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Noras
Beziehung zu
Helmer ist bis zu
ihrer Abrechnung mit ihm in der "Schlussszene"
des Dramas (III,5) auf das Konzept der unbedingten Liebe
gegründet. Diese unbedingte, geradezu bedenkenlose Liebe Noras zu
ihrem Ehemann findet ihren Ausdruck in ihrem zwar gesetzeswidrigen,
aber einer höheren Legitimität verpflichteten Fälschen der
Unterschrift für das Darlehen von Krogstad, das ihrem Mann mit dem
dadurch möglichen Aufenthalt im Süden das Leben rettet. (vgl. I.
Akt, S.17 ff.)
Dabei ist Nora, wie viele andere Figuren in Henrik
Ibsens Stücken ab 1877 keineswegs eine Person, die nur nach solchen
Idealen handelt. Ihre Überzeugungen von der Legitimität ihres
Handelns bei der Urkundenfälschung und ihr Glaube an das
"Wunderbare" kontrastieren mit ihrem Streben nach sozialem Status,
ihrer Unempfindlichkeit gegenüber der leidvollen Lebensgeschichte
Christine Lindes, ihrer Kälte und Gleichgültigkeit
gegenüber dem Schicksal anderer Menschen wie
Krogstad und dessen Kindern und ihrem koketten Spiel mit
Rank,
mit dem sie sich von Krogstad freizukaufen hofft. Insofern werden
auch ihre scheinbar rein idealistischen Antriebe im Laufe des
Stückes desavouiert und Nora als scheinbar ideal motivierte Figur
demaskiert. (vgl.
Haugan 1977, zit. n.:
Keel 1990, S.66f.)
(vgl. Text 5)
Der Glaube an die Legitimität ihres Handelns bei der Jahre
zurückliegenden Urkundenfälschung ist für sie unerschütterlich und
lässt auch lange Zeit keinen Zweifel an der Legalität ihres Handelns
aufkommen. Krogstad muss sogar in seinem Gespräch mit Nora, indem er
ihr seine erpresserischen Absichten eröffnet, einige
Überzeugungskunst aufbringen, um Nora die grundsätzliche
Strafwürdigkeit ihrer Urkundenfälschung einsichtig zu machen (vgl.
I. Akt, S. 34 f.). Dennoch hält sie an der Legitimität ihres
Handelns fest, das als „eine mutige Tat“ einen Vergleich mit der von
Krogstad selbst begangenen Urkundenfälschung aus niederen
Beweggründen von vornherein verbietet (vgl. 35). Nora sieht in ihrer
„mit einer geradezu rührenden Plumpheit und Unvorsichtigkeit“
(Löwenthal 1936, zit. n.
Keel 1990, S.61)
vorgenommenen Wechselfälschung keinen Straftatbestand, bis Helmer
sie wenig später im Zusammenhang mit seiner Beurteilung der Vergehen
Krogstads nachdenklicher macht (vgl. S. 38). In dem erwähnten
Gespräch mit dem Juristen (!) Krogstad will sie sich sogar mit einem
etwas naiven, „aus dem Bauch heraus“ formulierten Gefühl behaupten,
als sie gegen mögliche strafrechtliche Konsequenzen ihrer Tat
vorbringt: „Ich kenne die Gesetze nicht so genau; aber ich bin
sicher, irgendwo steht drin, dass so etwas erlaubt ist.“ (I. Akt, S.
35 Z 22ff.) Dabei tut es eigentlich nicht viel zur Sache, dass die
Drohung mit dem Richter, so wie sie von Krogstad vorgetragen wird,
wohl kaum ernsthafte Folgen für Nora gehabt hätte, „da jeder Richter
hervorheben würde, dass sie nur formell gefehlt“ habe (Frenzel
1881, zit. n.
Keel 1990, S.51)(vgl.
Text 4). Erst nach und nach gewinnt Nora im Verlauf der
weiteren Dramenhandlung ein Verständnis von ihrer Schuld, die
erstmals im Gespräch mit Christine Linde nach Krogstads zweitem
Besuch (II. Akt, S.58-61) offen von ihr angesprochen wird. Da sie
schon eindeutig mit dem Gedanken an Selbstmord spielt, weiht sie
ihre alte Schulfreundin in die ganze Wahrheit ein und verlangt von
ihr für den Fall, dass ihr selbst in der allernächsten Zeit etwas
zustoße, Zeugnis davon zu geben, dass sie sich ihr gegenüber zu
ihrer Alleinverantwortung für diese Tat bekannt und eine
Mitwisserschaft Helmers ausgeschlossen habe (vgl. II. Akt, S. 62).
Ohne ihrer erstaunten Gesprächspartnerin die tatsächlichen
Beweggründe für diese Bitte auseinanderzusetzen, spricht Nora im
beinahe gleichen Atemzug davon, dass nun „das Wunderbare“ geschehen
werde. (ebd., Z 31) Da sie das Wunderbare aber zugleich als so
„entsetzlich“ qualifiziert, dass es „um keinen Preis der Welt“
geschehen dürfe, (ebd., Z 34f.) wirkt das „Wunderbare“ wie ein
Widerspruch in sich, geradezu paradox. Und doch ist diese Paradoxie
der Schlüssel zu seinem Verständnis. Das „Wunderbare“ ist in der vor
Nora liegenden Zukunft das bloß Gedachte, Erwünschte oder Erträumte,
das aufgrund des ins Auge gefassten Selbstmordes allerdings
überhaupt nicht Wirklichkeit werden kann. Als reine
Wunschvorstellung besagt es im Kontext der unmittelbar folgenden
Dramenhandlung nichts anderes, als die felsenfeste Überzeugung
Noras, ihr Mann Helmer werde im Fall der öffentlichen Aufdeckung des
Unterschriftenschwindels alles auf sich nehmen und erklären: „Ich
bin der Schuldige!“ (III. Akt, S. 92 Z 7f.)
Das
Motiv des Wunderbaren
stellt dabei eine Mystifikation der Prinzipien unbedingter Liebe
dar, wie Nora sie versteht. Wie sie im Anschluss an „Helmers
allgemeines Selbstlob“ (Bänsch
1998, S. 56), er sei in einer Extremsituation „Manns,
genug alles“ auf sich zu nehmen (II. Akt. S.50 Z 23), betont, gehört
dazu die Bereitschaft, wirklich „alles andere“ (II. Akt, S. 51),
sogar das eigene Leben, für den geliebten Partner hinzugeben, wenn
es nötig ist. Nora ist mit ihrer Entscheidung in den Tod zu gehen
bereit, diesem „Lebens- und Liebesmodell“ (Bänsch 1998, S. 56)
konsequent zu folgen.
Dazu braucht es für Nora kein längeres Überlegen. Weil sie von
Krogstad erpresst wird (vgl. I. Akt, S.31 Z 33 und S. 35 Z 30f.),
bemüht sich Nora, allerdings vergeblich, Helmer zu einer Rücknahme
der Entlassung Krogstads zu bewegen. Weder ihr Hinweis darauf, dass
Krogstad als „Mitarbeiter der übelsten Zeitungen“ (II. Akt, S.48)
der weiteren Karriere ihres Mannes schaden, noch die in gewissem
Sinne ihre späteren Selbstmordabsichten vorwegnehmende Äußerung:
„Ich habe eine so tödliche Angst vor ihm -“ (ebd. Z 6f.) geben
Helmer zu denken, der ja über die wahren Hintergründe dieser Angst
nicht Bescheid weiß. Als Helmer allen Einwänden seiner Frau zum
Trotz oder unter Umständen gerade deshalb, das Hausmädchen anweist,
Krogstad die Entlassung zu überbringen (II. Akt, S.49f.), steigert
sich Nora in Erwartung des kommenden Unheils in eine Flut
verzweifelter Bitten hinein, die Helmer, noch immer ohne Verständnis
für die Ängste seiner Frau, mit verletzter Eitelkeit kokettierend
zur Selbstinszenierung seiner Männlichkeit nutzt. Dass er Nora
zugleich umarmt, unterstreicht dabei den patriarchalischen Gestus
des nur vordergründig gespendeten Trostes. Mit seiner von oben herab
ausgesprochenen Verzeihung deutet er das gerade noch als Beleidigung
seiner Männlichkeit disqualifizierte Eintreten Noras für Krogstad
als Ausdruck ihrer „großen Liebe“ zu ihm um. Am Ende krönt Helmer
seine Selbstinszenierung mit seiner für Noras Verhalten
folgenschweren Äußerung: „Mag kommen, was da will. Wenn es drauf
ankommt, glaub mir, habe ich Mut und Kraft. Du wirst sehen, ich bin
Manns genug, alles auf mich zu nehmen.“ (II. Akt, S. 50 Z 21 – 23)
Mit dieser Aussage bringt er, ohne es zu wissen, die Dynamik von
Wunderbaren und Entsetzlichem in Gang, die Noras Verhalten in der
folgenden Dramenhandlung bestimmt.
Nora zeigt sich in der Reaktion auf Helmers Äußerung für einen
Moment „starr vor Schrecken“, wie der
Nebentext
ausdrücklich vorgibt, erklärt aber gleich danach fest und bestimmt:
„Das sollst du nie und nimmer.“ (ebd. Z 26) Doch kaum ist sie für
einen Moment allein, bricht aus ihr hervor, was sie so in Schrecken
versetzt hat: Sie nimmt Helmers Selbstinszenierung für bare Münze,
sieht in ihr sein klares Bekenntnis zu ihrem Liebes- und
Lebensmodell der unbedingten Liebe. Doch ganz entgegen aller
Erwartungen erlebt Nora gerade dies nicht als positiv, sondern als
Quelle einer übergroßen Angst und Verwirrung. Sie „steht wie
angewurzelt da“, wirkt „vor Angst verstört“ und „flüstert“ - aller
naturalistischer Abneigung gegen den Monolog zum Trotz! - vor sich
hin, um sich die Tragweite der Äußerungen Helmers für ihr Problem
mit der Urkundenfälschung klar zu machen. Nicht die Spur eines
Zweifels rührt sich in ihr, als sie mit einer Reihe von meist
elliptischen
„Ausrufen“ einen Ausweg aus dieser Lage sucht. In ihren Gedanken
unterbrochen durch die Ankunft Dr. Ranks bringt sie am Ende gerade
noch die folgenschwere Aussage hervor „Lieber alles andere, was es
auch sein mag!“ (II. Akt, S. 51 Z 7) Auch hier lässt die textliche
Hervorhebung des
Indefinitpronomens
„alles“ (h: kursiv) keinen Zweifel daran, dass sie selbst den
eigenen Tod in ihre Überlegungen mit einbezieht.
Ganz bewusst sorgt Ibsen mit dem nachfolgenden Gespräch von Nora und
Dr. Rank dafür, dass das Motiv des Todes weitergeführt und sogar
eines der zentralen Themen des Gesprächs wird. So reicht zu Beginn
eine bloße Andeutung Ranks aus („Das werde ich mir zunutze machen,
solange ich kann.“ II. Akt, S.51 Z 18f.) um Nora, die offenbar noch
immer von der kurz zuvor ausgesprochenen Konsequenz aufgewühlt ist,
erneut zu erschrecken. Auch wenn sie kurz darauf erleichtert zur
Kenntnis nimmt, dass nicht von ihrem möglichen Selbstmord, sondern
von Ranks krankheitsbedingtem Ende die Rede ist, halten die
drastischen Worte („In einem Monat lieg ich vielleicht schon für die
Würmer auf dem Friedhof.“ ebd. Z 34ff.) und die sachlich-nüchternen
Vorkehrungen Ranks für den Fall seines Todes sowie der
ironische Ton des
Geplauders über die Ursachen seines Todes den Gedanken an den
Selbstmord in Nora unterschwellig wach. Nora, die sich in dieser
Phase des Dialogs als Stichwortgeberin eines von dem Todesthema
ablenkenden Geplauders zeigt, reagiert impulsiv erneut mit Angst,
als Rank apodiktisch erklärt: „Die Toten sind bald vergessen.“ (II.
Akt, S.53 Z 13ff.) Für einen Moment bringt sie, ähnlich wie zu
Beginn ihres Gesprächs mit Dr. Rank, durcheinander, worum es geht,
als sie hinter dessen Äußerung mit dem indefiniten „man“ („Man
knüpft neue Verbindungen an, und dann -“ ebd. Z 15) für einen kurzen
Monat offenbar an Helmers weiteres Leben nach ihrem Tod denkt.
Bei ihrem zweiten Treffen mit Krogstad (II. Akt, S. 58-61) kommen
Noras Absichten, sich selbst das Leben zu nehmen, mehr oder weniger
direkt zur Sprache. Krogstad, der Noras selbst den Selbstmord in
Betracht ziehende Verzweiflung klar erkennt, weil er sich selbst
schon einmal in einer ähnlichen Situation befunden hat, ist es, der
Nora vor einer solchen „Dummheit“ (II. Akt, S. 60 Z 4) aus purem
Eigennutz warnt. Ohne Nora als mögliche Angeklagte vor Gericht, so
glaubt er offenkundig, kann er sein Ziel, Helmer nun direkt mit der
Wahrheit zu erpressen und binnen Jahresfrist selbst die Leitung der
von Helmer geführten Aktienbank zu übernehmen, nicht erreichen (vgl.
II. Akt, S. 60 Z 33f.) Da Krogstad zuvor schon mit seiner
Verweigerung, den Schuldschein auch im Falle einer vorzeitigen
Begleichung der Restschuld herauszugeben, jede Hoffnung auf eine
andere Lösung zunichte gemacht hat (II. Akt, S.59 Z 18ff.), treibt
er Nora mit seinen überzogenen Forderungen nun dazu, ihre noch wenig
zuvor eingestandene Furcht vor der letzten Konsequenz (ebd. S.
59/60) zu überwinden. Als sie Krogstad dies zu verstehen gibt,
glaubt er nicht daran und verhöhnt sie. „Eine feine, verwöhnte Dame“
wie Nora, die wisse, was man zu tun habe, gehe nicht „hinein in das
schwarze kalte Wasser […] Um dann im Frühling ans Ufer gespült zu
werden, hässlich, unkenntlich, mit ausgefallenem Haar“ (II. Akt,
S.61 Z 2ff.). Sein Hinweis, dass er Helmer auch nach ihrem
Selbstmord weiter in der Hand habe, weil ihr Vergehen auch in einem
solchen Fall zwar ohne weitere strafrechtliche Folgen bliebe, aber
dennoch ihren und vor allem Helmers guten Ruf zerstören würde, macht
Nora „sprachlos“ (ebd. Z 15). Zu einer grundsätzlichen Änderung
ihres Vorhabens ist sie dadurch allerdings nicht zu bewegen, mehr
noch: Selbst diese Folgen muss sie letzten Endes akzeptieren, da sie
an ihrem Glauben festhält, dass Helmer ihr Konzept der unbedingten
Liebe teilt. So ist sie sich, nachdem Krogstad beim Verlassen des
Hauses seinen Brief an Helmer in den Briefkasten geworfen hat, ihrer
und Helmers Lage sichtlich bewusst, als sie vor dem Briefkasten
stehend ausruft: „Torvald, Torvald – jetzt sind wir verloren!“ (ebd.
Z 32, Hervorhebung d. Verf.)
In dieser Lage besinnt sie sich auf ihr Lebens- und Liebeskonzept
der unbedingten Liebe, das ihr die Verbindung von „Wunderbarem“ und
„Entsetzlichem“ überhaupt erst erträglich zu machen scheint. Der
nachfolgende ungestüme Tanz der Tarantella, der einen Zustand
„äußerster Bedrohung“ ausdrückt und zugleich ein Mittel darstellt,
„gegen diese Bedrohung, gegen Angst und Tod zur eigenen Rettung
anzutanzen“ (Bänsch
1998, S. 53), zeigt die enge Verknüpfung von Liebe und
Tod mit einer inneren Dynamik, die Nora in dieser grotesk anmutenden
Szene offensichtlich ausagieren muss. Erst im Anschluss daran
gewinnt das „Entsetzliche“ (II. Akt, S.58 Z 1) jene konkrete
Gestalt, die Nora die verbleibenden 31 Stunden bis zum selbst
gewählten Tod beziffern lässt. Ihr Selbsttötungsgedanke gewinnt
damit die Form eines genauen Plans. (II. Akt, S. 67 Z 19)
Als Nora tags darauf nach dem erneuten Tanzen der Tarantella auf dem
Kostümfest bei Konsul Stenborg zurückkehrt, trifft sie auf Christine
Linde. Diese hat sich bei Krogstad ganz entgegen ihrer bekundeten
Absicht dafür eingesetzt, dass Krogstad seinen Plan, den Brief noch
rechtzeitig vor dem Öffnen von Helmer zurückzufordern, aufgegeben
hat. Als sie Nora mitteilt, dass der Brief weiterhin im Kasten
liegt, ist Nora entschlossen, in den Tod zu gehen („ich weiß nun,
was zu tun ist.“ II. Akt, S. 74 Z 30). Im Gespräch, das Nora und
Helmer nach dem Abschiedsbesuch von Rank führen, bekennt sich Helmer
noch einmal zum Konzept der bedingungslosen Liebe, auch wenn es ihm
in dieser Situation taktisch nur darum geht, Nora von ihren Gedanken
an den sich zum Sterben zurückziehenden Rank abzubringen, um sie in
dieser Nacht noch verführen zu können. Mit großer Attitüde bringt er
vor: „Weißt du Nora – manchmal wünsch ich, es möchte dir eine
wirkliche Gefahr drohen, damit ich Leib und Leben, alles für dich
aufs Spiel setzen kann.“ (III. Akt, S. 81 Z 2ff.) Nora, die darin
erneut die Ankündigung des „Wunderbaren“ sieht, fordert ihn
daraufhin „stark und bestimmt“ auf, seine Briefe zu lesen. Als sie
ihn umarmt („Nora. (an seinem Hals)“ , ebd. Z. 16) – Helmer küsst
sie lediglich auf die Stirn ! – nimmt sie Abschied von Helmer, wie
sie meint: für immer. Kaum hat sich Helmer mit den Briefen in sein
Zimmer zurückgezogen, macht sie sich hastig und verwirrt fertig, um
sich selbst im eiskalten Wasser umzubringen. (ebd. Z 25f.) Doch in
dem Moment, in dem sie das Haus verlassen will, kehrt Helmer völlig
entrüstet zurück, stellt sich ihr in den Weg und fordert Aufklärung.
Die spätere Wandlung Noras und damit die überraschende Wendung des
Dramas von der Selbsttötungsabsicht Noras hin zu dem in der frühen
Wirkungs- und Aufführungsgeschichte so heftig umstrittenen, rational
begründeten Verlassen von Ehemann und Kindern (vgl.
Text 3) ist dramaturgisch
gesehen also einem Zufall geschuldet: Hätte Helmer am Abend nach dem
Kostümfest einen Moment später den Brief Krogstads gelesen, hätte
das Drama einen gänzlich anderen Verlauf nehmen müssen.
Nora, die mit ihrem Selbstmord ja das Eintreffen des Wunderbaren
verhindern will, erklärt, dass der Brief Krogstads die Wahrheit
enthält. Zugleich aber macht sie ihrem Mann klar, dass sie nicht von
ihm gerettet werden wolle. Sie will weiterhin fort und gibt in ihrem
Glauben an die unbedingte Liebe Helmers unmissverständlich zu
verstehen: „Du sollst es nicht für mich tragen. Du sollst es nicht
auf dich nehmen.“ (III. Akt, S.82 Z 13ff.) Helmers barsche Antwort
und besonders das Verschließen der Tür durch ihn, setzt Noras Plänen
ein Ende. Völlig erstarrt muss sie Beschimpfungen Helmers über sich
ergehen lassen, die ihr nach und nach die Augen öffnen. Als sie nach
einer Weile des Schweigens einwirft: „Wenn ich nicht mehr bin, so
bist du frei.“ (III. Akt, S. 83 Z 7) hat sie ihren Glauben an das
Wunderbare schon verloren. Um so vernichtender für sie, dass Helmer
selbst den „Opfertod“ seiner Frau unter einem rein egoistischen
Blickwinkel abtut. Die Vorstellung von einem gemeinsamen Lebens- und
Liebeskonzept geht damit für Nora endgültig in die Brüche und der
Weg wird frei zu einer neuen Erkenntnis. Als Nora auf die
inquisitorische Frage Helmers, ob sie nun begreife, was sie ihm
angetan habe, „mit kalter Ruhe“ ein schlichtes Ja zur Antwort gibt
(III. Akt, S.83), hat sie erkannt, dass Helmer nicht der Mann ist,
für den sie ihn acht Jahre lang gehalten hat (ebd. S. 91 Z 27f.).
Die im Anschluss daran folgende „Abrechnung“ Noras mit Helmer (ebd.,
S. 86 – 94) ist die logische, wenngleich auch etwas überraschende
Konsequenz, die Nora daraus zieht. Ob man sich diese Wandlung Noras
daher als eine „logische Folge von Emotionen“ vorstellen will oder
nicht, oder ob man darin trotz aller konkreten Motivierung mehr die
„lebensphilosophische Begründung“ als die „erfahrungsnahe
psychologische Schlüssigkeit“ sieht (vgl.
Bänsch 1998, S.49),
ist in diesem Zusammenhang wohl eher von untergeordneter Bedeutung.
Die Abrechnung Noras mit Helmer treibt jedenfalls gegen Ende auf die
alles entscheidende Frage zu, hinter der Helmer die letztlich einzig
prinzipiell akzeptable Erklärung für Noras Entscheidung, ihn und die
Kinder zu verlassen, vermutet. „Du liebst mich nicht mehr“, stellt
er fest und erntet sofort Zustimmung. Noras klare Antwort: „Ich
liebe dich nicht mehr.“ (III. Akt, S.91 Z 15/19) ist zugleich das
Erste und vielleicht Einzige, was Helmer im Zuge dieser Abrechnung
wirklich trifft. Während er alle anderen Vorhaltungen und Argumente
Noras abtut und Nora persönlich abwertet („ich glaube fast, du hast
den Verstand verloren.“ ebd. Z 6f.), ringt er in dieser Situation
erstmals mit seiner Fassung und will wissen, wodurch er sich Noras
Liebe „verscherzt habe“? (ebd. Z 25) In ihrer Antwort darauf
verweist Nora auf das Wunderbare, das weder in den vergangenen acht
Ehejahren zuvor, noch in der augenblicklichen Notlage eingetreten
sei. Und nachdem sie ihm erklärt hat, welche Erwartungen sie im
Hinblick auf sein Verhalten gehabt hat, erklärt sie: „Das war das
Wunderbare, worauf ich mit Schaudern hoffte. Und um das zu
verhindern, wollt’ ich meinem Leben ein Ende machen.“ (ebd. S.92 Z
12ff.) Und während sie Helmer damit ihr Konzept der unbedingten
Liebe noch einmal erläutert, hält dieser in seiner Replik darauf
noch einmal fest, dass für ihn die Ehre, seine bürgerliche Existenz,
gegenüber allem anderen den Vorrang hat („Aber niemand opfert der,
die er liebt, seine Ehre.“ ebd. Z 17f.) Nora benennt Helmer
daraufhin genau den Punkt im vorangegangenen Gespräch, an dem sie
sich über ihn und sich klar geworden sei, nämlich als er nach dem
überraschenden Erhalt des Schuldscheins ohne das geringste Gespür
für das Geschehene zur Tagesordnung im „Puppenheim“ habe übergehen
wollen. Nora steht auf und gewinnt damit auch von ihrer Statur her
gesehen gegen den ihr am Tisch gegenüber sitzenden Helmer die
persönliche Größe, die sie braucht, um Helmer die ganze Tragweite
ihrer Erkenntnis entgegenzuschleudern: „- in diesem Augenblick wurde
mir klar, dass ich hier acht Jahre lang mit einem fremden Mann
zusammengelebt“ habe. (ebd. Z 30ff.) Daraus spricht die
sachlich-nüchterne Erkenntnis über den Verlauf ihrer Ehe ebenso wie
die bittere Enttäuschung über Helmer. Doch darüber hinaus wird darin
auch eine Haltung sichtbar, die die Schuld an dieser Entwicklung
nicht allein ihm gibt, sondern ihrem eigenen starren Festhalten an
einem Liebes- und Lebenskonzept, das sich mit der in der
bürgerlichen Gesellschaft (der Männer) geltenden Wertehierarchie
nicht vereinbaren lässt. Daher richtet sich ihre Enttäuschung über
das ganze Chaos ihrer Liebe auch gegen sich selbst, als sie sagt:
„Ich könnte mich selbst in Stücke reißen.“ (ebd. Z 33 f.)
Als sie von Helmer kurz vor ihrem endgültigen Weggehen gefragt wird,
ob er ihr gegenüber nun immer ein Fremder bleiben werde, bejaht Nora
dies indirekt mit dem Hinweis, dass andernfalls „das Wunderbarste
geschehen“ müsste, das sie mit den folgenden Worten erläutert: „Dann
müssten wir beide, du und ich, uns so verändern, dass […] ein
Zusammenleben zwischen uns beiden eine Ehe werden könnte.“ (III.
Akt, S. 94 Z 19f./27ff.) In der Steigerung vom „bloß“ Wunderbaren
zum Wunderbarsten drückt sich zugleich die Unmöglichkeit einer
solchen Wendung in der Zukunft aus. Denn das Konzept der unbedingten
Liebe, das Wunderbare, das hat das Vergangene ja eindrücklich
gezeigt, hat in der bürgerlichen Gesellschaft, in der die Ehe selbst
eine bürgerliche Institution darstellt, keine oder kaum eine Chance.
Und doch stellen diese Aussagen Noras vielleicht den Versuch Henrik
Ibsens dar, die Ehe durch Kritik an ihrer korrumpierten säkularen
Form zu retten (vgl. Bänsch 1998, S.56). Auch kann, wie Jørgen
Haugan (1977) betont, aller Inanspruchnahme für die Ziele der
Frauenemanzipation zum Trotz "kein großer Optimismus an Noras
Ausmarsch geknüpft" sein, wenn man die gesellschaftlichen und
ökonomischen Bedingungen der Zeit berücksichtigt. (Haugan 1977, zit. n.:
Keel 1990, S.67)
(Die Textangaben zum Text von Henrik Ibsen beziehen sich auf die
Reclam-Ausgabe in der Übersetzung von Richard Linders, die von Aldo
Keel vollständig revidiert worden ist. Stuttgart: Philipp Reclam
1951, 1998)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.03.2024