Die Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch«
von
Wolfgang Borchert
kann in folgender Weise als
literarische Nacherzählung
nacherzählt werden.
"Wieder einmal war die Stadt nachts von feindlichen Flugzeugen
bombardiert worden, so wie es schon häufiger vorgekommen war in
diesem Krieg. Aber dieses Mal war auch das Elternhaus eines kleinen
9-jährigen Jungen getroffen worden. Während des Angriffs hatten
sie sich im Keller aufgehalten. Doch das Haus war getroffen worden
und eingestürzt. Dabei war auch der kleine Bruder verschüttet
worden, der nun unter den Trümmern lag. Der Größere, der sich
für seinen kleineren Bruder verantwortlich fühlte, bewachte ihn
jetzt Tag und Nacht. Denn in der Schule hatte ihnen der Lehrer
beigebracht, dass die Ratten kämen und die verschütteten Menschen
fressen würden.
Das war der Grund, weshalb sich der kleine Jürgen in dem
Ruinen-Grundstück aufhielt. Er blickte gerade zu einem
Kellerfenster hinaus, als er zwei krumme Beine erblickte. Diese
gehörten zu einem älteren Mann, der einen Korb trug und der
zufällig hier vorbeigegangen war. Jürgen bekam große Angst, dass
man ihn jetzt wegbringen würde. Der Mann machte aber einen sehr
freundlichen Eindruck und fragte ihn, ob er hier schlafe. "Ich muss
aufpassen", war Jürgens zögernde Antwort. Aber er wollte
eigentlich gar nicht angesprochen werden. Er konnte sich nämlich
kaum noch wach halten, und jetzt sollte er auch noch Auskunft geben.
Er konnte einfach nicht mehr. Bestimmt würde er auch bald ein Opfer
dieses Krieges sein. Der Mann stellte zu allem Übel auch noch
seinen Korb ab und fragte ihn, ob er auf Geld aufpasse. Wie konnte
man ihn so missverstehen. Er passe auf was ganz anderes auf. Er
wolle es aber niemandem sagen. "Dann lass es eben", meinte
der Mann, "und ich sage dir dann auch nicht, was ich hier in
meinem Korb habe." Das hatte Jürgen allerdings schon erraten.
"Es ist Kaninchenfutter", sagte er schnell. Der Mann
staunte über seine Phantasie. Und als er erfuhr, dass Jürgen neun
Jahre alt war, stellte er ihm mit der Zahl neun eine kleine
Rechenaufgabe. Jürgen musste sich zum Ausrechnen schon mächtig
anstrengen, denn er war ja so vollkommen müde und hatte großen
Hunger. Der Mann hatte ihn aber damit auf andere Gedanken gebracht.
Noch weiter lenkte er Jürgen von seinen dunklen Gedanken ab, als er
ihm von seinen 27 Kaninchen daheim erzählte, die er ihm gerne
zeigen wolle. Er bemerkte den traurigen und doch schon etwas
interessierten Blick des Jungen, der ihm nach langem Zögern
anvertraute, dass er seinen toten Bruder vor den gierigen Ratten
bewachen müsse.
Der alte Mann ließ sich nicht anmerken, wie entsetzt er über diese
Enthüllung war. Er sah nur auf den kleinen armen Jungen, der von
einem halben Brot und etwas Tabak in einer Blechschachtel leben
wollte. Ohne eine Notlüge war hier nichts zu machen. "Nachts
kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen nämlich die
Ratten doch", sagte er. Der Junge wusste nicht, wem er glauben
sollte: seinem Lehrer oder diesem Mann. Aber sein Durchhaltewille
war zumindest erschüttert. Und er war ja so müde. War dieses
Aufpassen in der Nacht also wirklich nicht nötig? Seine
Unsicherheit wurde immer größer. Und als ihm der Mann darauf
versprach, abends mit einem weißen Kaninchen vorbeizukommen, war
Jürgen hellauf begeistert. Ja, bestimmt wolle er so lange warten,
bis der Mann ihn am Abend abhole. Natürlich wolle er mit ihm und
dem weißen Kaninchen zu seinem Vater gehen, um aus Kistenbrettern
einen Kaninchenstall zu bauen.
Der Mann ging fort, um seine Kaninchen zu füttern. Und den ganzen
Tag lang dachte der Junge nur noch an sein weißes Kaninchen, an
grünes Kaninchenfutter, an die wärmende Sonne. Sein grauer Alltag,
voller Schutt und Ruinen, war vergessen, wie weggeblasen. Seine
Lebenswille war wieder zurückgekehrt."
(nach: R. u. U. Koch, Deutsch für
Berufsschulen, Mannheim: Max Rein Verlag, 8. Aufl. S.144)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023