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Im
Jahr 1597 übernahm der englische Philosoph und Staatsmann »Francis
Bacon (1561-1626) den Begriff Essay, den
Michel de Montaigne (1533-1592) zur Bezeichnung seines methodischen
Vorgehens für seine zu Papier gebrachten Reflexionen (Essais) verwendet hatte, um seine eigenen
philosophisch-religiösen Betrachtungen damit zu bezeichnen. (vgl.
Metzler Literaturlexikon, S.139) Mit einem ähnlichen Understatement wie
Montaigne, der seine "Essais" gerne auch als "Hirngespinste"
bezeichnete, äußerte Bacon über seine 10 im Jahre 1597 und 58 in seinem
vorletzten Lebensjahr erschienenen Essays, sie seien lediglich "dispersed
meditations" (hingeworfene Betrachtungen) (vgl.
Thorn 2012,
S.27). Indessen zeichnet sich seine Essayistik, die, in der Regel deduktiv
angelegt, einen apodiktischen
und belehrenden Ton hat und eher an ein
Traktat oder eine
wissenschaftliche Abhandlung als an ein Gedankenexperiment a la Montaigne
erinnert, "durch Geschlossenheit und Systematik, differenzierte Gliederung und
logische Diskursivität aus - mit dem Pathos seriös wissenschaftlicher Diktion
und dem pragmatischen Anspruch objektiv gesicherter Erkenntnisvermittlung, die
nichts offen und unbeantwortet lässt", wie
Goltschnigg (1997/2006, S. 107), die von Bacon begründete, englische
Traditionslinie des Essay charakterisiert. Diese sei u. a. von dem österreichischen
Schriftsteller »Hermann
Broch (1886-1951) im 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum fortgeführt
worden.
Francis Bacon, über den die Zeitgenossen und auch spätere Betrachter wie der
englische Schriftsteller »Alexander
Pope (1688-1744) trotz seiner unbestrittenen Verdienste um die Philosophie
und Wissenschaft als Wegbereiter des »Empirismus
urteilten, "er sei einer der weisesten, herrlichsten und zugleich schlechtesten
aller Menschen gewesen" (Kuczynski
1977, S.441), kommt als Mensch betrachtet in den zahlreichen Biographien,
die über ihn verfasst wurden, meist nicht besonders gut weg. Dass er Ende 1920
wegen Bestechlichkeit seines Amtes als Oberster Justizverantwortlicher enthoben
wurde, muss dabei - meistens ohne genauere Betrachtung der Hintergründe - dafür
herhalten, dass ihn z. B. Kuno
Fischer (1875,
S.11f.) als "korrupt, voll niedrigen Ehrgeizes, billig verdorben" (Kuczynski
1977, S.442) charakterisiert. Aber auch
Kuczynski (1977,
S.443) bricht mit folgenden Worten den Stab über Bacon: "Bacon war eigentlich
kein zwielichtiger Charakter: sein Charakter war eindeutig und schlecht im
kleinlichen Sinn. Es gibt große Denker, die auch große Verbrecher waren. Bacon
war ein großer Denker, kein Verbrecher jedoch, sondern
nur ein mickriger Charakter."
Als "allumfassender Wissenschaftler" sieht Bacon deren Aufgabe darin, "dem
Menschen und der Gesellschaft, in der er lebt, in jeder Beziehung zu helfen."
(Kuczynski
1977, S.443ff.) Als Philosoph und führender Politiker in
England,
wo er »Kronanwalt
(»Attorney
General), Mitglied im »House
of Commons, »Lordkanzler
(»Lord Chancellor),
»Baron
von Verulam und »Viscount
von St. Albans war, machte sich Bacon als Verfasser zahlreicher Schriften in
verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (Philosophie, Rechtswissenschaften,
Literaturwissenschaft, etc.) einen Namen. Immer sind sein "gesellschaftlich-politisches Tun und Verhalten und seine wissenschaftliche
Aktivität (...) mannigfach verbunden, am eindringlichsten in den Essays Of
the Profience and Advancement of Learning (1597; Über die Würde und den
Fortgang der Wissenschaften), die »Sein und Handeln der Menschen tief
berührend« B.s eigenes Streben als Staats- und Weltmann nach Orientierung in der
Wirklichkeit reflektieren. So bestimmt der Essay Über die hohe Stellung
(1612) den Politiker ungeachtet seines Strebens nach Macht als dreifachen
Diener: des Fürsten oder Staates. des Rufes und des Amtes; zugleich aber stehe
sein Handeln unter der Maxime, als Mensch »Mitarbeiter an Gottes Schöpfung« zu
sein." (Gerschmann
1995, S.72)
Im Jahr 1620 lässt Bacon kurz vor seinem politischen Fall wegen des auch von ihm
selbst eingeräumten Vorwurfs der Bestechlichkeit eine Art Universalenzykoplädie
unter dem programmatischen Titel Magna instauratio imperii humani in naturam
(Die große Erneuerung der menschlichen Herrschaft über die Natur)
erscheinen, von der er allerdings nur zwei Bände ausarbeitet, nämlich Über
die Würde und den Fortgang der Wissenschaften und das
Novum
organum scientiarum. Im Organon, die Anklänge im Titel an das
Werk von »Aristoteles
(384-322 v. Chr.), dessen logische und metaphysische Schriften Bacon im
übrigen klar kritisierte, findet sich auch der berühmte
Vergleich des Menschen mit der
Biene: "Wie sie in den Blüten vorgegebenen Stoff sammelt und ihn aus
eigener Kraft verarbeitet, soll der Mensch das naturgesetzlich Mögliche
auszuführen lernen, das Lebensdienliche und -vervollkommnende, wie es im »Haus
Salomons« praktiziert wird." (ebd.)
Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass "der Mensch handelnd. im Sinne ihres
Schöpfers auch vollendend mit der Natur umgehen und sie beherrschen" (ebd.,
S. 73) kann, ist freilich, dass er sich "von irritierenden Vorbildern, den
»Idolen« ('Vorurteilsgötzen', Trugbildern) zu befreien" (ebd.
S.72) versteht. Indem er auf solche Weise "»plus ultra« ordnend und benennend
durch »Erfahrung« die Herrschaft über die Dinge gewinnt", "steht er nicht mehr
betrachtend vor der fertigen Schöpfung, sondern arbeitet an ihr mit: Er hätte
das Ziel des Empirismus erreicht, an dessen Anfang B. wegweisend steht." (ebd.,
S.73)
Die weitere Entwicklung der Essayistik in ihrer Gesamtheit steht indessen
nicht allein unter der von Francis Bacon begründeten essayistischen Tradition.
Die Entwicklung in England im 18. Jahrhundert, von Denise
Gigante (2008)
in einer kommentierten Anthologie mit dem bezeichnenden Titel "The Great Age of
the English Essay" (2008) mit fast hundert Beispielen dokumentiert, wird anhand
von drei Beispielen von
Thorn (2012, S.
28ff.) für den (Englisch-)Unterricht erschlossen. Dabei zeigt er unter Bezug auf
Gigante (2008)
an den Beispielen von »Richard
Steeles (1672-1729) Essay "Introducing
the Tatler" aus dem Jahr 1709, »Joseph
Addison (1672-1719) "Ned Softly,
Sonneteer" (25.4.1710) und »Samuel
Johnsons (1709-1784) "The Vulture's
Speech on War" typische Merkmale des
Zeitschriftenessays auf, den
Gigante (2008)
als Vorläufer der modernen Literatur- und Kulturkritik ansieht. (vgl. Thorn
2012, S,35) . Sie zeichnen sich nach Auffassung Thorns durch vier Elemente
aus:
Die Gattung dieser Zeitschriftenessays im England des 18. Jahrhunderts war,
so Thorn (2012,
S.30), von vier Elementen geprägt:
Autoren wie Richard Steele, Joseph Addison, Samuel Johnson u. a. stehen
indessen kaum in der von Francis Bacon begründeten, eher systematisch und
wissenschaftlich orientierten Essayistik. Die charakterliche Gestaltung ihrer
jeweils fiktiven Sprecher und die davon herrührende subjektive Perspektivierung
ihrer Ausführungen rückt sie wohl näher an die französische Tradition eines
Michel de Montaigne. In ihren in Zeitschriften einem größeren Publikum
zugänglich gemachten Essays geht es ihnen, deren fiktive Autoren "so jedes
erdenkliche Thema aufgreifen" (ebd.,
S. 32), daher auch weniger um "die logisch aufgebaute, in geordneter Abfolge
dargebotene Argumentation" (ebd.) Wenn Sie Themen aufgriffen, die zum
allgemeinen Klatsch zählten, sich über Skandale, Gauner, Obsessionen und dunkle
Tiefen der Psyche, Geschmacks- und Modefragen ausließen, zu Krieg und Frieden,
Genderfragen und Politik Stellung bezogen u. ä. m., dann wollten sie, was
Thorn (2012, S.32)
wohl im Hinblick auf die
schulische
Schreibform des
Essay betont,
keineswegs, "was wir heute
erörtern nennen", sondern "bevorzugten (...) freie Gedankengänge mit
Anschweifungen und Umwegen, pflegten eher einen assoziativen Briefstil und
wandten stilistische Kniffe an." (ebd.)
Zugleich jedoch erhoben sie einen bewussten literarischen Anspruch, worin
Gigante (2008)
einen Grundzug der englischen Essayistik im England des 18. Jahrhunderts sieht
(vgl. horn 2012,
S.35), was ihre Texte auch wieder von denen Michel Montaignes abhebt. Sie
erfüllen somit wohl auch die Kriterien, die
Vogt (2008,
S.192f.) der
Literarisierung von Gebrauchstexten zuordnet, um sie auf diese Weise als
Gegenstand der Literaturwissenschaft zu reklamieren.
Dennoch schließen die Essays dieser Autoren, die in verschiedenen Periodika (»moralische
Wochenschrift, moral weeklies, periodical essays) erschienen sind, an
die "dispersed
meditations" Francis Bacons an, indem sie in einer unterhaltsamen Form
dem aufklärerischen Ideal von Bildung folgen, wie sie Bürger und Adelige gerne
in der Kaffeehauskultur der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit als Forum
intellektuellen Austauschs pflegten. Nichtzuletzt deshalb sieht
Gigante (2008)
auch in ihrem Schaffen den Vorläufer moderner Literatur- und Kulturkritik. (vgl.
Thorn 2012, S.35)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.09.2013
Abbildungen: Quelle Wikipedia - gemeinfrei
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