»Karl Hoffmeisters größeres Werk: „Schillers Leben, Geistesentwicklung
und Werke im Zusammenhang“
gehört zu den seltenen literarischen Erscheinungen, welche über die Legion
der ephemeren Schriften unserer Tage, mit der vollsten Berechtigung zu
bleibender Anerkennung und Teilnahme, weit hervorragen; es sichert seinem
Verfasser auf die Dauer eine der ehrenvollsten Plätze unter unseren
Biografen und Literarhistorikern. Es ist viel behauptet, aber nicht zu viel,
wenn man sagt, dass bisher schlechterdings keine Schrift dieser Gattung dem
Ideale einer echt wissenschaftlichen Biografie so nahe gekommen ist, als
Hoffmeisters Werk. Wer es bestreiten will, der nenne eine
Lebensbeschreibung, worin eine klare, wohlgeordnete und, soweit es die
vorhandenen Quellen erlaubten, erschöpfende Darstellung der Lebensbezüge
eines Schriftstellers mit einer tiefen, gründlichen, umfassenden
Charakteristik seiner Werke, und, was besonders hervorzuheben ist, mit einer
wissenschaftlichen Naturgeschichte seines Geistes zu einem so fest gefügten,
schön gegliederten Ganzen verbunden wäre. Hoffmeister war aber auch zur
Lösung einer so hohen und schwierigen Aufgabe, wie er sich gestellt hatte,
durch einen seltenen Verein trefflicher Eigenschaften vor vielen anderen
befähigt. Mit dem lautersten Interesse für die Wahrheit, der wärmsten
Begeisterung für seinen Gegenstand und einem nicht zu ermüdenden Fleiß und
Forschungseifer verband sich bei ihm ein scharfer, durch langjährige
philosophische Studien gereifter Verstand, eine unbestechliche Kritik, ein
gesunder Geschmack und die Gabe einer körnigen und lichtvollen Darstellung.
Wer das Glück hatte, den edeln Mann aus persönlichem Umgang näher kennen zu
lernen, dem musste noch eine merkwürdige Ähnlichkeit seines ganzen Wesens
mit dem des Helden seiner Biografie auffallen. Dieselbe heroische
Seelenstimmung und energische Charakterstärke, der gleiche Stolz eines
freien Geistes, der nämliche hohe sittliche Ernst, und wieder dieselbe
Humanität, dasselbe sanft und zart organisierte Gemüt, dasselbe gleichmäßig
dem Wahren, Guten und Schönen zugewandte Interesse, die gleiche Begeisterung
für die Idee der fortschreitenden Veredelung unsers Geschlechtes, die
nämliche ideale Welt- und Lebensanschauung – fanden sich unverkennbar bei
ihm, wie bei Schiller; und so hatte ihn die Natur gleichsam prädestiniert,
die innerste Geistes- und Herzensentwicklung Schillers nicht bloß
beobachtend und reflektierend, sondern auch mitlebend und mitfühlend zu
verfolgen, und der tiefste Interpret seiner Werke zu werden. Und wenn ihn
diese große Übereinstimmung vielleicht der Gefahr einer allzu warmen
Vorliebe und parteiischen Hingehung an die ganze Persönlichkeit seines
Helden aussetzte, so schützte ihn dagegen wieder die hohe Besonnenheit, das
klare Selbstbewusstsein und die strenge Gerechtigkeitsliebe, die er
gleichfalls mit Schiller gemein hatte.
Eine ganze Reihe seiner kräftigsten Mannesjahre hat er an die hohe Aufgabe
gewandt, das Gesamtgemälde des Lebens unsers großen Dichters in würdigen und
treuen Farben und Zügen vor der Nation auszubreiten; und ein glänzender
Erfolg hat sein Streben gekrönt. Eine Teilnahme und Anerkennung, wie sie nur
wenigen literarischen Produkten zu Teil wird, haben ihm die kurze Zeit, die
ihm nach der Vollendung seines Werkes noch vergönnt war, zur schönsten
seines Lebens gemacht. In viele Schriften sah er die Resultate seiner
Forschungen; selbst die Gegner seines Standpunktes konnten seine mächtige
Einwirkung nicht ablehnen, und mussten sich ihm zu Dank verpflichtet
bekennen; einem großen Kreise von Lesern ist durch ihn das tiefere und
allseitige Verständnis eines Dichters erschlossen worden, den sie längst
liebten und verehrten, aber nur oberflächlich und einseitig ergriffen
hatten.
Bei weitem größer noch würde dieser Kreis gewesen sein, wenn nicht die
bedeutende Ausdehnung des Werks und der dadurch gebotene Preis nach manchen
Seiten hin seine Verbreitung beschränkt hätte. Hoffmeister hatte dies wohl
vorausgesehen; aber er konnte es sich nicht versagen, zuerst, von solchen
Rücksichten absehend, Schillers Lebensgeschichte in genauem Detail, seine
Werke in ihrer Fülle und Vielgestaltigkeit und seine Weltanschauung in ihrer
ganzen Tiefe und reichen Gliederung darzustellen. Indes hatte er gleich
Anfangs den Entschluss gefasst, dem größeren Werke ein weniger
umfangreiches, übersichtlicheres folgen zu lassen, dessen Ausarbeitung er
auch bald nach Vollendung des ersteren begann. Mitten in dieser Arbeit
ereilte ihn unversehens der Tod. Seine Gattin ersuchte mich um Ergänzung der
Schrift, von welcher ungefähr ein Drittel (bis S. 217 des ersten B.)
druckfertig niedergeschrieben war, und zu deren übrigen Teilen sich noch
fragmentarische Stücke, Andeutungen und Materialien vorfanden. Ich verkannte
keineswegs das Bedenkliche eines solchen Auftrags, hielt mich aber, nach
sorgfältiger Erwägung der Sache verpflichtet, den Versuch zu wagen. Was mich
dazu ermutigte, war der Gedanke, dass, wie vieles auch mancher andere zur
Lösung einer solchen Aufgabe vor mir voraushaben mochte, ich doch auch in
einigen Hinsichten mich vor anderen im Vorteil befände. Bei häufigem
brieflichen und mündlichen Verkehr mit dem Freund, zumal in der letzten Zeit
seines Lebens, war ich mit der Bestimmung und dem ganzen Plan des neuen
Werkes durchaus vertraut geworden; Hoffmeisters Sinnes- und Denkweise hatte
ich durch eifriges Studium seiner Schriften und noch mehr durch den
persönlichen Umgang mit ihm kennen gelernt; und in der Auffassung Schillers
stimmten wir so sehr überein, dass auch Arbeiten, die wir ganz unabhängig
voneinander durchführten, z.B. unsere Abhandlungen über die Jungfrau von
Orleans, in vielen Resultaten überraschend genau zusammentrafen; in sein
größeres Werk über Schiller aber, welches überall Grundlage und Hauptquelle
der neuen Schrift bilden sollte, war ich, wie vielleicht wenige, mich zu
vertiefen veranlasst gewesen, da ich es mir zur Aufgabe gemacht hatte, ihm
meinen Kommentar über Schillers Gedichte allenthalben aufs Engste
anzuschließen.
Indem ich nun hiermit Hoffmeisters letzte Schrift nebst meiner Ergänzung,
der Öffentlichkeit übergebe, halte ich es noch für meine Pflicht, die
Gesichtspunkte, von denen er bei der Anlage und Bearbeitung desselben
ausging, sowie die Grundsätze, die ich bei der Ergänzung befolgte, und damit
auch das Verhältnis dieser kleineren Schrift zu Hoffmeisters größerem Werke
über Schiller, bestimmt und offen darzulegen.
Das äußerlich Biografische sollte hier in gleicher Vollständigkeit, wie in
dem größeren Werke, gegeben werden; ja es mussten hier sogar manche
lückenhafte Partien, die besonders im ersten Teil jenes Werks aus Mangel an
Quellen und Nachrichten geblieben waren, durch inzwischen glücklich
herbeigeschaffte Hilfsmittel ausgefüllt werden, wofür man den Raum durch
eine gedrängtere, wenngleich darum nicht minder klare Darstellung zu
gewinnen suchen musste. Was die eben erwähnten Hilfsmittel betrifft, so
hatte Hoffmeister einen besonders glücklichen Fund an einem bisher
ungedruckten und unbenutzten Manuskript des Professors (nachherzigen
Prälaten) Abel über Schiller getan. Dann wurde Petersens bis jetzt noch
nicht gehörig gebrauchter Nachlass über Schiller mit großer Sorgfalt
ausgebeutet. Ferner war eine Menge Briefe an Schiller in Hoffmeisters Hände
gekommen, wovon er für das größere Werk, mit Ausnahme der später
erschienenen Teile, noch keinen Gebrauch hatte machen können. Auch bot die
seit dem Erscheinen jener Schrift von ihm herausgegebene Nachlese zu
Schillers Werken eine bedeutende Anzahl ganz neuer Dokumente dar; und
endlich ward auch, was G. Schwab u.a. inzwischen ermittelt hatten, mit
gewissenhafter Sorgfalt benutzt. Dies alles musste besonders auf den ersten
Teil der neuen Schrift, der Schillers ersten Lebensabschnitt bis zur
Vollendung des Don Carlos behandelt, einen großen Einfluss haben, wie denn
auch dieser, dem Publikum bereits seit einiger Zeit vorliegende Teil eine
von dem ersten Bande des größeren Werkes bedeutend abweichende Gestalt
zeigt. In der zweiten und dritten Periode durfte das eigentlich Biografische
unverrückter stehen bleiben, obgleich auch hier manches Einzelne, das der
Leser ungern vermisst haben würde (z.B. die von Schwab ermittelten genaueren
Data über Schillers Reise in die Heimat, das französische Bürgerdiplom, das
Adelsdiplom usw.), nachzutragen war.
Dagegen sollten statt der ausführlichen Erörterungen und Beurteilungen der
Schillerschen Werke, wie sie die größere Schrift bietet, hier nur kürzere,
leicht überschaubare Charakteristiken und die Resultate tieferer Forschungen
gegeben, aber kein einziges der bedeutenderen Geisteserzeugnisse Schillers
unberücksichtigt gelassen werden. Nicht bloß für die Lektüre seiner
Dichtungen, auch für das Studium seiner philosophischen und historischen
Schriften sollte dieses Werk ein umsichtiger und sorgfältiger Führer und
Interpret sein.
Die Grundauffassung Schillers aber nach der innersten Form, dem
Entwicklungsgang und den Epochen seines Geistes, sowie nach seiner Zeit- und
Weltstellung, war bei Hoffmeister unerschütterlich fest stehen geblieben,
und wird auch, nach meiner innigsten Überzeugung, in ihren wesentlichen
Punkten für alle Folgezeit maßgebend bleiben. dieser wird also der Leser in
dem vorliegenden Werke, als einer durchaus unveränderten, wieder begegnen,
wenngleich die Darlegung derselben auf einen bedeutend engeren Raum
zusammengezogen worden ist.
Was nun endlich meinen Anteil an dieser Schrift betrifft, so war ich durch
das größere Werk, verbunden mit den für das kleinere hinterlassenen
Materialien, in den Stand gesetzt, die ganze Schrift beinahe mit
Hoffmeisters eigenen Worten zu ende zu führen, so dass ich mich getrost der
Hoffnung hingeben darf, der Leser werde darin ein nach Geist und Form streng
harmonisches Ganzes finden. Waren stellenweise Zusätze oder kleine
Berichtigungen unerlässlich, so waren doch diese nicht der Art, dass dadurch
die Einheit des Tons gefährdet wurde. Bei der Verkürzung der erörternden
Partien habe ich das Bedürfnis der Leser, für welche diese Schrift berechnet
war, fest im Auge zu behalten gesucht, aber eher etwas zu viel, als zu wenig
geben wollen. In der Abgrenzung der einzelnen Perioden bin ich gewiss, ganz
im Sinne Hoffmeisters gehandelt zu haben. dadurch, dass ich den Schluss der
zweiten Periode etwas weiter hinausrückte, als in dem größeren Werke,
gewannen die drei Bändchen nicht nur dem Volumen nach eine ebenmäßigere
Gestalt, sondern es konnte auch im zweiten Teile mit Schiller als Prosaiker
vollkommener abgeschlossen werden, so dass der dritte sich nur noch mit dem
Dichter beschäftigt. auf die Verteilung des Stoffes in die einzelnen Kapitel
habe ich besondere Aufmerksamkeit verwandt. Die Erörterungen der Werke,
zumal der historischen und philosophischen, glaubte ich in eigenen Kapiteln
absondern zu müssen, damit der Leser, der sich diese für eine sorgfältige,
eindringende Betrachtung vorbehalten wollte, dadurch in der Lektüre des
eigentlich Biografischen möglichst wenig gehemmt werde.
Und so übergebe ich denn das teure Vermächtnis meines unvergesslichen
Freundes dem Publikum mit dem sehnlichsten Wunsch, dass, wie durch seine
größere Schrift bereits Schillers Verständnis einem engern Kreise tiefer
eindringender Leser, erschlossen worden ist, so nun durch diese der große
Lieblingsdichter unserer Nation dem gesamten gebildeten Deutschland
möglichst nahe gerückt werden möge.
H. Viehoff
(aus: Karl Hoffmeister, Schillers Leben für den weitern Kreis seiner Leser,
ergänzt und herausgegeben von Heinrich Viehoff. Erster Teil. Zweite
Ausgabe Stuttgart: Ad. Becher's Verlag. 1846, S. V - XIV -
Google-Books -
pdf )
Biographische Autornotizen:
»Karl Hoffmeister(1796
-1844): deutscher Philologe, Literaturhistoriker und Pädagoge; Studium der
Theologie Straßburg und Heidelberg; danach ab 1816 seinem Lehrer »Jakob
Friedrich Fries in Jena; Teilnehmer am ersten »Wartburgfest
von 1817 und Mitglied der »Urburschenschaft;
ab 1821 Rektor des Progymnasiums in Moers, 1832 Oberlehrer am
Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Köln und 1834 Direktor des Gymnasiums in Bad
Kreuznach; ab 1842 Direktor des erwähnten Gymnasiums in Köln zurückkehrte;
Beziehung zu Friedrich Schiller: befreundet mit »Ernst
von Schiller, dem zweitältesten Sohn von Friedrich Schiller und »Charlotte
von Schiller. (vgl.
Wikipedia.de)
Heinrich Viehoff (1804-1886): Philologe, Lehrer und Herausgeber
etlicher Lehrwerke und Lesebücher sowie Begründer der ersten Fachzeitschrift
für den deutschen Unterricht ("Archiv des Unterrichts im Deutschen"
1843-44); in den 1840er Jahren zusammen mit Ludwig Herrig Herausgabe des
"Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen" (später
allein von Herrig weitergeführt) (vgl.
Zimmer 2010,
S.76)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
22.10.2023