Die Doppelperspektive der Spannung
Wer einen ▪ Dramentext liest oder
seiner plurimedialen Inszenierung in
einem Theater beiwohnt, kann aus unterschiedlichen Gründen
darauf gespannt sein.
Vielleicht hat er/sie von irgendjemanden gehört, dass es sich um
ein spannendes Stück handelt, was wohl soviel bedeutet wie
interessant, aktuell, mit Überraschungseffekten oder
abwechslungsreich.
Das Erleben dieser Spannung ist ein subjektives psychisches,
sowohl affektives wie kognitives Phänomen, das von vielen
Faktoren abhängt. Wer innerlich oder äußerlich abgelenkt ist,
wird sie u. U. ebenso anders erleben wie ein Zuschauer, der
räumlich nah dran ist, im Vergleich mit dem, der in der letzten
Reihe mit zum Teil durch einen "Sitzriesen" in der Bankreihe vor
ihm verstellten Blick dem Geschehen folgen muss. Und ob die
knabbernden Chips-, Tapas- oder Popcorn-Besucher*innen eines
Filmtheaters die Spannung damit verarbeiten oder aber nur das
Spannungsempfinden ihrer Nachbarn empfindlich stören, sei
dahingestellt.
Diese Spannung als intrapsychisches Konstrukt ist indessen
keine Kategorie der traditionellen Dramenanalyse, wie sie im
Literaturunterricht an den Schulen praktiziert wird, und mithin
auch kein Gegenstand der dramatischen Spannung im engeren Sinne.
Die Doppelperspektive der Spannung, nämlich der Spannung, die
von einem Theaterstück, einem Film oder einfach von einem
literarischen Text ausgeht, und derjenigen Spannung, die ein
Zuschauer oder Leser bei der Rezeption empfindet, ist also
zweierlei und hat verschiedentlich dazu geführt, von
"objektiver" Spannung auf Textebene zu sprechen und von
"subjektiver" Spannung, wenn auf Wirkung bei der Rezeption
fokussiert wird. (vgl.
Pütz 21977,
S.11) Dagegen ist vorgebracht worden, dass dieser Auffassung
eine künstliche Trennung der beiden Spannungsebenen
zugrundeliege, weil eine objektive Spannung ohne das psychische
Zutun des Rezipienten per se nicht existieren kann, Spannung
also nicht unabhängig vom rezipierenden Subjekt sein kann.
Für
größere
(760px) oder
sehr
große Darstellung (1400px) bitte an*klicken*tippen!
Dramatische Spannung auf der Ebene des dramatischen
Textsubstrates
Unter Umständen rührt die Spannung aber auch vom Text, dem
dramatischen Textsubstrat selbst her, das durch Identifikation
mit Figuren und deren Handeln Spannung erzeugt. Wenn es um die
Spannung geht, die quasi im dramatischen Text selbst angelegt
ist, redet man von der dramatischen Spannung. Diese Spannung
"beruht hauptsächlich auf der Polarität von Täuschung und
späterer Entdeckung", die das Drama meistens auch zu "eine(r)
Art Rätselspiel" werden lässt. (Asmuth
62004, S. 114) Zugleich entsteht Spannung "im
Sinne einer Neugier auf die zukünftige Handlung nur [...] wenn
sich die weiter Entwicklung in Umrissen schon abzeichnet." (ebd., S. 115)
Die dramatische Spannung, man nennt sie auch
suspense, "bezieht sich auf die linearsequentielle
Ablaufstruktur des Textes". (Pfister
1977, S.142f.) Sie speist sich aus der Tatsache, dass
Figuren und Rezipienten eines Dramas immer nur einen begrenzten
Einblick in das haben, was in der Zukunft des dramatischen
Geschehens liegt. Wer schon über alles Bescheid weiß, wird also
keine derartige Spannung empfinden, und wer sich überhaupt nicht
ausmalen kann, wie es weitergeht, dem ergeht es kaum anders.
Insofern beruht das Spannungspotential eines dramatischen
Textes, wenn darunter eine Kategorie der linearsequentiellen
Ablaufstruktur des Textes versteht, "immer aus einer nur
partiellen Informiertheit von Figuren und/oder Rezipienten in
bezug auf folgende Handlungssequenzen" (ebd.)
Die
epistemologische Position der Figuren und der Rezipienten
bleibt damit stets auf den erreichten Wissenshorizont und die
vorhandenen Wahrnehmungsmöglichkeiten beschränkt.
Aber auch textinterne Signale, die auf die Zukunft des
dramatischen Geschehens verweisen (z. B. explizite
Ankündigungen, Schwüre, Prophezeiungen, Träume, allgemein alle
Arten von ▪ Vorausdeutungen, aber auch
implizite atmosphärische Andeutungen oder nur gefühlte gute bzw.
schlechte Vorzeichen (Omen, Pl. Omina) haben im Vollzug
zukunftsorientierter Informationsvergabe ihre eigene
Spannungsintensität. (vgl.
Pfister
1977, S.145) Wenn allerdings etwas passiert, was weder
Figuren noch Rezipienten sich überhaupt vorstellen können, etwas
völlig Unvorhersehbares also eintritt, dann erzeugt dies
vielleicht einen punktuellen "Knalleffekt" (coup de théâtre),
aber eben keine nachhaltige Spannung.
Spannung kann bei einem kompetenten Leser oder Zuschauer aber
auch dadurch aufkommen, weil er bestimmte Gattungserwartungen
hat, weil er z. B. weiß, dass in einer
Tragödie der
tragische Held am Ende "abstürzen" wird, und das je tiefer, je
größer die entsprechende
Fallhöhe ist.
Die Figuren müssen dabei bestimmtes Risiko
auf sich nehmen und der sich mit ihnen identifizierende Zuschauer
erlebt dies mit. Salopp gesagt: No risk, no fun, Spannung erhöht
sich stets mit der Größe des Risikos, das eingegangen wird.
Insofern unterscheidet sich der Nervenkitzel, den Menschen z. B.
beim Freeclimbing oder Bunjee-Jumping realiter erleben,
strukturell wenig von dem bei Identifikation mit einem
tragischen Helden Erlebten, der am Ende vielleicht sein Leben
lassen muss.
Und schließlich kann auch der sogenannte
Informationswert der folgenden Handlung die Spannung
beeinflussen. Je weniger man sich ausrechnen kann, was als
Nächstes passiert, je geringer die Wahrscheinlichkeit also ist,
dass das, was man antizipiert, auch eintritt, desto größer ist
die Spannung.
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
03.09.2023
|