In
drei Sätzen, die durch Semikola getrennt sind, wird im ersten
Abschnitt von Franz Kafkas Erzählung „Der Kübelreiter” die Notlage
eines Ich-Erzählers dargestellt. Der erste Satz ist ein Satz ohne
Verb. Er zeigt, wie schlecht es dem Erzähler geht. Er hat kein Geld
mehr und die Schaufel ist nutzlos. (Z 1) Das Ich registriert eine
Lage, die trostlos ist. Die Sätze sind unverbunden und
unvollständig. Die Lage ist schlimm. Das wird erst klar, wenn man
die nächsten Sätze liest. Der Ofen im Zimmer „atmet” nämlich die
Kälte ein, obwohl er doch Wärme ausstrahlen müsste. Kein Wunder,
dass er vom Ich-Erzähler später „erbarmungslos” genannt wird. Das
Zimmer ist voller Frost. Die Kälte kann ungehindert in das Zimmer
eindringen. Es ist sinnlos, auf Hilfe oder Trost zu hoffen. Denn
auch wenn der Erzähler zum Himmel schaut, sieht er nur das „silberne
Schild”, das der Himmel vor sich hält. Damit will der Himmel sich
vor dem Erzähler auf der Erde verbarrikadieren. Für den Erzähler ist
alles verloren.
Und doch will er den Kampf ums Überleben aufnehmen. Das Erzähler-Ich
weiß, dass es sich Kohle besorgen muss, um nicht zu erfrieren. Der
Erzähler sagt mit der Abtönungspartikel „doch”, dass er sein
Schicksal nicht einfach hinnehmen will. Auch wenn Ofen und Himmel
gleich sind, kann man dem Schicksal entkommen. In der Mitte zwischen
diesen beiden Polen liegt der Kohlenhändler, von dem er sich noch
etwas erhofft.
Der mittellose Mann weiß, dass er beim Kohlenhändler keine Kohlen
mehr bekommt, wenn er nicht bezahlt. Der Händler ist abgestumpft und
gibt ihm keine Kohlen mehr. (Z 7). Der Mann will den Kohlenhändler
unter Druck setzen, damit er ihm wieder Kohlen gibt. Er weiß, was er
tun will. Er muss klar machen, dass er noch ein bisschen Kohle hat.
Zweitens muss er anders bitten. Der Mann weiß, dass er nicht einfach
sagen kann, dass er kostenlose Kohlen will, weil es so kalt ist und
er kein Geld hat. Er muss auch die Beziehung zum Kohlenhändler
verändern. Der Mann glaubt, dass er seinen Wunsch erfüllen kann,
wenn er dem Kohlenhändler übermenschliche oder göttliche
Eigenschaften zuschreibt. Der Mann glaubt, dass er den Kohlenhändler
dazu bringen kann, das zu tun, was er will, indem er ihn
idealisiert. So muss der Kohlenhändler den Wunsch des Mannes
erfüllen, auch wenn er wütend ist. Der Mann denkt, dass die beiden
eine klare Beziehung haben. Er ist der Chef und der andere ist sein
Mitarbeiter. Die zwei Mal gebrauchte Formulierung „müssen” (vgl. Z.
9, 11) bei der Beschreibung der Beziehung, der starke Vergleich mit
dem Bettler, der „verenden” (Z. 10) „will”. (Z 10) und der Vergleich
mit dem Bettler, der „verenden” will. (Z 12) zeigt, dass der
Ich-Erzähler die beiden Verhaltensweisen von Bettler und „Herr”
miteinander verbindet. Der Kohlenhändler soll nicht nur aus
Nächstenliebe handeln, sondern auch das christliche Gebot „Du sollst
nicht töten” (Z. 12) beachten. Wenn ein Gläubiger dieses Gebot
übertritt, muss er mit großer Strafe rechnen. Deshalb wird auch der
Kohlenhändler zähneknirschend klein beigeben müssen. Der
Kohlenhändler muss sich jetzt auch um den Mann kümmern. Denn wenn er
das Nächstenliebegebot nicht befolgt, ist er nur passiv. Wenn er
aber das Verb „töten” transitiv verwendet, wird er zum aktiven
„Täter”. Er ist dann verantwortlich für den möglichen Erfrierungstod
des Mannes.
Der Ich-Erzähler will seine Ziele erreichen. Dafür benutzt er eine
bestimmte Taktik. Damit will er den Kohlenhändler dazu bringen,
etwas Bestimmtes zu tun. Er muss den Kohlehändler erst überzeugen,
damit er seine Bitte erfüllt. Was aber, wenn die Not des Einen nicht
mehr ausreicht, um den Anderen zu überzeugen?
Die Antwort des Ich-Erzählers, auf einem leeren Kohlenkübel zum
Kohlenhändler zu reiten, ist eine kühne, aber unrealistische Idee.
Der Ritt auf dem Kübel ist eine Assoziation, die an das Verb
„reiten” (Z. 14) anknüpft. Der Satzbau ist hypotaktisch und
überwindet die düstere Statik der parataktisch-elliptischen Sätze.
Der Ich-Erzähler hofft, dass er mit dieser seltsamen Bitte die
nötige Aufmerksamkeit bekommt. Der Verweis auf seinen Ritt bei der
ersten Ansprache an den Kohlenhändler ist eine Begründung für seine
neue Bitte um Kohlen. Die Aussage „Mein Kübel ist schon so leer,
dass ich auf ihm reiten kann“ (Z. 24) ist aber nicht logisch.
Der Ich-Erzähler hofft, dass seine Wünsche erfüllt werden. Deshalb
sagt er, dass er auf einem Kamel geritten ist. Ein Kamel kann in der
Wüste bei großer Hitze überleben. Der Kübelreiter muss also draußen
der Kälte trotzen, um zum Kohlenhändler zu gelangen. Das ist eine
sehr krasse Umdeutung der Realität. Die Idee mit dem Kübelritt war
der Anfang vom Ende. Das Bild eines Mannes, der auf einem leeren
Kohlenkübel reitet, ist jämmerlich. Es zeigt, dass die Hoffnungen
absurd sind und das Unterfangen zum Scheitern verurteilt ist. Auch
die Worte im inneren Monolog ändern nichts daran. Im Gegenteil, sie
verstärken den Eindruck, dass er in seiner Notlage gänzlich getrübt
ist.
In dieser Trübung des Bewusstseins, positiver: in diesen
Traumfantasien, reitet der Kübelreiter zu seinem Kohlenhändler. Er
hat keinen Kontakt zu anderen Menschen oder Dingen. Der Boden ist
gefroren. Deshalb kann er nicht gehen. Er sitzt auf seinem Eimer. Er
schwebt wie auf einer warmen Strömung. Die Entfernung zwischen ihm
und dem Kohlenhändlerpaar im Kellergewölbe wird besonders deutlich,
als der Kübelreiter eintrifft. Als der Ich-Erzähler am Kellergewölbe
ankommt, schwebt er hoch, während der Kohlenhändler tief unten
kauert. Der Ich-Erzähler hat sich so sehr in seine Fantasie
hineingesteigert, dass er den Kohlenhändler in einem Kellerloch
hausen lässt. Der Kohlenhändler hält die Türen im Keller offen, weil
es so heiß ist (Z 21f.). Der kurze Hauptsatz beendet die euphorische
Stimmung. Jetzt muss der Ich-Erzähler seine Strategie und Taktik in
die Tat umsetzen. Jetzt beginnt der Überlebenskampf. Die Stimme des
Ich-Erzählers klingt, als wäre sie vor Kälte hohl gebrannt. Er ruft
den Kohlehändler. Das klingt nicht gut.
Der Ich-Erzähler glaubt, dass er Erfolg haben wird, wenn der
Kohlenhändler ihn wahrnimmt. Er muss nur so tun, als ob er auf dem
Kübel sitzt und reitet. Dann wird der Kohlenhändler ihm helfen. Die
„Rauchwolken des Atems” (Z. 23) – ein weiteres Wort, das zwei
gegensätzliche Dinge miteinander verbindet – hüllen seine Bitte an
den Kohlenhändler ein. Er bittet ihn um Hilfe und sagt, dass er das
Geld bezahlen wird, sobald er kann.
Der Kohlenhändler will sich bei seiner Frau rückversichern, ob er
etwas gehört hat. Seine Frau strickt auf der warmen Ofenbank. Sie
sagt, sie habe nichts gehört.
Der Kübelreiter hört den kurzen Dialog des Kohlenhändlerpaares. Er
ist froh, dass er überhaupt gehört wurde, aber auch besorgt, dass er
nicht richtig wahrgenommen wurde. Er ruft noch einmal hinunter in
den Keller. Dabei bestätigt er, dass er ein Kunde ist. Die Sätze
sind kurz und atemlos. Der Erzähler ist aufgeregt. Er sagt, er sei
dem Kohlenhändler „treu ergeben” (Z 30f.). Damit bittet er ihn noch
mehr. Er weiß aber auch, dass sie geschäftlich miteinander zu tun
haben. Er sagt, er habe kein Geld. Er hofft, dass er bald wieder
welches hat.
Der Kohlenhändler glaubt, dass er oben auf der Gasse jemand hört. Er
sagt seiner Frau, dass dort jemand sein muss. Er sagt, dass es sich
um eine „alte, eine sehr alte Kundschaft” handelt. Denn nur so kann
er verstehen, warum die Worte des Sprechers auf ihn eine Wirkung
hatten. Der Sprecher hat ihm „zum Herzen gesprochen”, wie es eben
nur sehr alte Kunden fertigbringen. Der Kohlenhändler hat damit
bestätigt, was der Kübelreiter von Anfang an wollte. Er hat aber
auch gezeigt, dass er nur rührt, wenn er Geschäfte machen kann. Ihr
fehlt die religiöse Grundlage, auf die der Kübelreiter vertraut. Der
Kohlenhändler hat eine besondere Beziehung zu seiner Frau. Deshalb
folgt er nicht dem „Strahl des Gebots”, auf dem die Hoffnungen des
Kübelreiters beruhen.
Auch dem Kübelreiter wird das langsam klar. Als er hört, dass die
Frau sagt, dass sich niemand auf der Gasse befindet, und dass alle
Kunden schon versorgt sind, ist er sehr besorgt. Und während er
selbst traurig ist, ruft er hinunter, dass er doch hier auf dem
Kübel sitzt. Er will nicht wahrhaben, dass seine Existenz von der
Kohlenhändlerin geleugnet wird. Aber er geht doch auch auf ihr
Argument ein, indem er es für sich und seine Interessen umdreht.
Wenn die anderen Kunden schon bedient sind, glaubt er, dass der
Kohlenhändler ihm eher helfen wird. Der Kohlenhändler will gerade
gehen, als seine Frau ihn zurückhält. (Z 42) Sie sagt, ihr Mann
riskiert in seinem „Eigensinn“ (Z 45) für jedes Geschäft seine
Gesundheit und sein Wohlergehen. Sie will ihren Mann vor weiteren
Gefühlsduseleien bewahren, auch wenn sie weiß, dass diese sich bei
ihm nur nach den Regeln des Geschäftsverkehrs entfalten. Die Frau
des Kohlenhändlers soll dem Kunden alle möglichen Angebote
unterbreiten. Als sie oben auf der Gasse ankommt, sieht der
Ich-Erzähler, dass sie ihn bemerkt. Er ist sich sicher, dass sie ihn
sieht. Die Bemerkung „Natürlich sieht sie mich gleich” beruhigt ihn.
Aber ob sie ihn wirklich sieht, weiß er nicht. Die Kohlenhändlerin
gibt ihm keine Kohle. Er verspricht, die Kohle nicht sofort zu
bezahlen. Aber das Sechs-Uhr-Läuten der Kirchturmglocken macht ihm
einen Strich durch die Rechnung. Der Kübelreiter versteht nicht, wie
sich seine Worte mit dem Glockenklang vermischen. Der Glockenklang
der Worte des Kübelreiters ist nicht festgelegt. Er zeigt nur an,
was in Zukunft passieren könnte. Das Abendläuten der Kirchenglocken
ist dagegen konkret. Es bedeutet, dass der Kohlenhändler und seine
Frau um 18 Uhr schließen müssen. Die Kirchenglocken scheinen über
den Kübelreiter zu urteilen. Das Urteil ist endgültig. Damit
entzieht es auch den von geschäftlichen Interessen getragenen, in
moralische Form gekleideten Anrührungen des Kohlenhändlers die
Grundlage. Dass dieses Signal dabei noch vom Kirchturm kommt, nimmt
das Motiv vom Beginn der Erzählung wieder auf. In einer von Geld
geprägten Welt haben andere Begriffe keinen Platz. Das zerstört die
Illusionen des Kübelreiters.
Die Kohlenhändlerin erklärt ihrem Mann erneut, sie höre und sehe
nichts. Sie sagt, sie schließt den Laden und erwartet, dass man
wegen der Kälte draußen am nächsten Tag wieder gute Geschäfte macht.
Damit beendet sie die Hoffnungen des Kübelreiters. Er muss im
inneren Monolog feststellen: „Sie sieht nichts und hört nichts.”
Dabei muss er erleben, dass sie etwas anderes tut, als sie sagt. Mit
der abgenommenen Schürze kann sie ihn einfach wegblasen. Der
Kübelreiter muss erkennen, dass sein Kübel nicht stark genug ist, um
das zu verhindern. Der Kübel ist wieder leer und für den Kübelreiter
damit genauso nutzlos wie am Anfang. Er hat keine Chance, sich
festzuhalten.
Von dem starken Willen, nicht zu erfrieren, der am Anfang da war,
ist am Ende nicht mehr viel übrig. Der Kübelreiter verurteilt die
Kohlenhändlerin als „böse” (Z 62). Das wirkt trost- und hilflos wie
die Situation zu Beginn der Geschichte. Der Kübelreiter nimmt sein
Schicksal deshalb apathisch hin. Als die Kohlenhändlerin wieder in
den Keller zurückkehrt, schlägt sie mit der Hand in die Luft. Damit
zeigt sie, dass sie den Kübelreiter wahrgenommen hat. Trotzdem hat
sie seinen Tod in Kauf genommen. Aber auch daran kann man zweifeln.
Denn die Art, wie das weitere Schicksal des Kübelreiters erzählt
wird, stellt der Wirklichkeitswahrnehmung des Kübelreiters in dieser
Situation kein gutes Zeugnis aus. In diesem Fall wäre der Kübelritt
und die Begegnung reine Fantasie. Ein Mensch, der um sein Überleben
kämpft, erwartet seinen Tod und hat keine sozialen Beziehungen.
Die Erzählung hat einen parabolischen Charakter. Sie wird manchmal
auch als Kurzgeschichte bezeichnet.
Das in sozialer Isolation lebende Individuum strebt nach Integration
und Kontakt, um nicht den sozialen Tod zu erleiden. Die Gesellschaft
und ihre Institutionen können ihm diese Wärme schenken, tun dies
aber nicht. Wenn man enttäuscht ist und keine Wärme bekommt, wird
man psychisch und physisch krank. Wer nicht genug Geld hat, um sich
Dinge zu kaufen, wird von der Gesellschaft ausgeschlossen. Früher
war es so, dass man durch gemeinsame Werte zusammengehalten hat.
Heute ist es so, dass man durch Konsum zusammengehalten wird.
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