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Artikel 148 WRV
In einer Szene seines Romans »Der letzte Zivilist«
(erschienen 1935) gestaltet »Ernst Glaeser
(1902-1963) den Umgang mit der •
Weimarer
Reichsverfassung im Unterricht der Weimarer Zeit: "Als Dr. Voß das Klassenzimmer betrat, erhob sich die Prima. Er ging
zum Katheder, setzte sich und sah die Gesichter der vor ihm stehenden
Jungen. Er betrachtete jeden einzeln: 'Wir kommen heute zur deutschen
Reichsverfassung aus dem Jahre 1919. Es ist die so genannte Weimarer
Verfassung. Sie wissen, dass Sie im kommenden März beim Abitur in den
wichtigsten Bestimmungen dieser Verfassung geprüft werden. Laut einer
Verordnung der Regierung ist Staatsbürgerkunde Pflichtfach. Es ist meine
Dienstpflicht, Sie darin zu unterrichten. Ich muss Sie aber bitten, die
Ansichten, die ich hier vortrage, nicht als die meinen zu betrachten. Es
handelt sich um ein Werk, das ich sowohl seiner Entstehung wie auch seinem
Sinn nach auf Grund meiner Weltanschauung und meiner Vergangenheit
ablehnen muss. … Setzen!'
Achtzehn Knaben setzten sich und sahen nach ihrem Lehrer.
Voß begann zu lesen. (…) Es war ein Kommentar über die Entstehung der
Verfassung, aus dem er las. Ein langweiliges, mit Daten und Hinweisen
gespicktes Elaborat.1
Zehn Minuten waren vergangen. Keiner der Knaben hörte mehr hin. (…)
Voß sah nicht hoch. Durch den Raum ging das Summen der Stimmen. Oft kam
ein verdecktes Lachen. Schließlich erhob sich einer und fragte, ob es
erlaubt sei, die Toilette aufzusuchen.
Dr. Voß sah hoch.
'Sie wissen, meine Herren, dass Sie in dem, was ich hier lese, geprüft
werden. Wenn aber Ihr Gesundheitszustand beim Anhören dieser Paragraphen
merkwürdige Veränderungen zeigt, kann ich Sie nicht hindern, dem
nachzukommen.' "
(aus: Ernst Glaeser, Der letzte Zivilist, Heidelberg 1946, S.108f.)
Elaborat:
(abwertend) flüchtig zusammengeschriebene Arbeit, die weiter keine
Beachtung verdient; Machwerk
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.12.2024