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Am 8. Mai 1985 hielt der damalige Bundespräsident
»Richard
von Weizsäcker (1920-2015) im Plenarsaal des Deutschen Bundestages die folgende Rede
Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes (Auszüge)
Meine Herren Präsidenten,
Herr Bundeskanzler, Exzellenzen,
meine Damen und Herren, liebe Landsleute!
Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in
Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine
eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und
Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue
Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen - der 8. Mai 1945 ist
ein Datum von
entscheidender historischer Bedeutung in Europa.
Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen
die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder
durch andere hilft nicht weiter. [...]
Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen
erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang
unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns
seinen Folgen verantwortlich zu stellen.
Der 8. Mai ist
für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst
erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche
Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser
wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur
dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben
davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige
Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor
zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche für den geschenkten neuen
Anfang. Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewissheit
erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser
Schicksal in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen,
zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach
entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten? Die meisten Deutschen hatten
geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden.
Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und
sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen
Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten
die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein
Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn? Der Blick ging zurück in einen
dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle
Zukunft. Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle
gemeinsam zu sagen gilt: Der
8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem
menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden
für viele Menschen mit dem 8. Mal erst begannen und danach folgten. Aber wir
dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und
Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener
Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom
30. Januar 1933 trennen. [...]
Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so
ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird.
Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.
Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der
Gewaltherrschaft.
Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen
Konzentrationslagern ermordet wurden.
Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der
unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben
verloren haben.
Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als
Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei
der Vertreibung ums Leben gekommen sind.
Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der
umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder
politischen Überzeugung willen sterben mussten.
Wir gedenken der erschossenen Geiseln.
Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten.
Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes,
des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des
Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes
der Kommunisten.
Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher den Tod
hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen.
Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich ein Gebirge
menschlichen Leids,
Leid um die Toten,
Leid durch Verwundung und Verkrüppelung,
Leid durch unmenschliche Zwangssterilisierung, Leid in Bombennächten,
Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung,
durch Zwangsarbeit, durch Unrecht und Folter, durch Hunger und Not,
Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod,
Leid durch Verlust all dessen, woran man irrend geglaubt und wofür man
gearbeitet hatte.
Heute erinnern wir uns dieses menschlichen Leids und gedenken seiner in
Trauer.
Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen aufgeladen war, haben
die Frauen der Völker getragen.
Ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergisst die Weltgeschichte
nur allzu leicht. Sie haben gebangt und gearbeitet, menschliches Leben
getragen und beschützt. Sie haben getrauert um gefallene Väter und Söhne,
Männer, Brüder und Freunde.
Sie haben in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor dem Erlöschen
bewahrt.
Am Ende des Krieges haben sie als erste und ohne Aussicht auf eine
gesicherte Zukunft Hand angelegt, um wieder einen Stein auf den anderen zu
setzen, die Trümmerfrauen in Berlin und überall.
Als die überlebenden Männer heimkehrten, mussten Frauen oft wieder
zurückstehen. Viele Frauen blieben auf Grund des Krieges allein und
verbrachten ihr Leben in Einsamkeit.
Wenn aber die Völker an den Zerstörungen, den Verwüstungen, den
Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten innerlich nicht zerbrachen,
wenn sie nach dem Krieg langsam wieder zu sich selbst kamen, dann verdanken
wir es zuerst unseren Frauen.
Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Hass Hitlers gegen
unsere jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler hatte ihn nie vor der
Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das ganze Volk zum Werkzeug dieses
Hasses gemacht. [...]
Gewiss, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb
von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den
Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.
Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der
Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben,
was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über
versteckte Intoleranz bis zu offenem Hass. Wer konnte arglos bleiben nach
den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem
Judenstern, dem Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändungen der
menschlichen Würde?
Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte
nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen
mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in
Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in
meiner Generation, die wir jung und an der- Planung und Ausführung der
Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.
Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu
sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze
unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von
uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben.
Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie
Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.
Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt
Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben.
Jeder, der die Zeit mit vollem Bewusstsein erlebt hat, frage sich heute im
stillen selbst nach seiner Verstrickung. Der ganz überwiegende Teil unserer
heutigen Bevölkerung war zur damaligen Zeit entweder im Kindesalter oder
noch gar nicht geboren. Sie können nicht eine eigene Schuld bekennen für
Taten, die sie gar nicht begangen haben.
Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein Büßerhemd zu tragen, nur weil
sie Deutsche sind. Aber die Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft
hinterlassen.
Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit
annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung
genommen.
Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen,
warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wach zu halten. Es geht nicht
darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich
ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der
Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich
der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue
Ansteckungsgefahren. [...]
Der 8. Mai ist ein tiefer historischer Einschnitt, nicht nur in der
deutschen, sondern auch in der europäischen Geschichte. [...]
Auf dem Weg ins Unheil wurde Hitler die treibende Kraft. Er erzeugte und er
nutzte Massenwahn. Eine schwache Demokratie war unfähig, ihm Einhalt zu
gebieten. Und auch die europäischen Westmächte, nach Churchills Urteil
"arglos, nicht schuldlos", trugen durch Schwäche zur verhängnisvollen
Entwicklung bei. Amerika hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg wieder
zurückgezogen und war in den dreißiger Jahren ohne Einfluss auf Europa.
[...]
Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
bleibt mit dem deutschen Namen verbunden.
Während dieses Krieges hat das nationalsozialistische Regime viele Völker
gequält und geschändet.
Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet
zu werden: das eigene, das deutsche Volk. [...]
Es folgte die von den Siegermächten verabredete Aufteilung Deutschlands in
verschiedene Zonen. [...]
Die Spaltung Europas in zwei verschiedene politische Systeme nahm ihren
Lauf. Es war erst die Nachkriegsentwicklung, die sie befestigte. Aber ohne
den von Hitler begonnenen Krieg wäre sie nicht gekommen. Daran denken die
betroffenen Völker zuerst, wenn sie sich des von der deutschen Führung
ausgelösten Krieges erinnern. [...]
Wir in der späteren Bundesrepublik Deutschland erhielten die kostbare Chance
der Freiheit. Vielen Millionen Landsleuten bleibt sie bis heute versagt.
Die Willkür der Zuteilung unterschiedlicher Schicksale ertragen zu lernen,
war die erste Aufgabe im Geistigen, die sich neben der Aufgabe des
materiellen Wiederaufbaus stellte. [...]
Der Neuanfang in Europa nach 1945 hat dem Gedanken der Freiheit und
Selbstbestimmung Siege und Niederlagen gebracht. Für uns gilt es, die Chance
des Schlussstrichs unter eine lange Periode europäischer Geschichte zu
nutzen, in der jedem Staat Frieden nur denkbar und sicher schien als
Ergebnis eigener Überlegenheit und in der Frieden eine Zeit der Vorbereitung
des nächsten Krieges bedeutete. [...]
Wir haben wahrlich keinen Grund zu Überheblichkeit und
Selbstgerechtigkeit. Aber wir dürfen uns der Entwicklung dieser 40 Jahre
dankbar erinnern, wenn wir das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie
für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die
auf uns warten, nutzen.
- Wenn wir uns daran erinnern, dass Geisteskranke im Dritten Reich getötet
wurden, werden wir die Zuwendung zu psychisch kranken Bürgern als unsere
eigene Aufgabe verstehen.
- Wenn wir uns erinnern, wie rassisch, religiös und politisch Verfolgte, die
vom sicheren Tod bedroht waren, oft vor geschlossenen Grenzen anderer
Staaten standen, werden wir vor denen, die heute wirklich verfolgt sind und
bei uns Schutz suchen, die Tür nicht verschließen.
- Wenn wir uns der Verfolgung des freien Geistes während der Diktatur
besinnen, werden wir die Freiheit jedes Gedankens und jeder Kritik schützen,
so sehr sie sich auch gegen uns selbst richten mag.
- Wer über die Verhältnisse im Nahen Osten urteilt, der möge an das
Schicksal denken, das Deutsche den jüdischen Mitmenschen bereiteten und das
die Gründung des Staates Israel unter Bedingungen auslöste, die noch heute
die Menschen in dieser Region belasten und gefährden.
- Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden
mussten, werden wir besser verstehen, dass der Ausgleich, die Entspannung
und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgabe der
deutschen Außenpolitik bleibt. Es gilt, dass beide Seiten sich erinnern und
beide Seiten einander achten. Sie haben menschlich, sie haben kulturell, sie
haben letzten Endes auch geschichtlich allen Grund dazu.
Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation. Wir fühlen uns
zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt haben.
Auch den 8. Mai 1945 haben wir als gemeinsames Schicksal unseres Volkes
erlebt, das uns eint. Wir fühlen uns zusammengehörig in unserem Willen zum
Frieden. Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und gute
Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur
Gefahr für den Frieden werden lassen. Die Menschen in Deutschland wollen
gemeinsam einen Frieden, der Gerechtigkeit und Menschenrecht für alle Völker
einschließt, auch für das unsrige. [...]
Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung
hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals
geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus
wird.
Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern
Aufrichtigkeit. Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es
lebenswichtig ist, die Erinnerung wach zu halten. Wir wollen ihnen helfen,
sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit
einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne moralische
Überheblichkeit.
Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist.
Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders
und besser geworden.
Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit – für niemanden
und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen
gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu
überwinden. Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und
Hass zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich
nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen
Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder
Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben,
nicht gegeneinander. Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker
dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben. Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht. Dienen wir
unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit. Schauen wir am heutigen 8. Mai,
so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023