noch funktionierte, und kämpfte sich gegen den kalten Wind pflichtschuldig zum Gesundheitsamt, dessen Namen ihm , je mehr er darüber nachdachte umso seltsamer erschien. Warum nicht Krankheitsbehörde, Siechenanstalt, Seuchenkontrolldienst?  Medizinalrat Erlewein, dem er nach längerer Wartezeit vorgestellt wurde, schäkerte gerade am Telefon. Es handelte sich offenbar um eine junge Dame, der der ergraute Mediziner im knöchellangen Weißrock ungeniert die Zusage zu einem gemeinsamen Wochenende abringen wollte. Aus Erleweins Laune schloss Gregor, dass es gelungen war. Er selbst stand die ganze Zeit spärlich bekleidet herum und wartete auf die Gnade der Zuwendung des großen Medizinmannes. Als ihm diese dann zuteil wurde, kam es zu grotesken Verrenkungen, da der Mediziner um einen gewissen Sicherheitsabstand zum nicht gerade wohlriechenden Objekt der Untersuchung bemüht war. Sie sind Lehrer?! Na ja, murmelte Erlewein, begann aber bald darauf ein Liedchen zu pfeifen, das seiner Hochstimmung entsprach. Nach einigem Hin und Her brachte er auf seinem altersschwachen Gerät tatsächlich so etwas wie ein EKG zustande. Die Werte waren bedenklich, was aber auch an der Maschine liegen konnte. Dies zuzugeben verbot Dr. Erleweins Stolz, zumal mit dem Ergebnis jedem gedient war. Der Patient hatte sein Attest, das Oberschulamt Planungssicherheit: Mit Studienrat Mackensen musste in der nächsten Zeit nicht gerechnet werden. Ein routinemäßiger Hörtest geriet wegen irregulärer  Testbedingungen vollends zur Groteske, schließlich arbeitete direkt im Nebenzimmer ein Presslufthammer. Gregor konnte ehrlich zugeben, nichts verstanden zu haben, und als er dann auch noch die Frage nach einem Pfeifton mit ja beantwortete, war auch die Diagnose Hörsturz im Kasten. Ein aufmerksamer Betrachter hätte allerdings irritiert zur Kenntnis genommen, dass Dr. Erlewein fragte, ob auch Gregor einen Pfeifton höre.

Weihnachten drohte. Die besinnliche Vorweihnachtszeit bedeutete für Marthe doppelt soviel Termine wie sonst, für Max und Heinrich zusätzliche schulische Veranstaltungen. Nur Gregor und die Kumpels hatten es wirklich besinnlich. Sie pflegten bei Kerzenschein und Chiantiwein ihre geselligen Runden und tiefschürfenden Gespräche über Stress, Hektik und den Kapitalismus im Allgemeinen. Am 20. Dezember nahm das Verhängnis schließlich seinen Lauf. Gregor hatte Witold, Erwin, Rita, Jimmy und noch einige andere zu einem besinnlichen Glühwein geladen. Um das Ganze etwas festlich zu gestalten, begab sich Gregor auf den Dachboden, wo er zwischen allerhand Gerümpel nach einigem Suchen die so genannte Weihnachtskiste entdeckte. Er nahm sich daraus eine elektrische Lichterkette, die eigentlich als Baum- oder Fensterschmuck vorgesehen war. Gregor würde sie einfach an die Decke seines Arbeitszimmers hängen. Er legte die Kette vorläufig auf eine kleine Kommode im Flur, nicht ohne seine Söhne, die gerade dazu kamen, zu instruieren, diese auf keinen Fall wegzunehmen. Danach fuhr er in die Stadt, um die Glühweinzutaten zu kaufen. Als er alle Besorgungen erledigt hatte, war es bereits 17 Uhr. Die Kumpels würden bald kommen. So cool und bohêmehaft sie sich auch gaben, Weihnachten war ihnen wichtig, nicht einmal Rita konnte eine gewisse Sentimentalität in diesem Zusammenhang unterdrücken.

Die Zeit des Unglücks wurde hinterher auf ziemlich genau 17:30 rekonstruiert. Herr Mackensen wurde beim Anbringen einer nicht vorschriftsmäßig isolierten Lichterkette Made in Malaysia zu DM 9,99, wo gekauft, war nicht mehr zu ermitteln, durch elektrischen Schlag (230V) offenbar gelähmt und, da er sich auf einer Leiter befand, durch Genickbruch beim Sturz von der Leiter vollends getötet. Fremdverschulden war ausgeschlossen. Ein amtsärztliches Gutachten neuesten Datums bescheinigte dem Getöteten eine Herzschwäche, was die starke Reaktion auf den elektrischen Schlag umso plausibler machte.  Eine Gruppe von Wohnsitzlosen, die gegen 18:00 das Haus durch den Hintereingang betrat, wurde zunächst verdächtigt, konnte aber nach Aussage von Frau Mackensen, wonach es sich um Freunde ihres Mannes gehandelt habe, vorläufig wieder entlassen werden. Das Opfer selbst bot einen unschönen Anblick, lag es doch in konvulsivisch verkrümmter Lage mit weit aufgerissenem  Mund und ebensolchen Augen auf dem Parkett. Etwas grotesk wirkte die relative Position des Schädels zur Halswirbelsäule, ungefähr so, wie wenn man eine Marionette fallen lässt. Unfallort wie Unfallopfer wirkten arg vernachlässigt, was in einem gewissen Kontrast zur gutbürgerlichen Wohngegend des Opfers stand. Witwe und Waisen trugen ihr Schicksal gefasst, um nicht zu sagen fast teilnahmslos.  Es war wie bei Gregor Samsa:

Dann verließen alle drei gemeinschaftlich die Wohnung, was sie schon seit Monaten nicht getan hatten, und fuhren mit der Elektrischen ins Freie vor der Stadt. Der Wagen, in dem sie allein saßen, war von warmer Sonne durchschienen. Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, ihre Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, daß diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren, denn aller drei Anstellungen waren, worüber sie einander eigentlich noch gar nicht ausgefragt hatten, überaus günstig und besonders für später viel versprechend.

Die Beerdigung war keine große Veranstaltung. Herr Studienrat Mackensen erhielt den Kiefersarg rustikal, einen vom Oberschulamt gemäß §1756 Schulgesetz gestifteten A13 Einheitskranz zum Winterpreis von DM 50 (im Sommer hätten es nur DM 45 sein dürfen) und eine kleine Ansprache von Dr. Schuster, der den Verlust bedauerte, das Wort unersetzlich aber geflissentlich vermied. Die Kumpels trauten sich erst ans Grab, als sich die Trauergemeinde verzogen hatte. Erwin wunderte sich, was das Oberschulamt beim Begräbnis eines Handelsvertreters zu suchen hatte, aber Witold, der die Schule insgesamt nur fünf Jahre von innen gesehen hatte, meinte, das sei wohl richtig, schließlich habe Mäck ja wohl, nach seinen Büchern zu urteilen, die Oberschule besucht und für solche Leute gäbe es halt ein eigenes Amt, verschtosch?!  Allet klar, sekundierte Jimmy, und Erwin hielt die Angelegenheit nicht für so wichtig, dass man sie vertiefen müsste. Rita verdrückte eine kleine Träne, wobei nicht ganz klar war, ob sie Mäck galt oder dem Umstand, in Zukunft auf sein warmes Zimmer und die Lokalrunden bei Dschingis verzichten zu müssen. Nachdem Burschi noch aufs Grab gepinkelt hatte, verließ man den ungastlichen Ort.

Max war irritiert, konnte aber keinen Grund für Schuldgefühle oder Reue entdecken, schließlich ging es doch allen jetzt besser. Marthe blühte geradezu auf, das Arbeitszimmer wurde desinfiziert und frisch gestrichen und stand den Jungs nun als Hobbyraum zur Verfügung.  Die Lebensversicherung hatte, da es sich klar um einen Unfall handelte, die vollen DM 200 000 nach einigen Wochen Papierkrieg schließlich doch auszahlen müssen. Max erinnerte sich daran, wie sein Vater ihm seinerzeit die Grundbegriffe der Elektrotechnik , Leiter, Nullleiter, Schutzleiter, Erdung, Sicherung, Widerstand, Spannung, Stromstärke... erklärt hatte. Weihnachten vor einem Jahr hatte er ihm dann einen Elektro- und Elektronikbaukasten für Fortgeschrittene geschenkt. Max hatte sich also durchaus als gelehriger Adept seines Vaters erwiesen, indem er diesem zwar den Tod, aber keine Schande bereitet hatte. Dass keiner auf die Idee kam, ihn auch nur zu verdächtigen, die Lichterkette präpariert zu haben, wurmte ihn zunächst, war andrerseits aber auch von Vorteil. You can‘t eat the cake and keep it too summte er ein Lied, das ihm gerade durch den Kopf ging.

(veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors 2002, aus einem bis dahin unveröffentlichten Manuskript)

 
    
   Arbeitsanregungen:

   Interpretieren Sie die Geschichte.

  1. Geben Sie den Text in Form einer Inhaltsangabe wieder.

  2. Untersuchen Sie die Zeitgestaltung des Textes.

  3. Arbeiten Sie heraus, in welcher Beziehung die verschiedenen (zeitlichen) Ebenen der Handlung zueinander stehen. Welche Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang der Titel der Geschichte?

  4. Welche Bedeutung besitzen die kursiv gedruckten Textpassagen?

  5. Zeigen Sie, mit welchen sprachlichen Mitteln der Autor die Aussage seiner Erzählung gestaltet.

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