Wolfgang Borchert,
Mein bleicher Bruder
Noch
nie war etwas so weiß wie dieser Schnee. Er war beinah blau davon.
Blaugrün. So fürchterlich weiß. Die Sonne wagte kaum gelb zu sein von
diesem Schnee. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber gewesen wie
dieser. Nur hinten stand ein dunkelblauer Wald. Aber der Schnee war neu
und sauber wie ein Tierauge. Kein Schnee war jemals so weiß wie dieser
an diesem Sonntagmorgen. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber. Die
Welt, diese schneeige Sonntagswelt, lachte.
Aber
irgendwo gab es dann doch einen Fleck. Das war ein Mensch, der im Schnee
lag, verkrümmt, bäuchlings, uniformiert. Ein Bündel Lumpen. Ein lumpiges
Bündel von Häutchen und Knöchelchen und Leder und Stoff. Schwarzrot
überrieselt von angetrocknetem Blut. Sehr tote Haare, perückenartig tot.
Verkrümmt den letzten Schrei in den Schnee geschrien, gebellt oder
gebetet vielleicht: Ein Soldat. Fleck in dem niegesehenen Schneeweiß der
saubersten aller Sonntagmorgende. Stimmungsvolles Kriegsgemälde,
nuancenreich, verlockender Vorwurf für Aquarellfarben: Blut und Schnee
und Sonne. Kalter kalter Schnee mit warmem dampfendem Blut drin. Und
über allem die liebe Sonne. Unsere liebe Sonne. Alle Kinder auf der Welt
sagen: die liebe, liebe Sonne. Und die bescheint einen Toten, der den
unerhörten Schrei aller toten Marionetten schreit: Den stummen
fürchterlichen stummen Schrei. Wer unter uns, steh auf bleicher Bruder,
oh, wer unter uns hält die stummen Schreie der Marionetten aus, wenn sie
von den Drähten abgerissen so blöde verrenkt auf der Buhne rumliegen?
Wer, oh, wer unter uns erträgt die stummen Schreie der Toten? Nur der
Schnee hält das aus, der eisige. Und die Sonne. Unsere liebe Sonne.
Vor
der abgerissenen Marionette stand eine, die noch intakt war. Noch
funktionierte. Vor dem toten Soldaten stand ein lebendiger. An diesem
sauberen Sonntagmorgen im niegesehenen weißen Schnee hielt der Stehende
an den Liegenden folgende fürchterlich stumme Rede:
Ja.
Ja ja. Ja ja ja. Jetzt ist es aus mit deiner guten Laune, mein Lieber.
Mit deiner ewigen guten Laune. Jetzt sagst du gar nichts mehr, wie?
Jetzt lachst du wohl nicht mehr, wie? Wenn deine Weiber das wüssten, wie
erbärmlich du jetzt aussiehst, mein Lieber. Ganz erbärmlich siehst du
ohne deine gute Laune aus. Und in dieser blöden Stellung. Warum hast du
denn die Beine so ängstlich an den Bauch rangezogen? Ach so, hast einen
in die Eingeweide gekriegt. Hast dich mit Blut besudelt. Sieht
unappetitlich aus, mein Lieber. Hast dir die ganze Uniform damit
bekleckert. Sieht aus wie schwarze Tintenflecke. Man gut, dass deine
Weiber das nicht sehn. Du hattest dich doch immer so mit deiner Uniform.
Saß alles auf Taille. Als du Korporal wurdest, gingst du nur noch mit
Lackstiefeletten. Und die wurden stundenlang gebohnert, wenn es abends
in die Stadt ging. Aber jetzt gehst du nicht mehr in die Stadt. Deine
Weiber lassen sich jetzt von den andern. Denn du gehst jetzt überhaupt
nicht mehr, verstehst du? Nie mehr, mein Lieber. Nie nie mehr. Jetzt
lachst du auch nicht mehr mit deiner ewig guten Laune. Jetzt liegst du
da, als ob du nicht bis drei zählen kannst. Kannst du auch nicht. Kannst
nicht mal mehr bis drei zählen. Das ist dünn, mein Lieber, äußerst dünn.
Aber das ist gut so, sehr gut so. Denn du wirst nie mehr «Mein bleicher
Bruder Hängendes Lid» zu mir sagen. Jetzt nicht mehr, mein Lieber. Von
jetzt ab nicht mehr. Nie mehr, du. Und die andern werden dich nie mehr
dafür feiern. Die andern werden nie mehr über mich lachen, wenn du «Mein
bleicher Bruder Hängendes Lid» zu mir sagst. Das ist viel wert, weißt
du? Das ist eine ganze Masse wert für mich, das kann ich dir sagen. Sie
haben mich nämlich schon in der Schule gequält. Wie die Läuse haben sie
auf mir herumgesessen. Weil mein Auge den kleinen Defekt hat und weil
das Lid runterhängt. Und weil meine Haut so weiß ist. So käsig. Unser Blässling sieht schon wieder so müde aus, haben sie immer gesagt. Und
die Mädchen haben immer gefragt, ob ich schon schliefe. Mein eines Auge
wäre ja schon halb zu. Schläfrig, haben sie gesagt, du, ich wär
schläfrig. Ich möchte mal wissen, wer von uns beiden jetzt schläfrig
ist. Du oder ich, wie? Du oder ich? Wer ist jetzt «Mein bleicher Bruder
Hängendes Lid»? Wie? Wer denn, mein Lieber, du oder ich? Ich etwa?
Als er
die Bunkertür hinter sich zumachte, kamen ein Dutzend graue Gesichter
aus den Ecken auf ihn zu. Eins davon gehörte dem Feldwebel. Haben Sie
ihn gefunden, Herr Leutnant? fragte das graue Gesicht und war
fürchterlich grau dabei.
Ja.
Bei den Tannen. Bauchschuss. Sollen wir ihn holen?
Ja.
Bei den Tannen. Ja, natürlich. Er muss geholt werden. Bei den Tannen.
Das
Dutzend grauer Gesichter verschwand. Der Leutnant saß am Blechofen und
lauste sich. Genau wie gestern. Gestern hatte er sich auch gelaust. Da
sollte einer zum Bataillon kommen. Am besten der Leutnant, er selbst.
Während er dann das Hemd anzog, horchte er. Es schoss. Es hatte noch nie
so geschossen. Und als der Melder die Tür wieder aufriss, sah er die
Nacht. Noch nie war eine Nacht so schwarz, fand er. Unteroffizier
Heller, der sang. Der erzählte in einer Tour von seinen Weibern. Und
dann hatte dieser Heller mit seiner ewig guten Laune gesagt: Herr
Leutnant, ich würde nicht zum Bataillon gehn. Ich würde erst mal
doppelte Ration beantragen. Auf Ihren Rippen kann man ja Xylophon
spielen. Das ist ja ein Jammer, wie Sie aussehn. Das hatte Heller
gesagt. Und im Dunkeln hatten sie wohl alle gegrinst, Und einer musste
zum Bataillon. Da hatte er gesagt: Na, Heller, dann kühlen Sie Ihre gute
Laune mal ein bisschen ab. Und Heller sagte: Jawohl. Das war alles. Mehr
sagte man nie. Einfach: Jawohl. Und dann war Heller gegangen. Und dann
kam Heller nicht wieder.
Der
Leutnant zog sein Hemd über den Kopf. Er hörte, wie sie draußen
zurückkamen. Die andern. Mit Heller. Er wird nie mehr «Mein bleicher
Bruder Hängendes Lid» zu mir sagen, flüsterte der Leutnant. Das wird er
von nun an nie mehr zu mir sagen. Eine Laus geriet zwischen seine
Daumennägel. Es knackte. Die Laus war tot. Auf der Stirn – hatte
er einen kleinen Blutspritzer.
(aus: Wolfgang
Borchert, Das Gesamtwerk, Hamburg: Rowohlt 1949/2009, S.204-207)
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