|
Mit seinen einleitenden Worten stellt der nicht näher vorgestellte Ich-Erzähler
klar, dass er nicht nur Herausgeber der Aufzeichnungen des Mannes, den er
"Steppenwolf" nennt, sein will. Neben die als authentisch
ausgewiesenen Aufzeichnungen will er seine eigenen Erinnerungen an diese
Person stellen.
Der Erzähler räumt ein, nichts über Herkunft und Vorleben des
Steppenwolfs zu wissen. Seine Informationen über die Person des
Steppenwolfs, seine äußere Erscheinung, seine Lebensumstände, sein
äußeres Verhalten und seine psychischen Dispositionen sind daher auch
spärlich: Der "Steppenwolf" ist ein Mann von etwa 50 Jahren,
nicht sonderlich groß gewachsen, mit einem glattrasierten, scharfen
Profil. Die Kleidung, von der der Erzähler nur den modernen Wintermantel
erwähnt, den der Steppenwolf bei seinem erstmaligen Erscheinen trägt,
sowie die beiden Koffer und die große Bücherkiste, die er mit sich
führt, sind die spärlichen Informationen, die der Erzähler über die
soziale Lage des Steppenwolfs mitteilt. Bei seiner ersten Begegnung mit
dem etwas schleppend gehenden "Steppenwolf" erweist sich dieser
als rundum höflich, freundlich und korrekt, und mit seiner Bemerkung, es
rieche in dem Hause gut, versucht er wohl, seiner künftigen Zimmerwirtin
ein Kompliment zu machen. Bei den Mietverhandlungen über die Mansarde und
die dazugehörende Schlafkammer zeigt er sich sehr kulant, als er von sich
aus eine Mietvorauszahlung anbietet.
Über seine seelische Befindlichkeit weiß der Erzähler nichts Genaues zu
berichten. Lediglich seine Ausstrahlung in Form der vom Erzähler
gemachten Eindrücke vermag - mit dem dafür nötigen Vorbehalt - auf die
psychischen Dispositionen des Erzählers verweisen. So bleibt allein, die
auch vom Steppenwolf selbst gebrauchte Bezeichnung "Steppenwolf"
das einzige authentische Indiz für Einstellungen und Werte der
charakterisierten Figur.
Für die Charakterisierung des Steppenwolfs durch den Erzähler wichtiger
als die hauptsächlich beschreibenden Charakterisierungen sind die immer
wieder vorgenommenen Bewertungen des "Steppenwolfs" durch den
Erzähler, bzw. seine Rückschlüsse auf Charaktereigenschaften des
Steppenwolfs.
In seiner Rolle als sich erinnernder auktorialer Ich-Erzähler, der sich
an Ereignisse von neun oder zehn Monaten Dauer vor einigen Jahren
erinnert, betont er, dass der Steppenwolf eine starke Persönlichkeit
gewesen sei, die seine Sympathie gefunden habe. Daran hat offenbar auch
das von ihm bemerkte sozial extrem zurückgezogene Verhalten wie auch das
fremdartige, scheue und zugleich wilde Wesen des Steppenwolfs nichts
geändert.
Noch sehr genau stehen dem Erzähler die Eindrücke vor Augen, die seine
erste Begegnung mit dem Steppenwolf bei ihm hinterlassen hat. Die
Gefühle, die dem erinnerten Ich des Erzählers wieder kommen, stehen
dabei in einem merkwürdigen Kontrast zu dem eingangs abgegeben
Gesamturteil. Sonderbar und zwiespältig sei ihm der Steppenwolf damals
erschienen. Das instinktive Wittern des Steppenwolfs beim Betreten des
Hauses, sein schleppender Gang, sein eigentümliches Lächeln und die von
ihm verbreitete Aura einer fremden Welt, habe sogar eine abweisende und
feindliche Atmosphäre erzeugt. Dies, obwohl der Erzähler einräumt, dass
der Steppenwolf sich eigentlich, wenn auch mit Mühe, höflich und
freundlich verhalten habe. So gipfelt die Widersprüchlichkeit des
Erlebens bei der ersten Begegnung mit dem Steppenwolf in einer
charakterisierenden Beschreibung seines Gesichts, dessen Züge
Eigenartigkeit, Traurigkeit, Wachheit, Gedankenversunkenheit,
Lebenserfahrung und Vergeistigung gleichermaßen ausdrücken.
Und, was sich für den Erzähler im Gesicht zeigt, kann auch die
Körpersprache nicht verhehlen. Zwar trage der Steppenwolf seinen Kopf
selbstbewusst hoch, doch sein höfliches und freundschaftliches Verhalten
habe keine Spur von Überheblichkeit, sondern gebe ihm den Gestus des
Flehens und mache ihn damit zum Objekt der Rührung. So bleibt am Ende ein
insgesamt widersprüchliches Bild, erscheint die Figur des Steppenwolf
verrätselt und der Leser wird darauf eingestimmt das Rätsel seiner
Person im weiteren Verlauf der Lektüre zu lösen.
Die Charakterisierung des Steppenwolf am Romananfang erfolgt überwiegend
direkt. Fast immer handelt es sich um Beschreibungen und Bewertungen, die
der Charakterisierung des Steppenwolfs dienen sollen. Nur vereinzelt
kommen indirekte Charakterisierungen zum Zuge, wenn aus der Perspektive
des erinnerten Ichs, im Erzählerbericht das Verhalten des Steppenwolfs
dargeboten wird.
Der
Steppenwolf ein Weltverächter als Einzelgänger
Für Eva Jaeggi
(1994, S. 27-37) ist der Steppenwolf als "Weltverächter" ein
"Prototyp des literarischen Einzelgängers", der am liebsten "in sauberen
Kleinbürgerwohnungen (logiert), wo seine immer wieder
durchbrechende
Sehnsucht nach der Welt des »Normalbürgers« ein wenig gestillt wird.
»Ich wohne weder in Palästen noch in Proletarierhäusern, sondern
ausgerechnet stets in diesen hochanständigen, hochlangweiligen, tadellos
gehaltenen Kleinbürgernestern, wo man erschrickt, wenn man einmal die
Haustür laut ins Schloss hat fallen lassen oder mit schmutzigen Schuhen
heimkommt. Ich liebe diese Atmosphäre ohne Zweifel aus meinen
Kinderzeiten her, und meine heimliche Sehnsucht nach so etwas wie Heimat
führt mich, hoffnungslos, immer wieder diese alten, dummen Wege. Nun ja,
und ich habe auch den Kontrast gern, in dem mein Leben, mein einsames,
liebloses und gehetztes, durch und durch unordentliches Leben, zu diesem
Familien- und Bürgermilieu steht... und habe es gern, dann über die
Schwelle meines Zimmers zu treten, wo das alles aufhört, wo zwischen den
Bücherhaufen die Zigarrenreste liegen und die Weinflaschen stehen, wo
alles unordentlich, unheimisch und verwahrlost ist...« Dabei werde der
Alleinlebende "als unzugänglich und kalt (charakterisiert); der normal
Kontaktfähige ist selbstverständlich verheiratet. So sind denn auch alle
Kumpane des Steppenwolfs Außenseiter, Randexistenzen. Was das
Alltagsleben von Harry Haller angeht, so besteht es in einem vagen
Umherirren durch Kneipen und nachtdunkle Straßen sowie in einem einsamen
(und ziellosen) Stöbern in Büchern und alten Partituren. Dass
Alleinleben trostlose Einsamkeit bedeutet, ist hier sehr deutlich
ausgedrückt, während »Junggeselle« im üblichen Sinn derjenige ist, der
noch nicht geheiratet hat - so z. B. der fiktive »Herausgeber« der
Schriften Harrys."
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
01.08.2017 |
|