Die Entwicklung hin zu
einem modernen Staat kannte in Europa ▪
unterschiedliche Wege und bis der "ungemütliche Verordnungs- und
Verwaltungsstaat, der zum Wohle seiner Untertanen das kirchliche,
politische, gesellschaftliche, ökonomische und private Leben bis ins
kleinste zu regeln und zu beaufsichtigen trachtete" (Schilling 1994a,
S.137) und eine wirklich absolut-souveräne fürstliche Landeshoheit
entstanden war, vergingen Jahre. Dass es dabei in Europa
keinen "Normalweg" (Schorn-Schütte
2009,
S.98) zur Entstehung einer modernen Staatlichkeit gab, "an dem alle anderen Wege
zu messen wären" (ebd.),
ist angesichts der unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Akteure
inzwischen unbestritten.
Für größere Ansicht (740px) und »sehr
große Ansicht bitte an*klicken*tippen!
(Von
ziegelbrenner (Diskussion · Beiträge) - Eigenes Werk, source of
Information:
Putzger – Historischer Weltatlas, 89. Auflage, 1965, CC BY 2.5,
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3537675
)
Für die innere und äußere Konsolidierung der vergleichsweise jungen Territorialstaaten
nach dem Ende des ▪
Dreißigjährigen Krieges (1618-48) war es
unerlässlich, "Individuen und Gruppen mit
Sonderrechten in den als homogen begriffenen Untertanenverband einzufügen."
(Schilling
1987, S.155)
Und dieses Ansinnen war in einer Gesellschaft, die sich
durch ihre "bunte Vielfalt von sozialen Gruppen eigenen Rechts und
besonderer Lebensführung" (ebd.,
S.148) auszeichnete, nicht gerade einfach:
-
Adelige und andere
Privilegierte pochten auf ihre traditionellen Sonderrechte.
-
Kaufleute und Handwerker,
die in den zahlreichen unabhängigen Städten lebten, wollten sich auf der
Grundlage ihrer errungenen wirtschaftlichen Bedeutung, nicht von einem
Landesherrn hereinreden lassen.
-
Viele Bauern, die in
räumlich abgelegenen Gegenden lebten, regelten ihr Miteinander nach
ihren eigenen Regeln.
-
Die große Zahl der
Hirten, Schäfer und einfachen herumziehenden Personen, fühlten sie wohl
ohnehin niemandem untertan. (vgl.
ebd.)
Auf dem Weg zur
Untertanengesellschaft musste aus der "vielgestaltigen und nur locker
organisierten Gesellschaft des Mittelalters [...] mit ihrer abgestufte(n)
Teilhabe an ursprünglichen Herrschaftsrechten" ein einheitlicher
Untertanenverband werden, in dem alle "ohne Ausnahme der höchsten
Staatsgewalt – dem Fürsten also – untertan sein und keine eigenen, sondern
nur delegierte Hoheitsrechte ausüben sollten, die ihnen die Staatsgewalt
übertrug. Das bedeutete politisch und administrativ, dass der Fürstenstaat
jeden einzelnen Bewohner des Territoriums direkt zu erfassen suchte mit
Vorschriften und Verordnungen, mit öffentlichen Lasten und
Steuerforderungen. Es spielte keine Rolle, ob der Untertan einer adeligen
oder kirchlichen Herrschaft oder einem städtischen Bürgerverband angehörte.
Privilegien und Partikularinteressen von Klerus, Adel und
Stadtbürgertum galt es abzuschleifen zugunsten eines vom Fürsten und seiner
Bürokratie festgesetzten einheitlichen Staatsinteresses." (Schilling
1994, S.365f.)
Alles, was für uns heute der
Staat so selbstverständlich im Bereich von Politik, Gesellschaft und
Wirtschaft "reguliert", musste also zunächst einmal der landesherrlichen "Policey"
unterworfen werden und das, wenn möglich, nicht nur auf der oberen Ebene des
landesherrlichen Regiments sondern auch auf der lokalen Ebene. Und natürlich
war auch der Weg zu einer absoluten Herrschaft eines fürstlichen Souveräns
nach innen und außen gewöhnlich eine langwierige Angelegenheit und ging
zunächst einmal "über die Verwaltung und das Verwaltungsrecht, das
Policeyrecht, wie es in der Sprache der Zeit hieß." (Schilling
1994a, S.137)
So wurde also zunächst die »Policeygesetzgebung« der Motor
und Gradmesser für den Aufbau einer effektiven und rationalen
Gesichtspunkten verpflichteten Verwaltung und Kontrolle des Territoriums und
seiner Bewohner*innen.
Auf dem Weg dahin mussten
über eine lange Zeit eine
Vielzahl
von Verordnungen erlassen und für ihre Durchsetzung gesorgt werden, die tief
in das Leben der Menschen eingegriffen und das neue Verhältnis von Untertan
und Staat stabilisierten. Von heute auf morgen jedenfalls war das nicht zu
schaffen und dazu noch stets von den tatsächlich vorhandenen Macht- und
Herrschaftsressourcen abhängig, mit denen die Fürsten oder andere
Herrschaftsträger den ihnen jeweils gegebenen Gestaltungsrahmen nutzen und
ausfüllen konnten.
Ein Beispiel für solche
Verordnungen ist die
»Polizeiordnung
der Gräfin »Anna
von Ostfriesland (1562-1621) aus dem Jahr 1545. Sie kann
verdeutlichen, welche Bereiche des Lebens zu regulieren, sich die die neuen
staatlichen Gewalten vorgenommen haben und bei Verstößen gegen die Regeln
mit entsprechenden Sanktionen zu ahnden hatten:
"Nachdem alle Obrigkeit zum
Beschirmen der Frommen und zum Strafen der Übeltäter von Gott verordnet ist,
damit ihre Gemeinde und Untertanen in der Furcht des Herrn gelehrt, in guter
Zucht erhalten, mit Gerechtigkeit, guter Ordnung und Polizei stets gut
regiert werden, haben wir darauf zu achten, dass die schweren Laster der
Gotteslästerung, des Fluchens, Spielens, des Zu- und Volltrinkens, Tag und
Nacht in Wirtshäusern Liegens sowie der Prunksucht in der Kleidung, was Weib
und Kind sowie den Mann selbst an den Bettelstab bringt, dazu Streit und
blutige Schlägereien, Ehebruch, Kuppelei und Hurerei, Wucher und alle
anderen Bosheiten, von denen die Welt nun leider voll ist, nicht ungestraft
bleiben, um des gemeinen Friedens und der Ordnung willen, sonderlich aber
weil es Gott dem Allmächtigen zuwider und sein heiliges Wort dadurch
geschmähet wird." (zit. n.
Schilling
1987, S.147, bzw.
1994, S.314)
Die in den zahlreichen
Policey- und Zuchtordnungen, den staatlich-kirchlichen Regelungen der
allgemeinen Sitten und christlicher Moral, niedergelegten Regelungen und ihre
Sanktionierung durch die staatliche Gewalt kann man als ▪
soziale Disziplinierung der frühneuzeitlichen
Gesellschaft beschreiben. Dabei wird bei unterschiedlicher Akzentuierung
der Konzepte die zunehmende "Selbstdisziplinierung des Einzelnen und die von
den staatl. Eliten angeleitete Disziplinierung von Adel, Ständen, Hof
(Zeremoniell), Bürokratie (Leistungsprinzip), Militär (Drill) und
Untertanen" als eine Entwicklung verstanden, bei der beide Komponenten
"in einem zielgerichteten, säkularen Prozess der Umformung zusammen(wirkten)".
(Holenstein 2013)