|
Längst haben in den Modernisierungsprozessen unserer Gegenwart die alten "Regie-
und politischen Rezeptbücher" (Beck
1986, S.14) für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und mithin das Leben
der Menschen und ihrer individuellen Lebensentwürfe und -verläufe ausgedient.
Die Welt- und Menschenbilder, auf die sich einstmals bezogen, sind mehr als nur
brüchig geworden. Religiöse Orientierungen und Sinngebungen haben im Alltag
vieler Menschen ebenso abgedankt wie Traditionen, die lange als eine Art
sozialer Kitt für die Gesellschaft im Großen wie im Kleinen fungierten.
Lange Zeit konnte sich der Strukturwandel, der mit dem Aufkommen der
Industriegesellschaft technologisch, ökonomisch und sozial sämtliche
Lebensverhältnisse veränderte, aus der Abkehr und Weiterentwicklung der
überkommenden Strukturen der Agrargesellschaft legitimieren. "Heute, an der
Wende ins 21. Jahrhundert", so
Beck (ebd.), "hat
Modernisierung ihr Gegenteil aufgezehrt, verloren und trifft
auf sich selbst in ihren industriegesellschaftlichen Prämissen und
Funktionsprinzipien. Modernisierung im Erfahrungshorizont der Vormoderne wird
verdrängt durch Problemlagen von Modernisierung im Selbstbezug." So haben
sich beispielweise Lebensformen der Industriegesellschaft wie die
Klasse oder Schicht, Kleinfamilie, Geschlechterrollen aus der Abkehr von
traditionellen Lebensformen der Agrargesellschaft ergeben, die in der
industriellen Moderne "weitgehend
normiert und standardisiert gedacht" (Beck,
Eigenes Leben 1995, S. 15) wurden.
Demgegenüber gelten, so hebt der Soziologe Beck weiter hervor, "die Lebensformen
der Postmoderne (...) als weitgehend beliebig." (ebd.)
Beck sieht in dem Prozess des Übergangs von der Agrargesellschaft zur modernen
Industriegesellschaft einen Vorgang, den er
einfache Modernisierung nennt.
Die "neuen" Lebensformen der Postmoderne, also der Zeit unablässigen
Strukturwandels ohne "negatives" Vorbild sozusagen, entstehen allerdings auf
andere Weise. Sie entwickeln sich im Selbstbezug, oder, wie Beck es nennt, im
Zuge reflexiver Modernisierung
(vgl. Beck 1986, S.14).
Das Attribut "reflexiv" bedeutet dabei nicht, dass in der postmodernen
Industriegesellschaft verstärkt über diese Wandlungsprozesse nachgedacht
(reflektiert) würde bzw. wird. Reflexiv bezeichnet in diesem Zusammenhang
Prozesse "ungewollter,
oft auch ungesehener Selbstinfragestellung, Selbstveränderung", und:
"Modernisierung untergräbt - und verändert! - die Voraussetzungen und
Rahmenbedingungen industriegesellschaftlicher Modernisierung; eben im Sinne z.B.
von Enttraditionalisierung, Globalisierung
und Individualisierung." (Beck,
Eigenes Leben 1995, S. 15)
Insofern stellt der Begriff "reflexive Modernisierung" eine "Gedankenfigur"
dar, welche "Modernisierung (im Sinne von Enttraditionalisierung, Individualisierung usw.) auf die Industriegesellschaft
selbst anwendet." (ebd.)
"Fraglos ist die Moderne das Zeitalter des Individuums", betont Norbert
Hettlage (1992, S.80)
und fährt fort: "Nie zuvor in der Geschichte waren die Möglichkeiten größer,
sich aus den umgebenden Kollektiven herauszulösen und sich wirklich als ein
'Selbst' mit eigenen Lebens- und Profilierungschancen zu erleben. Individuelle
Freiheit, Autonomie und subjektive Rechte haben sogar eine Art sozialethischen
Status angenommen. Keiner darf mir das Recht streitig machen, mein Leben so frei
wie möglich zu planen."
Die Planung des eigenen Lebens, die in hochdifferenzierten Gesellschaften als
"Zwang und die Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen" (Beck,
Eigenes Leben 1995 S. 9), verstanden werden muss, ist ein Phänomen der industriellen
Postmoderne. (→Die Bedeutung des eigenen Lebens in der
Postmoderne. Ulrich Becks Theorie des eigenen Lebens)
Das "eigene Leben", "angefüllt mit Unvereinbarkeiten, den Ruinen
der Traditionen, dem Gerümpel der Nebenfolgen"
(ebd.),
ist dabei ein Konstrukt, das auf der Basis eines
Metaprozess ohne einen ganz bestimmten Anfangspunkt und eine bestimmte
Richtung (vgl. Krotz 2006,
S.29) steht. Dieser Metaprozess wird als Individualisierung bezeichnet.
Um zu verstehen, was damit gemeint ist, kann man sich die Wandlungsprozesse in
Erinnerung rufen, welche die wichtigsten Strukturen der Industriegesellschaft
hervorgebracht haben. Claudia
Szczesny-Friedmann
(1991, S.10ff.) hat dies sehr anschaulich und verständlich zur Sprache
gebracht: "Der
Individualisierungsprozess der Moderne hat die traditionellen Muster sozialer
Beziehungen […] weitgehend aufgelöst und den einzelnen in einem Maße zur
Selbstorganisation seines sozialen Lebens gezwungen, wie es historisch in diesem
Umfang noch nie der Fall war.
Die längste Zeit der Geschichte der Menschheit wurde der Mensch in eine
bestehende Gemeinschaft hineingeboren, deren Mitgliederzahl überschaubar war und
der er ein Leben lang angehörte; neben den Freunden existierten nur die Fremden
als seine Feinde. Die Beziehungen der Menschen untereinander waren in den
fundamentalen Institutionen von Blutsverwandtschaft und Religion fest verwurzelt
und damit auch verbindlich geregelt. Jeder wusste, was er von jedem anderen zu
erwarten hatte und was er jedem anderen schuldete. Das engmaschige Netz an
gegenseitigen Verpflichtungen, auf das sich traditionelle Gemeinschaften
gründeten, ließ dem Einzelnen zwar wenig Raum für jene Entscheidungsfreiheit und
individualisierte Lebensführung, die wir heute als Grundrechte in Anspruch
nehmen; der Zusammenhalt der Gruppe hatte unbedingten Vorrang vor den
persönlichen Zielen und Wünschen ihrer Mitglieder. Dafür genoss der Einzelne
jedoch den vorbehaltlosen Schutz der Gemeinschaft, ohne die er nicht hätte
überleben können.
Wir können heute dagegen kaum mehr auf soziale Beziehungen als quasi-natürliche
Gegebenheiten unserer Existenz zurückgreifen. Jeder einzelne muss sich seine
persönliche soziale Welt selbst erschaffen, und das notfalls immer wieder neu.
In den modernen Gesellschaften gibt es nämlich - mit Ausnahme der
Eltern-Kind-Beziehung - keine stabilen und dauerhaften zwischenmenschlichen
Beziehungen mehr. Traditionelle Beziehungen, also Beziehungen, die als
lebenslang angesehen werden können und deren grundlegende Voraussetzungen sich
nicht ändern, existieren zwar weiterhin als Wunsch- und Leitvorstellungen in den
Köpfen der Menschen, immer seltener jedoch in der Realität."
Der Individualisierungsprozess, der hier
beschrieben wird, ist für Ulrich
Beck
(1986, S.207) nicht das, was viele Menschen mit dem Begriff konnotieren.
Während diese nämlich meinen, dass Individualisierung etwas wie Individuation
im Sinne von Personwerdung, Einmaligkeit oder Emanzipation bedeutet, sieht er
darin anderes, nämlich: "erstens die Auflösung, zweitens die Ablösung industriegesellschaftlicher
Lebensformen (Klasse, Schicht, Geschlechterrolle, Familie) durch solche, in denen die
Individuen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenschustern müssen.
Die
Normalbiographie wird zur Wahlbiographie zur »Bastelbiographie« (Ronald Hitzler)
Individualisierung beruht also keineswegs auf einer freien Entscheidung. Die Menschen sind
- um es mit Sartre zu sagen - zur Individualisierung verdammt. Es handelt sich um einen
Zwang, einen paradoxen Zwang freilich, zur Selbstgestaltung, Selbstinszenierung, nicht
nur der
eigenen Biographie, sondern auch ihrer moralischen, sozialen und politischen Bindungen -
allerdings: unter sozialstaatlichen Vorgaben wie Ausbildung, Arbeitsmarkt, Arbeits- und
Sozialrecht usw.
Individualisierung ist (
) entgegen der allgemeinen Bewusstseinsform kein
individuelles, sondern ein kollektives Schicksal.
Gemeinsamkeit kann nicht länger von oben nach unten verordnet, sondern muss frei gefragt,
herbeigestritten werden im Durchgang durch das Individuelle, Biographische; muss
abgesprochen, ausgehandelt, begründet, erlebt, gegen die zentrifugale Kraft der
Biographien bewusst bewahrt werden." (Beck, in:
Süddeutsche Zeitung, 14./15.2.1993, Hervorh. d. Verf.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
09.12.2015
|
|