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Die familiäre Sozialisation Franz Kafkas

Der Vater: Hermann Kafka

Franz Kafka (1883-1924) – BiografieEinzelne biografische Aspekte

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur
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Die Herkunft von Hermann Kafka

Hermann Kafka, der Vater von • Franz Kafka, wurde als Sohn von Jakob Kafka (1814–1889) am 14.9.1852 1852 in dem südböhmischen Dorf Wossek, einem kleinen Ort bei »Strakonitz, geboren, das zu dieser Zeit lediglich rund hundert Einwohner zählte und somit eine bemerkenswert überschaubare Gemeinschaft darstellte. Der Vater von Hermann Kafka, der auf Jiddisch Jakob Amschel hieß, war von Beruf Schlachter oder ach Fleischhauer, wie man zu dieser Zeit sagte.

Als "Schochet" war er zudem noch »Schächter, der für das Schlachten nach jüdischem Ritus zuständig war, und versorgte die jüdischen Familien der Umgebung mit »koscherem Fleisch , scheute sich aber auch nicht davor, die Christen mit dem für Juden untersagten Schweinefleisch zu beliefern.

Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen und wohnte mit ihren insgesamt sechs Kindern, zwei Töchtern und vier Söhnen, in einer der auf dem Land üblichen »Katen mit drei ebenerdigen Räumen. Um den Familienunterhalt zu sichern, musste die ganze Familie anpacken und auch von Herrmann Kafkas Kindheit ist überliefert, dass er in kalten Wintertagen schon als Zehnjähriger mit offenen Wunden an den Beinen mit einem Wägelchen die Fleischbestellungen der Kunden auslieferte.


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Nach sechs Jahren Grundschule wurde Herrmann nach dem Erreichen der religiösen Mündigkeit mit 13 Jahren in das nahe gelegene »Pisek geschickt, um bei einem Verwandten eine Lehre in dessen Textilgeschäft zu beginnen.

Militärdienst und Arbeit als Hausierer

Im Alter von 20 Jahren wurde er 1872 zum dreijährigen Militärdienst bei einer technischen Einheit eingezogen. Später hat Herrmann seine Militärzeit in positivem Licht gesehen. Sie war für ihn, der nach sechsjähriger Grundschule nur das Elementare im Lesen, Schreiben und Rechnen und ein wenig Hebräisch gelernt hatte, eine Schule des Lebens geworden.

Auch wenn er in seinem Leben so nie "über ein gesichertes bildungsbürgerliches Grundwissen verfügte" (Alt 2008, S.23), so erlangte er über seinen Militärdienst im Rang eines Feldwebels "eine bürgerliche Rollenidentität" in einem festen Ordnungsgefüge, die "mit einer - durch die Uniform sichtbaren - sozialen Reputation" verbunden war, "wie es seinen stark von Äußerlichkeiten beherrschten Bedürfnissen entsprach." (ebd., S.24)

Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst arbeitete er sieben Jahre lang als so genannter »Hausierer, als Vertreter für Gemischtwaren, mit denen er von Haustüre zu Haustüre zog. Die Heirat, die danach mit knapp dreißig Jahren ins Auge fasste, gehörte zu seinem, in dieser Zeit keineswegs ehrenrührigen Plan, sich mit einer guten Partie den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Das Beste, so schien es im, war es "die nächsten beiden Stufen der sozialen Leiter auf einmal zu nehmen und sich an ein vielerprobtes soziales Manöver zu wagen: an den Versuch, die Gründung eines eigenen Geschäfts an die Gründung seiner eigenen Familie zu koppeln." (Stach (2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.44). FISCHER E-Books. Kindle-Version)

Heirat mit Julie Löwy und Geschäftsgründung in Prag

Über einen Heiratsvermittler kam er mit • Julie Löwy (1856–1934) in Kontakt, die mit 26 Jahren schon längst im heiratsfähigen Alter war. Sie wohnte noch im Haushalt ihres als Privatier lebenden Vaters mit ihrer Stiefmutter und zwei Brüdern aus der zweiten Ehe ihres Vaters kaum fünf Gehminuten von ihm entfernt am • Altstädter Ring in • Prag. Aus seiner Sicht betrachtet, war Julie, die auch noch gut aussah, die ideale Partnerin. Ihre Eltern waren wohlhabend genug, dass die Mitgift die Geschäftsgründung ermöglichen würde.

Seine Heirat mit • Julie Löwy (1856–1934) im September 1882, die aus einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aus Podébrady stammte und eine größere Mitgift in die Ehe mitbrachte, war für Hermann Kafka eine sehr gute Partie und zugleich der Ausgangspunkt seines weiteren sozialen Aufstiegs. Hermann Kafka avancierte in der Folge zum "Prototyp eines Selfmade-Manns, der sich aus der untersten sozialen Schicht nach oben gearbeitet hatte." (Müller 2008, S.38)

Vieles, was Hermann Kafka charakterlich prägte, hängt mit seinem ausgeprägten Willen zusammen, sozial aufzusteigen. "Misstrauen, Kampfbereitschaft und kruder Utilitarismus" waren ihm eigen und für ihn "hohe Tugenden, die er seinen Kindern einzuimpfen suchte, um sie fürs Überleben in einer Wolfsgesellschaft fit zu machen. Neue Beziehungen, die ja immer auch Verpflichtungen mit sich brachten, suchte man nur dann, wenn sie nützlich waren;" (Stach 2014/16, S.64)

Das Bild von der Gesellschaft, das er besaß, zeichnete diese als einen "erbarmungslose(n) Wettlauf, bei dem jeder Einzelne, aus ungleichen Startpositionen, möglichst rasch ›vorwärtszukommen‹ und möglichst viele Mitbewerber hinter sich zu lassen sucht" (ebd.) Und wie Reiner Stach fortfährt, "(stand) in einer solchen Gesellschaft (...) grundsätzlich jeder im Weg, und die Angestellten mit ihrem Anspruch auf faire Entlohnung sogar mit voller Absicht." (ebd.)

Mit der Aussteuer seiner Frau konnte er am nördlichen »Altstädter Ring in bester Innenstadtlage von • Prag eine Großhandlung für Stoff- und »Galanteriewaren (Stöcke, Schirme, »Kurzwaren) eröffnen. Damit begann für ihn und seine Familie "eine Lebensphase im Zeichen des bürgerlichen Erfolgs" (Alt 2008, S.24), an der aber auch seine Frau einen maßgeblichen Anteil hatte, die bei unternehmerischen Entscheidungen mitsprach und jeden Tag zwölf Stunden in dem Unternehmen mitarbeitete. Beide Eheleute brachten in einer Phase, in der sich Prag auf dem Weg zu einer modernen Metropole befand, alles mit, was man brauchte, um in dieser Aufbruchsära einen guten Platz einzunehmen und zu behaupten. Sie verfügten beide über "Fleiß, Ausdauer, Zielstreben und Beständigkeit unter den Bedingungen eines rücksichtslosen Existenzkampfes", waren in der Lage, sich an ihr komplexes politisches Umfeld anzupassen und verfügten über "genügend Pragmatismus, um lebensnotwendige Entscheidungen zu fällen." (Haring 2010, S.1) Zugleich aber akzeptierten sie, vor allem aber wohl Hermann keinen anderen moralischen Codex "als den des ökonomischen Kriegsrechts, angepasst an die Bedingungen eines permanenten Ausnahmezustands: ›Jeder für sich und alle gegen mich.‹" (Stach (2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.64). FISCHER E-Books. Kindle-Version) Im Zuge ihres geschäftlichen Erfolgs und des damit verbundenen sozialen Aufstiegs bezog die Familie im November 1912 eine große Wohnung in dem luxuriösen »Oppelt-Haus, das an der nördlichen Ecke des Altstädter Rings stand.

Auch wenn es geschäftlich stets bergauf ging, ließ die Angst vor dem geschäftlichen Ruin Hermann und Julie offenbar kaum los. Um mit dieser Angst umgehen zu können, vergrößerten sie ständig das Angebot in ihrem Geschäft, reinvestierten die erzielten Gewinne und nutzen jede Gelegenheit, die sich ihnen bot, mit ihrem Geschäfte an besser gelegene Orte umzuziehen, um in den jeweils größer werden Geschäftslokalen das Sortiment zu erweitern. Zwischen 1882 und 1918 war das Geschäft an verschiedenen Orten, die aber nur knapp hundert Meter auseinander lagen. 1919 verkaufte man mit mehreren angestellten Verkäufern und Lehrmädchen sowie einem Geschäftsführer Leinen und Unterwäsche, Spitzen und Schleifen, Strümpfe und Schürzen, Taschentücher, Schnallen, Döschen, Fächer, Knöpfe, Krägen, Muffs, Filzschuhe … daneben Spielmurmeln, Nadeln, Taschenmesser, Zahnbürsten. Am Ende " gab es bei den Kafkas beinahe alles". (ebd.) Als Chef war Hermann Kafka zwar launisch und übte seine Autorität abhängig von seinen wechselnden Stimmungen aus, war aber wohl nicht der tyrannische Despot, zu dem ihn sein Sohn später abstempelte.(vgl. Alt 2008, S.31) Aus der Haut gefahren ist er aber wohl immer dann, wenn er Anhaltspunkte dafür zu sehen glaubte, dass seine Angestellten ihn betrogen. So kam es sogar vor, dass die wegen der Unterstellungen und der Zornausbrüche des Patrons gekränkten Angestellten alle miteinander kündigten, aber nach Einzelgesprächen mit ihrem Chef dann doch weitermachten.

Trotz seines "typische(n) Ethos eines Aufsteigers, der aus eigener Kraft die Bedrängnisse seiner Zeit und Herkunft überwindet" (Haring 2010, S.1) und der im Berufs- und Privatleben gezeigten Durchsetzungskraft verfügte Herrmann Kafka, der sein Leben lang nervöse Herzstörungen hatte, doch über "ein schwach ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das es ihm zeitlebens verwehrt, erlittene Verletzungen souverän zu überwinden." (Alt 2008, S.25) Dabei war "die ambivalente Disposition des empfindlichen Kraftmenschen mit seelischen Spannungen" nach Alt (ebd.) auf widersprüchliche Erfahrungen zurückzuführen, die sich auch in den Lebensläufen seiner Brüder spiegelten, die geprägt wurden von Antinomien wie "Erfolg und Versagen, Ehrgeiz und Furchtsamkeit, Expansionsstreben und Rückzugsneigung" (ebd.).

Familiengründung und Rollenverteilung der Eltern

Hermann und Julie Kafka hatten insgesamt sechs Kinder. Franz (geb. 1884) war der älteste Sohn. Georg (geb.1885) stirbt kaum ein Jahr später eine Maserninfektion nicht. Heinrich (geb.1887) erliegt acht Monate nach seiner Geburt den Folgen einer Mittelohrentzündung. Die drei überlebenden Schwestern werden binnen vier Jahren geboren. Es sind »Elli (1889-1942, ermordet im »Vernichtungslager Kulmhof), »Valli (1890-1942, ermordet im »Vernichtungslager Kulmhof) und »Ottla (1892-1943, ermordet im »KZ Auschwitz-Birkenau). Auch wenn die Kindersterblichkeit in dieser Zeit noch hoch war, der Tod der beiden Söhne insofern nichts Außergewöhnliches darstellte, dürfte auch Hermann Kafka ihren Tod nicht einfach weggesteckt haben, auch wenn er nicht, wie seine Frau, die ohnehin zu Schwermut neigte, daran beinahe zerbrochen ist. In jedem Fall richteten sich seine ganzen Hoffnungen und Erwartungen auf den einzigen Sohn und Stammhalter der Familie: Franz.

Der Verlust seiner beiden Söhne Georg (1885-87) und Heinrich (1887/88) im frühen Kindesalter, an dem vor allem seine Frau, wie schon erwähnt, fast zerbrochen ist, dürfte auch Hermann Kafka mitgenommen haben, auch wenn in der Familie insgesamt die Trauer wohl ein Tabuthema war und sie deshalb wohl kaum ausgesprochen wurde. (vgl. Müller 2008, S.47)

Während die beiden Kinder erkrankten, richtete gewiss auch der Vater einen Großteil dessen, was er überhaupt an positiven Emotionen seinen Kindern zuteil werden ließ, gemeinsam mit seiner Frau auf den Kampf der kleinen Söhne gegen ihre zum Tode führenden Krankheiten. Daneben hatte er wohl wenig im Sinn, sich um den zwei bzw. vier Jahre älteren Erstgeborenen zu kümmern, für den der Tod seiner ohnehin als Konkurrenten um die elterliche Liebe bzw. Aufmerksamkeit angesehen jüngeren Brüder zu einer "doppelte(n) traumatische(n) Erfahrung" (ebd., S.49) im frühesten Kindesalter wurde. Dass sein Vater dies nicht erkannte, mag man ihm im Nachhinein ankreiden, ist aber, wegen des Anlasses eine weitaus komplexere Angelegenheit, bei der stets die gesamte Familie, die solche Schicksalsschläge verarbeiten muss, mit betrachtet werden muss. Für die  Schuldgefühle, die Julie nach dem Tod der beiden Kinder plagten, weil sie glaubte, dass sie mit größerer mütterlicher Fürsorge hätten überleben können, trug ihr Mann allerdings auch eine gewisse Mitverantwortung. Während Julie sich vorwarf, sich nicht genug selbst um die kranken Kinder zu kümmern, hatte Hermann sie  genau davon abgehalten, weil er sie "möglichst viele Stunden des Tages um sich sehen wollte und der ihre Mitarbeit im Geschäft für unverzichtbar hielt" (Stach (2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.61). FISCHER E-Books. Kindle-Version) Aber auch hier lastet sicherlich nicht die alleinige Schuld auf dem Vater, denn der Tod von Georg, dem ersten der beiden so tragisch verstorbenen Kinder, hat offenbar auch die Mutter Julie nicht dahin gebracht, "zum Schutz aller weiteren Kinder den absoluten Vorrang des Geschäfts anzufechten und damit eine offene Auseinandersetzung zu riskieren." (ebd.)

In einer Zeit, in der von der Notwendigkeit der Trauerarbeit, wie wir sie heute verstehen, noch nicht die Rede sein konnte, musste jedes einzelne Familienmitglied auf seine eigene Weise mit dem doppelten Verlust umgehen. Daraus entwickelte sich aber auch in der Kafka-Familie eine innerfamiliäre Dynamik, die auf der emotionalen Ebene wie bei der ohnehin immer wieder schwermütigen Mutter das ohnehin nicht stark ausgeprägte Grundvertrauen in die Welt  erschütterte, Schuldgefühle und Verzweiflung bei allen erzeugte, die künftige Beziehung von Franz zu seinen Schwestern beeinflusste und, wie insbesondere bei dem erstgeborenen Franz, zu posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und/oder Angststörungen führten.

Dass Hermann Kafka seine Trauer auf der Grundlage von zeitgenössischen Vorstellungen über Männlichkeit und seiner Rolle als Familienoberhaupt bewältigte, er also nach den tragischen Schicksalsschlägen immer wieder zur Tagesordnung überging, ist dementsprechend keineswegs einer Gefühllosigkeit des Vaters zuzuschreiben, sondern entsprach den Gepflogenheiten der Zeit und den ökonomischen Erfordernissen für das Geschäft und den Unterhalt der eigenen Familie. Und trotzdem bleibt hier ein Nachgeschmack: "Denn ganz unabhängig davon, ob die leibliche Anwesenheit der Mutter (oder auch nur ihre Milch) die Überlebenschancen der beiden Säuglinge tatsächlich erhöht hätte: Selbst der Tod eines Sohnes konnte Hermann Kafka offenbar nicht dazu veranlassen, das nächste Kind auf Kosten des Geschäfts nun fürsorglicher zu behandeln." (ebd.)

Die Ehe, die Hermann und Julie ihren Kindern vorlebten, war von einer klaren Rollenverteilung geprägt. Julie entsprach dabei keineswegs dem Bild eines bürgerlichen "Hausmütterchens", wie es in Heiratsanzeigen immer noch angepriesen wurde. Vielleicht war dies auch der Grund dafür, dass Hermann sie zeitlebens "entgegen seiner sonstigen Grobschlächtigkeit" (Stach 2014/16, S.55) mit seiner "ätzende(n) Ironie – von Beleidigungen ganz zu schweigen – " (ebd., S.55) verschont und ihr den Respekt entgegengebracht hat, den jüdische Frauen gemeinhin in der Familie genießen.

Aber auch wenn sie bei allen Entscheidungen des privaten und geschäftlichen Lebens mitreden durfte, wurden die Entscheidungen letztlich "in den unerforschlichen Hirnwindungen des Familienvorstands" getroffen "und diesen Amtsweg in Frage zu stellen – selbst dann, wenn es sich um eindeutige Fehlentscheidungen handelte – hätte wesentliche Spielregeln außer Kraft gesetzt, welche die Ehe der Kafkas im Innersten zusammenhielten." (Stach (2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.61f.). FISCHER E-Books. Kindle-Version) Das Frauenbild, das hinter dieser Geschlechterbeziehung stand, wonach die Frauen zwar "Einfluss und Verantwortung, Männer aber darüber hinaus Macht besitzen" (ebd., S.62), entsprach den zeitgenössischen Vorstellungen über das Geschlechterverhältnis, "war keine Frage der Weltanschauung, der Erziehung oder der Moral; es war soziale, kulturelle und juristische Realität, und eine so tiefgreifende, dass sie wie ein unhintergehbares Apriori das Denken und Sprechen der Geschlechter vollständig beherrschte. Ganz gleich wie die Lasten tatsächlich verteilt waren: Männer arbeiteten, Frauen arbeiteten mit, so war es in der Ordnung." (ebd.)

Dass Hermann Kafka zeitlebens herzkrank war, hat zusätzlich immer wieder für Dynamik innerhalb der Familie gesorgt, weil immer, wenn es ihm schlecht ging, auf den Tisch kam, • dass meistens sein Sohn Franz, aber auch oft die anderen Kindern eigentlich schuld daran sein sollten.

Familienleben und Erziehungsprinzipien

Wie das Familienleben der Kafkas aussah, kennen wir fast nur aus den Tagebüchern und Briefen von Franz Kafka. Insofern ist vieles, von dem, was er darüber geschrieben hat, von seiner subjektiven Wahrnehmung geprägt. Da diese aber oft in einer Art und Weise so eindrücklich erzählt wird, war man z. T. bis heute vielfach geneigt, das Niedergeschriebene für wahr und authentisch zu halten.

Das Bild, das man bis heute von Hermann Kafka hat, ist ganz entscheidend von der Sicht seines Sohnes auf ihn geprägt und hat entscheidend zu einem Zerrbild beigetragen, der den unbestreitbar herrischen Vater für alles verantwortlich macht, was in dieser Familie schief gelaufen ist. Deshalb zunächst die Feststellung: Als Familienvater war Hermann Kafka ein Patriarch, aber dies ist zu dieser Zeit nichts Außergewöhnliches und entspricht dem traditionellen Männer- und Familienbild.

Die Erziehung, die er seinen Kindern angedeihen ließ, war nach heutigen Maßstäben sehr streng. Sie folgte den zu dieser Zeit generell nicht in Frage stehenden autoritären Prinzipien, die auch der Vater als • autoritärer Charakter mit den entsprechenden Denkmustern verkörperte. Die Methoden seiner Erziehung, die sich vorwiegend repressiver Mittel bediente, würde man heute als • "Schwarze Pädagogik" bezeichnen. Aber: Im Hause Kafka wurden die Kinder immerhin nicht geschlagen, was durchaus nicht selbstverständlich war. Stattdessen zog der Vater alle Register sprachlicher Einschüchterung und Herabsetzungen, um seinen Willen durchzusetzen.

Zum großen Teil aber wurde die alltägliche Erziehungsarbeit in der Familie auf immer wieder wechselnde Dienstmädchen und Gouvernanten delegiert, da beide Elternteile außer sonntags den ganzen Tag in ihrem Geschäft arbeiteten. Die verschiedenen Dienstmädchen und Gouvernanten, die zum Teil auch aus Frankreich kamen, waren für alle alltäglichen Dinge zuständig, kümmerten sich um die Körperpflege der Kinder, lasen ihnen vor, unternahmen mit den Mädchen Spaziergänge und brachten ihnen bei, wie man eine gehobene Konversation führen konnte. Außerdem erteilten sie ihnen Sprach-, sowie Klavier- und Violinenunterricht. Mit diesem Erziehungsprogramm orientierten sich Hermann und Julie Kafka an den Erziehungs- und Verhaltensregeln des Großbürgertums. (vgl. Alt 2008, S.61). Über den weitläufigen Familienkreis Hermanns hinaus unterhielt die Familie nur wenig Kontakte. (vgl. ebd.8, S.84)

Das engere Familienleben war wochentags im Allgemeinen auf die Mahlzeiten beschränkt, zu denen sich die gesamte Familie mittags und abends zusammenfand. Man sprach vor allem deutsch, aber auch tschechisch, wobei vermieden wurde, in einen jüdisch-tschechischen oder jüdisch-deutschen Jargon zu rutschen.

Der Esstisch war der Ort, an dem der Vater in seiner ganzen patriarchalischen Kraft präsent war und mit knappen Befehlen, bohrenden Fragen, lakonischen Fragen, aber auch cholerischen Ausfällen und Beschimpfungen "die Rolle des Familienherrschers" (ebd., S.63) ausübte. Bei Tisch, den die Kinder nicht unaufgefordert verlassen durften, inszenierte er sich mit einer "genau fixierte(n) Dramaturgie bei der Verteilung der Speisen" (ebd.). Er verbot den Kindern, ungefragt zu sprechen, beschimpfte allenthalben vor aller Augen die Köchin, zeigte aber auch immer wieder, dass er selbst in seinem eigenen Verhalten gar nicht einhielt, was er von den Kindern verlangte.

Für Alena Wagnerová (22002, S.111) "(waren) Hermann Kafkas (im Grunde genommen) Schimpftiraden und Zornausbrüche ungefährlich und hatten in der Regel auch keine Konsequenzen. Es war seine Art, sich mit der Welt um sich herum, den Ereignissen im Kreise der Familie sowie im politischen und gesellschaftlichen Leben auseinanderzusetzen, sie zu bewältigen." 

So habe über die Tschechen genauso wie über die Deutschen oder die Juden geschimpft, über die Verwandtschaft mit den gleichen nicht gesuchten Worten wie über die Familienmitglieder, das Personal im Geschäft oder die Dienstboten zu Hause. Auch seine Kinder waren häufig Ziel seiner Schimpftiraden und Ausfälle, was insbesondere seine eher ungeliebte Tochter Elli und sein Sohn Franz zu spüren bekamen. Aber: "Letztlich war er ihnen gegenüber recht großzügig. Wenn auch Hermann Kafka im wahren Sinne des Wortes kein Haustyrann war - er war wortgewaltig, aber nicht gewalttätig -, so übten sein ewiges Nörgeln und seine Wutausbrüche auf die Familie doch Druck aus und bedeuteten für sie eine nicht unerhebliche Belastung. Sie weckten Ängste, und auch dann, wenn man sich daran gewöhnt hatte, waren sie unangenehm. Sie bildeten eine unsichtbare Barriere, die sich jeder Aktivität, jeder Neuigkeit in den Weg stellte. »Wird der Vater nicht schimpfen?« war die erste Reaktion der Kinder, wenn sich in der Familie etwas Unvorhersehbares ereignete oder jemand etwas Neues wollte. Und man versuchte natürlich manches hinter seinem Rücken zu machen. Die Leidtragende war dann oft die Mutter. Andererseits stärkte wiederum das »Hindernis Vater« die Solidarität der Geschwister untereinander. "(Wagnerová 22002, S.111f.) Alle Kinder mussten in der Familie zusehen, wie sie mit dem ›Vaterproblem‹ umgehen konnten und taten dies auf ihre Weise. Den Mädchen gelang dies aber offenbar besser als dem Sohn. Allgemein aber galt wohl die Devise: "Das Schimpfen des Vaters registriert man, regt sich darüber aber nicht besonders auf. Es gehört einfach zum Leben." (ebd., S.113)

Wenn Hermann Kafka abends zu Hause war, spielte er mit großer Leidenschaft Karten. Oftmals fordert er auch seinen Sohn Franz zum Mitspielen auf, aber dieser hat dies schon seit seiner Kindheit abgelehnt. Manchmal saß er beim Kartenspiel dabei und schrieb die Punkte auf. Zu mehr war er aber nicht zu motivieren. Er mochte das Kartenspielen einfach nicht. Vor allem aber hielt er nicht aus, wie sein sich beim Spiel gebärdete: laut, rechthaberisch und streitlustig. (vgl. Brief an Grete Bloch vom 3. März 1914, zit. n. Prinz 2005/2024, Kindle-Version, S.378)

1918 verkaufte der inzwischen schwer herzkranke Hermann Kafka sein Geschäft und erwarb mit dem Verlauferlös ein großes, um die Jahrhundertwende erbautes Mietshaus in der Prager Bílekgasse 4. In dieses Haus zogen dann nach und etliche Mitglieder der Familie, darunter auch die Tochter Elli mit ihrer Familie. Hermann und Julie Kafka wohnten aber weiterhin in ihrer geräumigen Wohnung am Altstädter Ring.

Verhältnis zum Judentum

Eine besondere Rolle im Familienleben spielten die drei besonders wichtigen Feiertage des jüdischen Festkalenders. Ihr Umgang mit ihnen in der Familie Kafka zeigt darüber hinaus, wie vergleichsweise unwichtig Hermann Kafka eine fundierte Erziehung seiner Kinder im jüdischen Glauben gewesen ist. An »Rosch ha-Schana (Neujahr), »Pesach/Passah (Erinnerung an den Auszug aus Ägypten) und »Jom Kippur (Versöhnungsfest) besuchte Hermann mit seinem Sohn, der dem Ganzen eher gelangweilt folgte, die Synagoge, die man ansonsten das Ganze Jahr über nur von außen sah. Hermann Kafka, der ein »aschkenasischer Jude war, folgte wie die meisten jüdischen Familien keinen jüdisch-orthodoxen Regeln. Er war, wie viele andere auch, ein "assimilierte(r) »Dreitagejude«" (ebd., S.68) oder "Feiertagsjude" (»Joseph Roth). Bei den wenigen jüdischen Ritualen, die im Hause Kafka gepflegt wurden, "fehlte der tiefere reiligiöse Ernst" (ebd., S.69). So inszenierte man an Pessach die gemeinsame Mahlzeit am »Sederabend zwar mit Geschirr, das nur dafür zum Einsatz kam, hielt sich aber wenig an die zeremonielle Durchführung der Mahlzeit, bei der sich die Familienmitglieder eigentlich ihrer Ursprungstraditionen versichern, diese erinnern und neu für sich bekräftigen sollten. Stattdessen ging es bei den Kafkas dabei immer hoch her. Und auch sonst hielt man sich im Hause Kafka das ganze Jahr über nicht daran, koscher zu essen, man kochte am Schabbat, trennte Milch und Fleischgerichte nicht voneinander und aß Fisch auch gerne ohne Schuppen. Das alles zeigt, dass der Vater, der sonst so viel Wert auf Rituale legte, die jüdischen Rituale nur noch als verpflichtende Elemente einer entleerten Kulturtradition verstand, zu der er sich und seine Familie nicht mehr zugehörig fühlte. (vgl. ebd.) Für seinen Sohn bedeutete dies einen "tiefgreifenden Verlust der religiösen Identität" (ebd., S.73) und ein Gefühl der "Entwurzelung" (ebd.) Insgesamt gesehen können die Kafkas aber "als exemplarische Vertreter einer jüdischen Übergangsgeneration angesehen werden; sie blieben ihrer jüdischen Herkunft auf Lebenszeit verbunden, fanden jedoch auch Anschluss an die neuen liberalen Werte und Entwicklungen ihrer Epoche. Wie für die meisten führte bei ihnen der Kampf um den sozialen Aufstieg aus dem Ghetto in die Freiheit – somit aber auch in den Zustand einer ungewissen Schwebe zwischen Observanz und Assimilation." (Haring 2010, S.1)

Das Verhältnis von Hermann und seinem Sohn Franz

Franz Kafka (geb. 1884) erklärt später in seinem Brief an den Vater (kurz genannt: Brief), den er im Alter von 32 Jahren schreibt, dem Vater aber niemals übergibt, welche Auswirkungen die Tatsache, dass er als einziger Sohn am Leben geblieben ist, auf ihn gehabt hat: "Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich, besonders da meine Brüder klein starben, die Schwestern erst lange nachher kamen, ich also den ersten Stoß ganz allein aushalten musste, dazu war ich viel zu schwach."

Vermutlich war sich Hermann Kafka der ganzen Tragweite seines Handelns für seinen Sohn nicht bewusst, als er ihn eines Nachts im Kleinkindalter für eine Zeitlang auf der »Pawlatsche, einen Zugangsbalkon (»Laubengang) am winkeligen Innenhof, aussperrte, weil der Kleine aus Durst oder anderen Gründen nachts winselte und so wahrscheinlich dem Vater den wohlverdienten Schlaf geraubt hat. Dieses allgemein als • Pawlatsche-Erlebnis bezeichnete Ereignis hat, soweit man der Darstellung des Sohnes später im Brief folgen kann, eine traumatische Wirkung auf den Jungen gehabt, die ihn sein Leben lang nicht mehr losgelassen hat. Dass sich mit diesem Erlebnis auf der Pawlatsche "allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn" zu müssen nicht nur " entsetzliche Gefühl der Hilflosigkeit" einstellte, sondern auch " die vom Vater aufgezwungene Selbsteinschätzung, ein nichtiges, nichtswürdiges Wesen zu sein" (Beicken 1986, S.26f.) festsetzte, ist daher gut nachzuvollziehen. Was sich in der Pawlatsche-Nacht ereignete, war jedenfalls, auch wenn man der subjektiven Sicht des Sohnes, der damit ein schlagkräftiges Argument für das Täter-Opfer-Schema vorbringen wollte, mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüberstehen sollte, ein Beispiel für den autoritären Erziehungsstil Hermann Kafkas. Und zu Recht beklagt sein Sohn im Brief, dass die Strafe, die "der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund" in jener Nacht über ihn verhängte, ein Akt autoritärer "Irrationalität und Willkür, also im Grunde blinde Gewaltanwendung" (ebd.) war.

Kurz vor der Geburt der Tochter »Elli (1889-1942 wird Franz ab dem September 1889 auf die Deutsche Volks- und Bürgerschule in Prag geschickt, auf die auch etliche andere mittelständische Bürgerfamilien ihre Kinder entsandten. Im Alter von zehn Jahren meldete er seinen Sohn auf dem als besonders streng geltenden Staats-Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag-Alstadt an. Hier galt, wie bei allen deutschsprachigen Gymnasien in Böhmen, was Hermann Kafka offenbar besonders wichtig war: Disziplin und klare Rollenhierarchien sowie "die Vermittlung eines national geprägten Weltbildes [...], das die Monarchie zur Garantin imperialer Größe verklärte." (Alt 2008, S.73) Hermann Kafka wusste gewiss wenig über die Alpträume und Ängste, die sein Sohn, der bis zum vierten Gymnasialjahr geradezu ein Musterschüler war und in den späteren Klassen aber immer noch, außer in Mathematik, überdurchschnittliche Leistungen erbrachte. Die ausgesprochene Leselust, die sein Sohn ab dem Alter von dreizehn Jahren entwickelte, betrachtete er wohl mehr als skeptisch. So drehten die Eltern ihm, in der Befürchtung er könnte die Nacht durchlesen, abends das Gaslicht aus. (vgl. ebd., S.82) Überhaupt kam dem Vater die mit Eintritt der Pubertät des Sohnes zum Vorschein kommende Kontaktscheu, Schweigsamkeit und gebückte Körperhaltung sowie die Tatsache, dass er ein schlechter Turner war (vgl. ebd., S.83) nicht gerade gelegen.

Die Themen, mit denen sich sein Sohn als Gymnasiast beschäftigte, z. B. mit dem »Zionismus, der »Evolutionstheorie Charles Darwins (1809-1882), der »Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856-1939), »Friedrich Nietzsche (1844-1900) und der »sozialen Frage, dürfte der Vater kaum mitbekommen haben. Zufrieden konnte er hingegen mit dem Abitur seines Sohnes 1901 sein, selbst wenn er mit seinen Leistungen nur leicht über dem Durchschnitt lag. Zur Belohnung ließt er ihn eine Reise bis an die Grenze des Königreichs Böhmen machen.

Ein ärztliches Attest, in dem Franz Kafka »Schwäche « bescheinigte, führt dazu, dass sein Sohn danach keinen Militärdienst leisten muss, den Hermann selbst ja abgeleistet hatte. Für den Vater war dies sicher kein Wunder, denn die Hinwendung seines Sohnes zum Vegetarismus war für einen Mann wie ihn, dem "Fleisch die Substanz einer Mahlzeit" war, zumal "dort, wo er herkam, (...) die Anzahl der Fleischtage ein Gradmesser des Wohlstands (war)" (Stach (2014/16), Kafka: Die frühen Jahre, S.300 FISCHER E-Books. Kindle-Version), passte so ganz und gar nicht in das Weltbild Hermann Kafkas, der sich diesen Genuss ja einstmals hatte erst einmal erkämpfen müssen. Der Vegetarismus seines Sohnes war für ihn Affront, ging im auf die Nerven, zumal man darauf beim Essen und Kochen darauf Rücksicht nehmen musste. Im Grunde stellte er, wie Reiner Stach betont, "die Fundamente seiner sozialen Philosophie in Frage". (ebd.) Dass sein Sohn darüber hinaus Arzneien und Impfungen der Schulmedizin sein Leben lang ablehnte, erschien ihm wohl auch als Ausdruck einer Anmaßung seines besserwisserischen Sohnes.

Franz schreibt sich dann für ein Chemie-Studium an der Karls-Universität in Prag ein, studierte dann kurz Germanistik, ehe er auf Drängen seines Vaters ein Jurastudium, währenddessen er weiter zu Hause wohnte, aufnahm und 1906 mit der Promotion abschloss. Nach einjähriger "Rechtspraxis" trat Franz zunächst in den Dienst einer italienischen Versicherungsgesellschaft. Von Juli 1908 bis 1917 arbeitete er bis zum Ausbruch einer Lungentuberkulose (1917) bei der "Arbeiter Unfall Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag".1922 wurde wegen der Krankheit vorzeitig pensioniert.

Dass sein Sohn Franz mit fast dreißig Jahren immer noch nachts einen Stapel von Schulhelften vollschrieb, ging nicht den Kopf Hermann Kafkas und er führte dessen schwächelnden Gesundheitszustand immer wieder darauf zurück. Aber wirklich über die Bedeutung, die das Schreiben für seinen Sohn bedeutet hat, haben Vater und Sohn nie miteinander sprechen können. Franz Kafka schreibt sogar einmal in seinen Tagebuchnotizen: "

»Ich lebe in meiner Familie«, schrieb er Franz Kafka 1913 in einem Brief an Carl Bauer, »unter den besten liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. […] Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn.« (zit. n. Stach (2004/42015): Kafka: Die Jahre der Entscheidungen, S.20f. Kindle-Version) Auch wenn diese Einschätzung nicht ganz der Wahrheit entspricht, trifft sie doch insoweit zu, dass Hermann und seine Frau Julie ihr Leben lang"im eigenen Erfahrungs- und Empfindungshorizont (gefangen blieben) und niemals auch nur ahnten,dass sich unmittelbar neben ihnen, verborgen hinter einer unschuldigen Stirn, ein ›Weltinnenraum‹ von ungeheurer Ausdehnung öffnete." (Stach (2004/42015): Kafka: Die Jahre der Entscheidungen, S.21)

Zufrieden damit, dass sein Sohn eine Beamtenkarriere eingeschlagen hatte, war Hermann Kafka nicht. Irgendwie trug er sich wohl immer wieder mit dem Gedanken, wie er ihn doch noch zu einem erfolgreichen Geschäftsmann machen konnte. Als seine einundzwanzigjährigen Tochter »Elli (1889-1942) am 27.November 1910 ihren Mann Karl Hermann heiratete, schien für ihn die Gelegenheit gekommen zu sein, ihn doch noch "aus der sozialen Einbahnstraße seiner Beamtenkarriere" herauszudirigieren.

Ellis Ehe war im Rahmen der üblichen • jüdischen Heiratsvermittlung, mit der sich ihre Eltern auch schon kennen gelernt hatten zustande gekommenen, in deren Verlauf Hermann Geschäftstüchtigkeit und Bonität der jeweiligen Bewerber prüfte, während seine Frau Julie ihr Aussehen und ihren Charakter unter die Lupe nahm (ebd., S.23). Als der sechs Jahre ältere Ehemann Ellis dann mit der neuen Geschäftsidee daherkam, die erste Asbestfabrik in Prag zu gründen, imponierte dies Hermann Kafka sofort. Daher er auch nichts dagegen, dass ein großer Teil der Mitgift, die Elli erhielt, direkt in das Unternehmen investiert wurde. Als Geschäftsmann und Vater ging er allerdings nicht jedes Risiko gegenüber einem Mann ein, den er schließlich erst seit wenigen Monaten. Sein Ziel war es, die Kontrolle über die neue Asbestfabrik in der Familie Kafka zu halten. Aus diesem Grund zahlte er einen Teil der Summe nicht an Karl Hermann sondern an seinen Sohn Franz aus, der dieses Kapital dann als Teilhaber in das neue Geschäft einbrachte. Damit war in seinen Augen nicht nur gewährleistet, das einer der Kafkas immer einen Blick in die Geschäftsbücher werfen konnte. Ebenso wichtig war ihm wohl, dass sein Sohn, wenn das Geschäft florierte, vom stillen zum aktiven Teilhaber werden und am Ende ein Fabrikant werden konnte. Die 1911 gegründeten Prager Asbestwerke Hermann & Co. – "Co." war Franz Kafka –, waren  eine kleinere Werkstätte mit etwa 20 Mitarbeitern, in der Franz fortan "offener Gesellschafter" wurde. Dass er, wenn es wider Erwarten doch zum Konkurs des Unternehmens kommen sollte, mit seinem ganzen privaten Vermögen haften musste, schien in den Augen seiner Eltern die Versicherung dafür zu sein, dass er sich auch um das Unternehmen kümmern würde. Allerdings stellte sich schon bald heraus, dass Franz keinerlei Lust darauf hatte, im familieneigenen Betrieb Präsenz zu zeigen. So erbost sich Hermann Kafka darüber auch zeigte, es nützte nichts und am Ende wurde das Thema, wie soft bei offenen Konflikten in der Familie einfach totgeschwiegen. Allerdings standen die Vorwürfe immer im Raum und wenn die Eltern Geldsorgen plagten, wurde Hermann auch später deshalb immer wieder laut. Nach zweieinhalbjährigem Produktionsstillstand wird die Fabrik, die seitdem vor sich hin verrottet, im März 1917 endgültig dichtgemacht und ein halbes Jahr später aus dem Handelsregister gestrichen.

Hermann Kafka hatte wohl, nachdem längst klar war, dass sein Sohn seine Nachfolge im Geschäft nicht antreten würde, keine Einwände gegen die Heiratspläne seines Sohnes mit »Felice Bauer (1887-1960), zumal diese "allgemein als »tüchtige Geschäftsfrau« (galt), die keinen Sinn für solche in materieller Hinsicht fruchtlosen Beschäftigungen wie dem Verfassen von literarischen Texten hatte und nicht so weltfremd war wie sein eigener ältester Sohn." (Müller 2008, S.42) Er begleitete ihn auf die  im Mai • 1914 in Berlin ausgerichtete • Verlobungsfeier und war sicherlich nicht davon angetan, dass Franz dieses Verlöbnis nicht einmal sechs Wochen danach nach einer Aussprache mit Felice wieder löste.

Keinerlei Verständnis hatte Hermann Kafka für die • 1918 eingegangene Verlobung seines Sohnes mit »Julie Wohryzeck  (1881-1944), die wie sein Sohn ebenfalls lungenkrank war. Franz hatte sie in einer Pension in in »Schelesen (Nordböhmen) , wo er sich zur Erholung eingemietet hatte, kennen gelernt. Wahrscheinlich passte Hermann Kafka nicht, dass "Julie die Tochter eines tschecho-jüdischen Synagogendieners war und damit aus der sozialen Unterschicht stammte, aus der er selbst sich mit seiner Energie und seinem Ehrgeiz emporzuarbeiten versucht hatte." (ebd.) Die im Brief des Sohnes erwähnte "kleine Aussprache" darüber, in der der Vater seinem 36 Jahre alten Sohn den Rat gibt, besser eine Prostituierte aufzusuchen, statt sich von einer x-beliebigen Frau mit ausgestellten Dekolleté so anmachen zu lassen, dass er Hals über Kopf Heiratspläne schmiede. Letztlich gipfelt sein Ratschlag, den sein Sohn im Brief  als die von seinem Vater erfahrene • größte verbale Demütigung und Verachtung bezeichnet darin: "Wenn Du Dich davor fürchtest, werde ich selbst mit Dir hingehn." Damit keine Missverständnisse aufkommen: Der Besuch von Bordellen war für Franz und seinen Vater, wenn auch nicht gemeinsam, längst eine Selbstverständlichkeit.

1918 verkaufte der inzwischen schwer herzkranke Hermann Kafka sein Geschäft und erwarb mit dem Verlauferlös ein großes, um die Jahrhundertwende erbautes Mietshaus in der Prager Bílekgasse 4. In dieses Haus zogen dann nach und etliche Mitglieder der Familie, darunter auch die Tochter Elli mit ihrer Familie. Hermann und Julie Kafka wohnten aber weiterhin in ihrer geräumigen Wohnung am Altstädter Ring.

Hermann Kafka und seine Töchter

Die älteste Tochter »Elli (1889-1942) wurde von den Eltern auf die deutsche Mädchenschule in der Prager Fleischergasse (Řeznická-Straße) und später auf eine private höhere Mädchenschule geschickt, wo sie auf ihre künftige soziale Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet wurde. Sie heiratet später einen Handelsvertreter und hat mit ihm drei Kinder. Der Sohn und eine der beiden Töchter, wurden, nachdem ihr Ehemann schon 1939 verstorben war, 1942, elf Jahre nach dem Tod ihres Vaters (1931) im »Vernichtungslager Kulmhof ermordet.

Die zweitälteste Tochter »Valli (1890-1942) besucht wie ihre ältere Schwester die deutsche Mädchenschule und später eine private höhere Mädchenschule. 1913 heiratete sie einen kaufmännischen Angestellten, mit dem sie zwei Töchter hatte. 1920 wurde sie eine der ersten Lehrerinnen an der 1920 gegründeten jüdischen Schule in Prag.1942 wurde sie wie Elli im »Vernichtungslager Kulmhof ermordet.

Die jüngste Tochter »Ottla (1892-1943) machte nach ihrer Schulausbildung mit Hilfe ihres Bruders eine Ausbildung an einer Landwirtschaftsschule. Sie lebte und arbeitete auf einem landwirtschaftlichen Gut ihres Schwagers, des Ehemanns von Elli, im westböhmischen Zürau (heute Siřem, Gemeinde Blšany). 1920 heiratete sie gegen den Willen ihres Vaters einen tschechischen Katholiken, mit dem sie gemeinsam zwei Töchter hatte. Diese Ehe mit einem Christen verstieß nicht nur in den Augen ihres Vaters gegen den jüdischen Heiratscodex und machte ihm deshalb besonders zu schaffen, 1943 begleitete Ottla als freiwillige Helferin eine Gruppe polnisch-jüdischer Kinder auf ihrem Transport nach Auschwitz. Als der Transport im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau eintraf, wurden alle Häftlinge, einschließlich der begleitenden 52 Krankenschwestern, darunter auch Ottla, in den Gaskammern im »KZ Auschwitz-Birkenau ermordet.

Hermann Kafka hatte über die Jahre hinweg betrachtet mit zwei seiner Kinder immer wieder Probleme. Elli und Valli verhielten sich angepasst und folgten in ihren Lebensentwürfen auch den vom Vater vertretenen bürgerlichen Rollenkonventionen, die sie später an Ehe und Mutterschaft banden. (vgl. Alt 2008, S.57). Die beiden eher sensiblen, aber wenig tatkräftigen Töchter  versuchten, in möglichst wenig Konflikte mit dem herrischen Vater zu geraten. Franz und Ottla hingegen waren diejenigen in der Familie, die sich dem Vater immer wieder widersetzt haben. Franz tat dies eher "im stillen Widerstand" (Alt 2008, S.56) und "umgeben von den weiblichen Helferinnen in den Schutzzonen der Familie [...] den Kampf gegen die Autorität [...] nur als Schattenkrieg" wagte. Ottla allerdings wich dem offenem Streit mit dem Vater nicht aus und wagte das eine und andere Mal die offene Rebellion. Dafür bekam sie den Zorn des Vaters immer wieder zu spüren, der ihr drakonische Strafen androhte und sie mit seinen cholerischen Wutausbrüchen und Beschimpfungen überzog, ohne sie damit wirklich einschüchtern oder sie von ihrem eigenen Weg abbringen zu können.

Hermann Kafka als paternalistischer Patriarch der Familie

Peter Beicken (1986, S.21) betont, dass Hermann Kafka "gewiss eine harte, freudlose Kindheit" gehabt hat, unterstreicht aber zugleich," dass der Vater diese Entbehrungen aber den Kindern, die in ganz anderen, städtischen und vor allem bequemeren Verhältnissen groß wurden, vorwurfsvoll entgegenhielt, um sich Respekt, Gehorsam und Gefügigkeit bei ihnen zu verschaffen", damit nicht legitimiert werden kann.

Die Art und Weise, mit der Hermann Kafka die väterliche Autorität verkörperte, war indessen nicht die eines Vaters, der Frau und Kinder, insbesondere noch seinen Sohn, erbarmungslos unterdrückte, so wie es die ältere Forschung gesehen hat.

In ein derart simples Täter-Opfer-Schema passt insbesondere sein Verhältnis zu seinem Sohn Franz nicht hinein, auch wenn gerade dieser an dieser Version der Vater-Sohn-Beziehung aktiv "gestrickt" hat. Denn die meisten Schwierigkeiten der beiden gingen eben nicht vom Vater aus, sondern vom Sohn selbst aus: "Es war nicht in erster Linie der Vater, der den Sohn unterdrückte und dessen Schriftstellerei gering achtete; Kafka selbst hielt das meiste, was er schrieb, für wenig geglückt." (Jahraus 2006, S.24) Franz war es, der "die Auseinandersetzung und auch die Konfrontation mit den Machtinstanzen und nicht zuletzt mit dem Vater [...] geradezu gesucht hat. "(ebd., S.25)

Der Gegensatz zwischen den einschüchternden Verhaltensnormen der Kafkas und den davon sehr verschiedenen Umgangsformen und Verhaltensweisen der Löwys – Franz Kafkas Mutter stellte mit ihrem »Gutsein« in der Familie einen Gegenpol zum bedingungslosen Autoritätsprinzip dar, das der Vater verkörperte –  machte Franz angesichts der Doppelbotschaften, die er schon als Kind erlebte, unter Umständen schon früh klar, dass der unbedingte Autoritätsanspruch des Vaters fragwürdig war. (vgl. Beicken (1986, S.26f.)

"So sehr Kafka," betont Oliver Jahraus 2006, S.25)," unter den Autoritäten und ihren sozialen Zwängen, denen sie ihn unterwarfen, litt – und man kann nicht bestreiten, dass er darunter so sehr litt, dass ihm in einigen Situationen seines Lebens auch der Gedanke an Selbstmord nahe lag –, so sehr brauchte er die Auseinandersetzung auch, um aus diesen Kampf jenen Impuls ziehen zu können, der ihn auf der anderen Seite umso ausdauernder an seinem Schreiben festhalten ließ."

Am Ende kehrt sich dadurch die Perspektive im Täter-Opfer-Schema gänzlich um: Franz wird damit zu der Person, der "jene Probleme selbst erzeugt, die er in und mit seinem Schreiben angegangen ist, um sie im Schreiben überhaupt angehen zu können - damit er überhaupt schreiben konnte. Man könnte pointiert sagen: Schreibend wollte Kafka jene Probleme lösen, die es gar nicht gegeben hätte, hätte Kafka nicht geschrieben." (ebd.)

In jedem Fall kann die Sicht, die Franz Kafka im Alter von 32 Jahren in seinem Brief an den Vater auf den Vater und ihre Vater-Sohn-Beziehung hat, nicht 1:1 zur Charakterisierung von Hermann Kafka herangezogen werden. Wie Peter-Andrè Alt (2008, S.24f.) betont, sei dieses Bild mit Vorsicht zu betrachten, da es dem Sohn auch dazu diene, dem kritisierten Vater das eigene "Selbstporträt des schwachen, kränkelnden, ängstlichen, wortarmen Kindes entgegenzusetzen". In jedem Fall ist es nach heutiger Sicht nicht mehr so ohne Weiteres möglich, den Vater im Brief "vorbehaltlos mit dem wirklichen Hermann Kafka und seiner vermeintlichen Unmenschlichkeit [zu] identifizieren" (Weidner 2010, S.297).

Nach dem Tod seines Sohnes Franz bestimmt Hermann Kafka 1924 dessen Freund »Max Brod zum Herausgeber des Nachlasses.

1931 starb Herrmann Kafka am 6. Juni im Alter von 78 Jahren. Er war am Ende der zwanziger Jahre zusehends schwächer, saß zuletzt im Rollstuhl und jeden Morgen in dem von ihm so geliebten Chotek-Park in Prag neben seiner Frau Julie auf einer Bank und fütterte Spatzen.

Nach seinem Tod zieht Julie in das Miethaus in der Bíöek-Gasse zu ihren Töchtern und stirbt selbst drei später.

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 23.09.2024

   
 

 
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