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"Der
Text, der mit den Zugang zu Kafkas Werk öffnete", so notiert
Walter H. Sokel (geb. 1917 in Wien) (2006, S.14f.), einer der
bedeutendsten Kafka-Forscher überhaupt, "war Die Verwandlung. Sie gab
meinem Leben eine neue Richtung und entschied meine Berufswahl. Denn ich
entschloss mich in der Emigration zum Studium der Literatur und vor allem
deutschsprachiger Literatur, um das Rätsel von
Kafkas erzählerischem
Magnetismus zu erforschen. [...] Die enorme Wirkung, die
»Die
Verwandlung auf mich hatte, beruhte zunächst auf meiner Identifikation
mit dem Protagonisten. Der Text nahm mich buchstäblich gefangen. In dem
Sinne, dass er mich emotionale in die jammervolle Situation seines Helden
bannte. Ich litt und quälte mich an Gregors Stelle. »Nimm an«, so fragte ich
mich, »ein analoges Schicksal könnte dich selbst überfallen?« Empirisch
gesprochen war es freilich undenkbar, aber die überredende Zauberkraft von
Kafkas Erzählung ließ es mir keineswegs unmöglich erscheinen, dass es mir
oder irgendjemandem zustoßen könnte. Selbst wenn ich nicht buchstäblich in
ein Ungeziefer verwandelt würde, so könnte ich doch in die gleiche Art
absoluter Isolierung geraten, Gegenstand des Ekels und Abscheus werden, der
Verachtungsschwelle, die wir Menschen zubilligen. Der Zweite Weltkrieg
wütete. Könnte ich nicht, grauenhaft verstümmelt, Gregor vergleichbar
werden? Und selbst wenn die Ursache des Ausscheidens aus menschlicher
Gesellschaft eine körperliche wäre, könnte nicht irgendein geistiger oder
moralischer Vorstoß, irgendein bislang unvorstellbares Unglück mich in eine
Gregor ganz ähnliche Lage versetzen? Schaudererregende Einmaligkeit war
nicht nur einem Individuum vorbehalten. Ihre Entsetzlichkeit -
potentiell drohte sie jedem. Und war es nicht das Schicksal jedes Menschen,
sich am Ende des Lebens von aller Gemeinschaft ausgeschlossen zu fühlen?
[...]"
Kafka trifft den Geist jeder Zeit, aber auch mitten hinein ins Herz des
Einzelnen, so ein knappes Resümee, das sich aus Sokels Worten ziehen lässt.
Manchen trifft eine Begegnung mit dem Dichter jüdischer Herkunft aus Prag sogar mit voller Wucht.
Dass " Unterricht über Kafka riskant (ist)" (Kammler
2005, S. 198) hat
Bolko Bullerdiek
(1989) in einer Kurzgeschichte verarbeitet. Wie Kammler (ebd.)
weiter ausführt, "besteht geradezu die Gefahr eines 'Leserschocks' (Elm
1986, S.34), der unerfahrene Leser - und das sind Schüler in drastisch
zunehmendem Maße - besonders hart treffen kann."
Aufforderung zum aktiven Lesen
In den Bann lassen sich freilich viele schlagen, die Kafkas Texte begegnen.
Wer sie ablehnt, nichts mit ihnen anfangen kann und will, wird dies mit ebensolchem
Recht tun. "Sperrig" ist das, was demjenigen begegnet, der sich auf sie
einlässt, allemal. So wirkt denn auch die Lektüre seiner Texte auf den einen
störend, auf den anderen belebend und auf manchen sogar irgendwie
dazwischen.
"Kafkaesk" nennen aber
auch viele, die die Texte Kafkas vielleicht noch gar nicht gelesen haben,
"bürokratische oder logische Wirrnisse, die uns unsicher machen, ob wir mit
Lachen oder Schrecken reagieren sollen." (Boa
2006, S.28f.) Andererseits "hat das Kafkaeske nur noch wenig mit Kafka
zu tun" (Jahraus
2006, S.20)
Unheimlich kommen die Texte einem vielleicht vor, zwingen einen aber gerade
deshalb zum Weiterdenken, zum aktiven Lesen,
bei dem wir uns als Leser selbst in die Lektüre einbringen müssen. Wenn das
scheinbar Trivialste, was uns in unserem Alltagsleben so klar und sinnvoll
erscheint, bei Kafka plötzlich entfremdet, sinnverschoben oder sinnentleert
erscheint, und der Autor uns für diese Rätsel keine Erklärungen liefert,
"müssen wir etwas in uns selber entdecken, das von dem Bild im Text erweckt
wird und Bedeutung schafft." (Boa
2006, S.28f.).S.29)
Jahraus (2006, S.13f, Hervorh. d. Verf.) sieht nicht zuletzt darin die "paradoxe
Ambivalenz" seiner Texte: "Sie provozieren ihre Leser ungemein zu
Interpretationen, und das um so mehr, je mehr sie im selben Moment genau
diese Interpretation verweigern." Zugleich zieht er daraus den Schluss, dass
Kafkas Werk als "paradigmatische Literatur" verstanden werden muss,
die gerade durch diese paradoxe Ambivalenz verdeutlicht, was Literatur
überhaupt ist und damit "Kafkas Literatur zu Literatur schlechthin werden
lässt." Und genau hier beginnt auch die Aufgabe für den
Literaturunterricht, der die besondere Qualität der Werke Kafkas als
Unterrichtsgegenstand darin sehen muss, so
Kammler (2005,
S.199), "jene Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen, mit der
Interpretationen Sinn in Geschehen hineinlegen." Dass Kafkas Prosa mit
ihrer immer wieder betonten Vieldeutigkeit (semantische
Polyvalenz) also
gerade "ein Überstülpen einfacher Erklärungsraster über komplexe
Sachverhalte" (ebd.)
verweigert, ist, wenn man so will, ein literaturdidaktischer Glücksfall.
Gert Egle,
29.09.2013
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