VERHAFTUNG
[→HL
5] Jemand musste Josef K.
verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines
Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin,
die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal
nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von
seinem Kopfkissen aus die
alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn
mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber,
gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein
Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war
schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das,
ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen,
Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich
darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien.
»Wer sind Sie?« fragte K. und
saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann
aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen,
und sagte bloß seinerseits: »Sie haben geläutet?« »Anna soll mir das
Frühstück bringen«, sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch
Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war.
Aber dieser setzte sich nicht allzu lange seinen Blicken aus, sondern wandte
sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der
offenbar knapp
hinter der Tür stand, zu sagen: »Er will, dass Anna ihm das Frühstück
bringt.« Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang
nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Obwohl der
fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schon früher
gewusst hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer Meldung: »Es ist
unmöglich.« »Das wäre neu«, sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch
seine Hosen an. »Ich will doch sehen, was für Leute im Nebenzimmer sind
und
wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.« Es fiel ihm
zwar gleich ein, dass er das nicht hätte laut sagen müssen und dass er
dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber
es schien ihm jetzt nicht wichtig.
Immerhin fasste es der Fremde so auf, denn er sagte: »Wollen Sie nicht
lieber hier bleiben?« »Ich will weder hier bleiben, noch von Ihnen
angesprochen werden, solange Sie sich
[→HL 6] mir nicht vorstellen.« »Es war gut
gemeint«, sagte der Fremde und öffnete nun freiwillig die Tür. Im
Nebenzimmer, in das
K. langsamer eintrat, als er wollte, sah es auf den
ersten Blick fast genau so aus wie am Abend vorher. Es war das
Wohnzimmer
der Frau Grubach, vielleicht war in diesem mit Möbeln, Decken, Porzellan und
Photographien überfüllten
Zimmer heute ein wenig mehr Raum als sonst,
man
erkannte das nicht gleich, um so weniger, als die Hauptveränderung in der
Anwesenheit eines Mannes bestand, der beim offenen Fenster mit einem Buch
saß, von dem er jetzt aufblickte, »Sie hätten in Ihrem Zimmer bleiben
sollen! Hat es Ihnen denn Franz nicht gesagt?« »Ja, was wollen Sie denn?«
sagte K. und sah von der neuen Bekanntschaft zu dem mit Franz Benannten, der
in der Tür stehen geblieben war, und dann wieder zurück.
Durch das offene
Fenster erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter
Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch
weiterhin alles zu sehen. »Ich will doch Frau Grubach -«, sagte K., machte
eine Bewegung, als reiße er sich von den zwei Männern los, die aber
weit von
ihm entfernt standen, und wollte weitergehen. »Nein«, sagte der Mann beim
Fenster, warf das Buch auf ein Tischchen und stand auf. »Sie dürfen nicht
weggehen, Sie sind ja gefangen.« »Es sieht so aus«, sagte K.
»Und warum denn?« fragte er dann. »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das
zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie.
Das Verfahren ist nun
einmal eingeleitet, und Sie
werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich
gehe über meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede.
Aber ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz, und der ist selbst gegen
alle Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel
Glück
haben wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich
sein.« K. wollte sich setzen, aber nun sah er, dass
im ganzen Zimmer keine
Sitzgelegenheit war, außer dem Sessel beim Fenster. »Sie werden noch einsehen, wie
wahr das alles ist«, sagte Franz und ging gleichzeitig mit dem andern Mann
auf ihn zu. Besonders der letztere überragte K. bedeutend und
klopfte ihm
öfters auf die Schulter.
Beide prüften K.s Nachthemd und sagten, dass er
jetzt ein viel schlechteres Hemd werde anziehen müssen, dass sie aber dieses
Hemd wie auch
seine übrige Wäsche aufbewahren und, wenn seine Sache günstig
ausfallen sollte, ihm wieder zurückgeben würden. »Es ist besser, Sie geben
die Sachen uns als ins Depot«, sagten sie, »denn im Depot kommen öfters
Unterschleife vor und außerdem verkauft man dort alle Sachen nach einer
gewissen Zeit, ohne Rücksicht, ob das betreffende Verfahren zu Ende ist oder
nicht. Und wie lange dauern doch derartige Pro-[→HL
7]zesse, besonders in letzter
Zeit! Sie bekämen dann schließlich allerdings vom Depot den Erlös, aber
dieser Erlös ist erstens an sich schon gering, denn beim Verkauf entscheidet
nicht die Höhe des Angebotes, sondern die Höhe der Bestechung, und weiter
verringern sich solche Erlöse erfahrungsgemäß, wenn sie von Hand zu Hand und
von Jahr zu Jahr weitergegeben werden.« K. achtete auf diese Reden kaum,
das
Verfügungsrecht über seine Sachen, das er vielleicht noch besaß, schätzte er
nicht hoch ein,
viel wichtiger war es ihm, Klarheit über seine Lage zu
bekommen;
in Gegenwart dieser Leute konnte er aber nicht einmal nachdenken,
immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters -
es konnten ja nur
Wächter sein - förmlich freundschaftlich an ihn,
sah er aber auf, dann
erblickte er ein zu diesem dicken Körper gar nicht passendes trockenes,
knochiges Gesicht mit starker, seitlich gedrehter Nase, das sich über ihn
hinweg mit dem anderen Wächter verständigte.
Was waren denn das für
Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an?
K. lebte doch
in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden
aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen? Er neigte stets
dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt
des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen,
selbst wenn alles drohte. Hier schien ihm das aber nicht richtig,
man konnte
zwar das Ganze als Spaß ansehen, als einen groben Spaß, den ihm aus
unbekannten Gründen, vielleicht weil
heute sein dreißigster Geburtstag war,
die Kollegen in der Bank veranstaltet
hatten, es war natürlich möglich,
vielleicht brauchte er nur auf irgendeine Weise den Wächtern ins Gesicht zu
lachen, und sie würden mitlachen, vielleicht waren es Dienstmänner von der
Straßenecke, sie sahen ihnen nicht unähnlich - trotzdem war er diesmal,
förmlich schon seit dem ersten Anblick des Wächters Franz, entschlossen,
nicht den geringsten Vorteil, den er vielleicht gegenüber diesen Leuten
besaß, aus der Hand zu geben. Darin, dass man später sagen würde,
er habe
keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr, wohl aber erinnerte
er sich - ohne dass es sonst seine Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfahrungen
zu lernen - an einige, an sich
unbedeutende Fälle, in denen er zum
Unterschied von seinen Freunden mit Bewusstsein, ohne das geringste Gefühl
für die möglichen Folgen, sich unvorsichtig benommen hatte und dafür durch
das Ergebnis gestraft worden war. Es sollte nicht wieder geschehen,
zumindest nicht diesmal;
war es eine Komödie, so wollte er mitspielen.
Noch war er frei. »Erlauben
Sie«, sagte er und
ging eilig zwischen den Wächtern durch in sein Zimmer.
»Er scheint vernünftig
[→HL 8] zu sein«, hörte er hinter sich sagen. In seinem
Zimmer riss er gleich die Schubladen des Schreibtischs auf, es lag dort
alles in großer Ordnung, aber gerade
die Legitimationspapiere, die er
suchte, konnte er in der Aufregung nicht gleich finden. Schließlich fand er
seine Radfahrlegitimation und wollte schon mit ihr zu den Wächtern gehen,
dann aber schien ihm das Papier zu geringfügig und er suchte weiter, bis er
den Geburtsschein fand. Als er
wieder in das Nebenzimmer zurückkam, öffnete
sich gerade die gegenüberliegende Tür und
Frau Grubach wollte dort
eintreten. Man sah sie nur einen Augenblick, denn kaum hatte sie K. erkannt,
als sie offenbar verlegen wurde, um Verzeihung bat, verschwand und äußerst
vorsichtig die Tür schloss. »Kommen Sie doch herein«, hatte K. gerade noch
sagen können. Nun aber stand er
mit seinen Papieren in der Mitte des
Zimmers, sah noch auf die Tür hin, die sich nicht wieder öffnete, und wurde
erst durch einen Anruf der Wächter aufgeschreckt, die bei dem Tischchen am
offenen Fenster saßen und, wie K. jetzt erkannte,
sein Frühstück verzehrten.
»Warum ist sie nicht eingetreten?« fragte er. »Sie darf nicht«, sagte der
große Wächter. »Sie sind doch verhaftet.« »Wie kann ich denn verhaftet sein?
Und gar auf diese Weise?« »Nun fangen Sie also wieder an«, sagte der Wächter
und tauchte ein Butterbrot ins Honigfässchen. »Solche Fragen beantworten wir
nicht.« »Sie werden sie beantworten
müssen«, sagte K. »Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir
jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.« »Du lieber Himmel!« sagte der
Wächter. »dass Sie sich in Ihre Lage nicht fügen können und dass Sie es
darauf angelegt zu haben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlich
von allen Ihren Mitmenschen am nächsten stehen,
nutzlos zu reizen!« »Es ist
so, glauben Sie es doch«, sagte Franz, führte die Kaffeetasse, die er in der
Hand hielt, nicht zum Mund, sondern sah K. mit einem langen,
wahrscheinlich
bedeutungsvollen, aber unverständlichen Blick an. K. ließ sich,
ohne es zu
wollen, in ein Zwiegespräch der Blicke mit Franz ein, schlug dann aber doch
auf seine Papiere und sagte: »Hier sind meine Legitimationspapiere.« »Was
kümmern uns denn die?« rief nun schon der große Wächter. »Sie führen sich
ärger auf als ein Kind. Was wollen Sie denn? Wollen Sie
Ihren großen,
verfluchten Prozess dadurch zu einem raschen Ende bringen, dass Sie mit uns,
den Wächtern, über Legitimation und Verhaftbefehl diskutieren?
Wir sind
niedrige Angestellte, die sich in einem Legitimationspapier kaum auskennen
und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu tun haben, als dass sie
zehn
Stunden täglich bei Ihnen Wache halten und dafür bezahlt werden. Das ist
alles, was wir sind, trotzdem aber sind wir
[→HL 9] fähig, einzusehen, dass die
hohen Behörden, in deren Dienst wir stehen, ehe sie eine solche Verhaftung
verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung und die Person des
Verhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum.
Unsere Behörde,
soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch
nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz
heißt, von der Schuld angezogen und muss uns Wächter ausschicken. Das ist
Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?« »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte
K. »Desto schlimmer für Sie«, sagte der Wächter. »Es besteht
wohl auch nur
in Ihren Köpfen«, sagte K., er wollte sich irgendwie in die Gedanken der
Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort
einbürgern. Aber der Wächter sagte nur abweisend: »Sie werden es zu fühlen
bekommen.« Franz mischte sich ein und sagte: »Sieh, Willem, er gibt zu, er
kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.« »Du
hast ganz recht, aber ihm kann man nichts begreiflich machen«, sagte der
andere. K. antwortete nichts mehr; muss ich, dachte er, durch das Geschwätz
dieser niedrigsten Organe - sie geben selbst zu, es zu sein - mich noch mehr
verwirren lassen? Sie reden doch jedenfalls von Dingen, die sie gar nicht
verstehen. Ihre Sicherheit ist nur durch ihre Dummheit möglich. Ein paar
Worte, die ich mit einem mir ebenbürtigen Menschen sprechen werde, werden
alles unvergleichlich klarer machen als die längsten Reden mit diesen. Er
ging einige Male in dem freien Raum des Zimmers auf und ab,
drüben sah er
die alte Frau, die einen noch viel älteren Greis zum Fenster gezerrt hatte,
den sie umschlungen hielt. K. musste dieser Schaustellung ein Ende machen:
»Führen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten«, sagte er. »Wenn er es wünscht;
nicht früher«, sagte der Wächter, der Willem genannt worden war. »Und nun
rate ich Ihnen«, fügte er hinzu, »in Ihr Zimmer zu gehen, sich ruhig zu
verhalten und darauf zu warten, was über Sie verfügt werden wird. Wir raten
Ihnen, zerstreuen Sie sich nicht durch nutzlose Gedanken, sondern sammeln
Sie sich, es werden große Anforderungen an Sie gestellt werden. Sie haben
uns nicht so behandelt, wie es unser Entgegenkommen verdient hätte, Sie
haben vergessen, dass wir, mögen wir auch sein was immer, zumindest jetzt
Ihnen gegenüber freie Männer sind, das ist kein kleines Übergewicht.
Trotzdem sind wir bereit,
falls Sie Geld haben, Ihnen ein kleines Frühstück
aus dem Kaffeehaus drüben zu bringen.«
Ohne auf dieses Angebot zu
antworten, stand K. ein Weilchen lang still.
Vielleicht würden ihn die
beiden, wenn er die Tür des folgenden Zimmers oder gar die Tür des
Vorzimmers öffnete, gar nicht zu hindern wagen,
vielleicht wäre es die
einfachste [→HL 10]
Lösung des Ganzen, dass er es auf die Spitze trieb.
Aber
vielleicht würden sie ihn doch packen und, war er einmal niedergeworfen, so
war auch alle Überlegenheit verloren, die er jetzt ihnen gegenüber in
gewisser Hinsicht doch wahrte.
Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor,
wie sie der natürliche Verlauf bringen musste, und
ging in sein Zimmer
zurück, ohne dass von seiner Seite oder von Seite der Wächter ein weiteres
Wort gefallen wäre.
Er warf sich auf sein Bett und
nahm vom Waschtisch einen schönen Apfel, den er sich gestern Abend für das
Frühstück vorbereitet hatte. Jetzt war er sein einziges Frühstück und
jedenfalls, wie er sich beim ersten großen Bissen versicherte, viel besser,
als das Frühstück aus dem schmutzigen Nachtcafé gewesen wäre, das er durch
die Gnade der Wächter hätte bekommen können. Er fühlte sich wohl und
zuversichtlich, in der Bank versäumte er zwar heute Vormittag seinen Dienst,
aber das war bei der verhältnismäßig hohen Stellung, die er dort einnahm,
leicht entschuldigt. Sollte er die wirkliche Entschuldigung anführen? Er
gedachte es zu tun. Würde man ihm nicht glauben, was in diesem Fall
begreiflich war, so konnte er Frau Grubach als Zeugin führen oder auch die
beiden Alten von drüben, die wohl jetzt auf dem Marsch zum
gegenüberliegenden Fenster waren.
Es wunderte K., wenigstens aus dem
Gedankengang der Wächter wunderte es ihn, dass sie ihn in das Zimmer
getrieben und ihn hier allein gelassen hatten, wo er doch zehnfache
Möglichkeit hatte, sich umzubringen.
Gleichzeitig allerdings fragte er sich,
diesmal aus seinem Gedankengang, was für einen Grund er haben könnte, es zu
tun. Etwa weil die zwei nebenan saßen und sein Frühstück abgefangen hatten?
Es wäre so sinnlos gewesen, sich umzubringen, dass er, selbst wenn er es
hätte tun wollen, infolge der Sinnlosigkeit dazu nicht imstande gewesen
wäre. Wäre die geistige Beschränktheit der Wächter nicht so auffallend
gewesen, so hätte man annehmen können, dass auch sie, infolge der gleichen
Überzeugung, keine Gefahr darin gesehen hätten, ihn allein zu lassen. Sie
mochten jetzt, wenn sie wollten, zusehen, wie er zu einem Wandschränkchen
ging, in dem er einen guten Schnaps aufbewahrte, wie er ein Gläschen zuerst
zum Ersatz des Frühstücks leerte und wie er
ein zweites Gläschen dazu
bestimmte, sich Mut zu machen, das letztere nur aus Vorsicht für den
unwahrscheinlichen Fall, dass es nötig sein sollte.
Da erschreckte ihn ein Zuruf
aus dem Nebenzimmer derartig, dass er mit den Zähnen ans Glas schlug. »Der
Aufseher ruft Sie!« hieß es. Es war nur das Schreien, das ihn erschreckte,
dieses kurze, abgehackte, militärische Schreien, das er dem Wächter Franz
gar nicht zugetraut hätte. Der Befehl selbst war ihm sehr willkom-
[→HL 11]men.
»Endlich!« rief er zurück, versperrte den Wandschrank und
eilte sofort ins
Nebenzimmer. Dort standen die zwei Wächter und
jagten ihn, als wäre das
selbstverständlich, wieder in sein Zimmer zurück. »Was fällt Euch ein?«
riefen sie. »Im Hemd wollt Ihr vor den Aufseher?
Er lässt Euch durchprügeln
und uns mit!« »Lasst mich, zum Teufel!« rief K., der schon bis zu seinem
Kleiderkasten zurückgedrängt war, »wenn man mich im Bett überfällt, kann man
nicht erwarten, mich im Festanzug zu finden.« »Es hilft nichts«, sagten die
Wächter, die immer, wenn K. schrie, ganz ruhig, ja fast traurig wurden und
ihn dadurch verwirrten oder gewissermaßen zur Besinnung brachten.
»Lächerliche Zeremonien!« brummte er noch, hob aber schon einen Rock vom
Stuhl und hielt ihn ein Weilchen mit beiden Händen, als unterbreite er ihn
dem Urteil der Wächter. Sie schüttelten die Köpfe. »Es muss ein schwarzer
Rock sein«, sagten sie. K. warf daraufhin den Rock zu Boden und sagte -
er
wusste selbst nicht, in welchem Sinne er es sagte -: »Es ist doch noch nicht
die Hauptverhandlung.« Die Wächter lächelten, blieben aber bei ihrem: »Es
muss ein schwarzer Rock sein.« »Wenn ich dadurch die Sache beschleunige,
soll es mir recht sein«, sagte K., öffnete den Kleiderkasten, suchte lange
unter den vielen Kleidern, wählte sein bestes schwarzes Kleid, ein
Jackettkleid, das durch seine Taille unter den Bekannten fast Aufsehen
gemacht hatte, zog nun auch ein anderes Hemd hervor und
begann, sich
sorgfältig anzuziehen. Im Geheimen
glaubte er, eine Beschleunigung des
Ganzen damit erreicht zu haben, dass die Wächter vergessen hatten, ihn zum
Bad zu zwingen. Er beobachtete sie, ob sie sich vielleicht daran doch
erinnern würden, aber das fiel ihnen natürlich gar nicht ein, dagegen vergaß
Willem nicht, Franz mit der Meldung, dass sich K. anziehe, zum Aufseher zu
schicken.
Als er vollständig angezogen
war, musste er knapp vor Willem
durch das leere Nebenzimmer in das folgende
Zimmer gehen, dessen Tür mit beiden Flügeln bereits geöffnet war.
Dieses
Zimmer wurde, wie K. genau wusste, seit kurzer Zeit von einem Fräulein
Bürstner, einer Schreibmaschinistin, bewohnt, die
sehr früh in die Arbeit zu
gehen pflegte, spät nach Hause kam und
mit der K. nicht viel mehr als die
Grußworte gewechselt hatte. Jetzt war das
Nachttischchen von ihrem Bett als
Verhandlungstisch in die Mitte des Zimmers gerückt, und der Aufseher saß
hinter ihm. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und einen Arm auf die
Rückenlehne des Stuhles gelegt.
In einer Ecke des Zimmers
standen drei junge Leute und sahen die
Photographien des Fräulein Bürstner
an, die in einer an der Wand aufgehängten Matte steckten. An der Klinke des
offenen Fensters hing eine weiße Bluse. Im
[→HL 12]
gegenüberliegenden Fenster lagen
wieder die zwei Alten, doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn
hinter ihnen, sie weit überragend, stand ein Mann mit einem auf der Brust
offenen Hemd, der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und
drehte. »Josef K.?« fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.s zerstreute
Blicke auf sich zu lenken. K. nickte. »Sie sind durch die Vorgänge des
heutigen Morgens wohl sehr überrascht?« fragte der Aufseher und verschob
dabei mit beiden Händen die wenigen Gegenstände, die auf dem Nachttischchen
lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen, als seien
es Gegenstände, die er zur Verhandlung benötige. »Gewiss«, sagte K., und das
Wohlgefühl, endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen
und über
seine Angelegenheit mit ihm sprechen zu können, ergriff ihn. »Gewiss, ich
bin überrascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht.« »Nicht sehr
überrascht?« fragte der Aufseher und stellte nun die Kerze in die Mitte des
Tischchens, während er die anderen Sachen um sie gruppierte. »Sie
missverstehen mich vielleicht«, beeilte sich K. zu bemerken. »Ich meine« -
hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sessel um.
»Ich kann mich doch setzen?«
fragte er. »Es ist nicht üblich«, antwortete der Aufseher. »Ich meine«,
sagte nun K. ohne weitere Pause, »ich bin allerdings sehr überrascht, aber
man ist, wenn man dreißig Jahre auf der Welt ist und sich allein hat
durchschlagen müssen, wie es mir beschieden war, gegen Überraschungen
abgehärtet und nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die heutige nicht.«
»Warum besonders die heutige nicht?« »Ich will nicht sagen, dass ich das
Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mir die Veranstaltungen, die
gemacht wurden, doch zu umfangreich. Es müssten alle Mitglieder der Pension
daran beteiligt sein und auch Sie alle, das ginge über die Grenzen eines
Spaßes. Ich will also nicht sagen, dass es ein Spaß ist.« »Ganz richtig«,
sagte der Aufseher und
sah nach, wie viel Zündhölzchen in der
Zündhölzchenschachtel waren.
»Andererseits aber«, fuhr K.
fort und wandte sich hierbei an alle und hätte gern sogar die drei bei den
Photographien sich zugewendet, »andererseits aber kann
die Sache auch nicht
viel Wichtigkeit haben. Ich
folgere das daraus, dass ich angeklagt bin, aber
nicht die geringste Schuld auffinden kann, wegen deren man mich anklagen
könnte. Aber auch das ist
nebensächlich, die Hauptfrage ist, von wem bin ich angeklagt? Welche Behörde
führt das Verfahren? Sind Sie Beamte? Keiner hat eine Uniform, wenn man
nicht Ihr Kleid« - hier wandte er sich an Franz - »eine Uniform nennen will,
aber es ist doch eher ein Reiseanzug. In diesen
[→HL 13] Fragen
verlange ich
Klarheit, und ich
bin überzeugt, dass wir nach dieser Klarstellung
voneinander den herzlichsten Abschied werden nehmen können.« Der Aufseher
schlug die Zündhölzchenschachtel auf den Tisch nieder. »Sie befinden sich in
einem großen Irrtum«, sagte er. »Diese Herren hier und ich sind
für Ihre
Angelegenheit vollständig nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast
nichts. Wir könnten die regelrechtesten Uniformen tragen, und Ihre Sache
würde um nichts schlechter stehen.
Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen,
dass Sie angeklagt sind oder vielmehr, ich weiß nicht, ob Sie es sind.
Sie
sind verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht. Vielleicht haben die
Wächter etwas anderes geschwätzt, dann ist es eben nur Geschwätz gewesen.
Wenn ich nun aber auch Ihre Fragen nicht beantworte, so kann ich Ihnen doch
raten, denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird,
denken Sie lieber mehr an sich. Und
machen Sie keinen solchen Lärm mit dem
Gefühl Ihrer Unschuld, es stört den nicht gerade schlechten Eindruck, den
Sie im übrigen machen.
Auch sollten Sie überhaupt im Reden zurückhaltender
sein, fast alles, was Sie vorhin gesagt haben, hätte man auch, wenn Sie nur
ein paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen können, außerdem war
es nichts für Sie übermäßig Günstiges.«
K. starrte den Aufseher an.
Schulmäßige Lehren bekam er hier von einem vielleicht jüngeren Menschen? Für
seine Offenheit wurde er mit einer Rüge bestraft? Und über den Grund seiner
Verhaftung und über deren Auftraggeber erfuhr er nichts? Er
geriet in eine
gewisse Aufregung, ging auf und ab, woran ihn niemand hinderte, schob seine
Manschetten zurück, befühlte die Brust, strich sein Haar zurecht, kam an den
drei Herren vorüber, sagte: »Es ist ja sinnlos«, worauf sich diese zu ihm
umdrehten und ihn entgegenkommend, aber ernst ansahen und machte endlich
wieder vor dem Tisch des Aufsehers halt. »Der Staatsanwalt Hasterer ist mein
guter Freund«, sagte er, »kann ich ihm telephonieren?«, »Gewiss«, sagte der
Aufseher, »aber ich weiß nicht, welchen Sinn das haben sollte, es müsste
denn sein, dass Sie irgendeine private Angelegenheit mit ihm zu besprechen
haben.« »Welchen Sinn?« rief K., mehr bestürzt als geärgert. »Wer sind Sie
denn? Sie wollen einen Sinn und führen dieses Sinnloseste auf, das es gibt?
Ist es nicht zum Steinerweichen? Die Herren haben mich zuerst überfallen,
und jetzt sitzen oder stehen sie hier herum und lassen mich vor Ihnen die
Hohe Schule reiten. Welchen Sinn es hätte, an einen Staatsanwalt zu telephonieren, wenn ich angeblich verhaftet bin?
Gut, ich werde nicht telephonieren.« »Aber doch«, sagte der Aufseher und streckte die Hand zum
Vorzimmer aus, wo das Telephon war, »bit-[→HL
14]te, telephonieren Sie doch.« »Nein,
ich will nicht mehr«, sagte K. und ging zum Fenster. Drüben war noch die
Gesellschaft beim Fenster und schien nur jetzt dadurch, dass
K. ans Fenster
herangetreten war, in der Ruhe des Zuschauens ein wenig gestört.
Die Alten
wollten sich erheben, aber der Mann hinter ihnen beruhigte sie. »Dort sind
auch solche Zuschauer«, rief K. ganz laut dem Aufseher zu und zeigte mit dem
Zeigefinger hinaus. »Weg von dort«, rief er dann hinüber.
Die drei wichen
auch sofort ein paar Schritte zurück, die beiden Alten sogar noch hinter den
Mann, der sie mit seinem breiten Körper deckte und, nach seinen
Mundbewegungen zu schließen, irgend etwas auf die Entfernung hin
Unverständliches sagte. Ganz aber verschwanden sie nicht, sondern schienen
auf den Augenblick zu warten, in dem sie sich unbemerkt wieder dem Fenster
nähern könnten. »Zudringliche, rücksichtslose Leute!« sagte K., als er sich
ins Zimmer zurückwendete. Der Aufseher stimmte ihm
möglicherweise zu, wie K.
mit einem Seitenblick zu erkennen
glaubte. Aber es war ebenso gut möglich,
dass er gar nicht zugehört hatte, denn er hatte eine Hand fest auf den Tisch
gedrückt und schien die Finger ihrer Länge nach zu vergleichen. Die zwei
Wächter saßen auf einem mit einer Schmuckdecke verhüllten Koffer und rieben
ihre Knie. Die drei jungen Leute hatten die Hände in die Hüften gelegt und
sahen ziellos herum. Es war still wie in irgendeinem vergessenen Bureau. »Nun,
meine Herren«, rief K., es schien ihm einen Augenblick lang, als trage er
alle auf seinen Schultern, »Ihrem Aussehen nach zu schließen, dürfte meine
Angelegenheit beendet sein. Ich bin der Ansicht, dass es am besten ist, über
die Berechtigung oder Nichtberechtigung Ihres Vorgehens nicht mehr
nachzudenken und der Sache durch einen gegenseitigen Händedruck einen
versöhnlichen Abschluss zu geben. Wenn auch Sie meiner Ansicht sind, dann
bitte -« und er
trat an den Tisch des Aufsehers hin und reichte ihm die
Hand. Der Aufseher hob die Augen, nagte an den Lippen und sah auf K.s
ausgestreckte Hand; noch immer
glaubte K., der Aufseher werde einschlagen.
Dieser aber stand auf, nahm einen harten, runden Hut, der auf Fräulein
Bürstners Bett lag, und setzte sich ihn vorsichtig mit beiden Händen auf,
wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut. »Wie einfach Ihnen alles
scheint!« sagte er dabei zu K., »wir sollten der Sache einen versöhnlichen
Abschluss geben, meinten Sie? Nein, nein, das geht wirklich nicht. Womit ich
andererseits durchaus nicht sagen will, dass Sie verzweifeln sollen. Nein, warum denn? Sie sind nur
verhaftet, nichts weiter. Das hatte ich Ihnen mitzuteilen, habe es getan und
habe auch gesehen, wie Sie es aufgenommen haben.
Damit ist es für heute genug
und wir [→HL 15]
können uns verabschieden, allerdings nur vorläufig. Sie werden wohl
jetzt in die Bank gehen wollen?« »In die Bank?« fragte K., »ich dachte, ich
wäre verhaftet.« K. fragte mit einem gewissen Trotz, denn obwohl sein
Handschlag nicht angenommen worden war, fühlte er sich, insbesondere seitdem
der Aufseher aufgestanden war, immer unabhängiger von allen diesen Leuten.
Er spielte mit ihnen. Er hatte die
Absicht, falls sie weggehen sollten, bis
zum Haustor nachzulaufen und ihnen seine Verhaftung anzubieten. Darum
wiederholte er auch: »Wie kann ich denn in die Bank gehen, da ich verhaftet
bin?« »Ach so«, sagte der Aufseher, der schon bei der Tür war, »Sie haben
mich missverstanden. Sie sind verhaftet, Gewiss, aber das soll Sie nicht
hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen
Lebensweise nicht gehindert sein.« »Dann ist das Verhaftetsein nicht sehr
schlimm«, sagte K. und ging nahe an den Aufseher heran. »Ich meinte es
niemals anders«, sagte dieser. »Es scheint aber dann nicht einmal die
Mitteilung der Verhaftung sehr notwendig gewesen zu sein«, sagte K. und ging
noch näher. Auch die anderen hatten sich genähert.
Alle waren jetzt auf
einem engen Raum bei der Tür versammelt. »Es war meine Pflicht«, sagte der
Aufseher. »Eine dumme Pflicht«, sagte K. unnachgiebig. »Mag sein«,
antwortete der Aufseher, »aber wir wollen mit solchen Reden nicht unsere
Zeit verlieren. Ich hatte angenommen, dass Sie in die Bank gehen wollen. Da
Sie auf alle Worte aufpassen, füge ich hinzu: ich zwinge Sie nicht, in die
Bank zu gehen, ich hatte nur angenommen, dass Sie es wollen. Und um Ihnen
das zu erleichtern und Ihre Ankunft in der Bank möglichst unauffällig zu
machen, habe ich diese drei Herren, Ihre Kollegen, hier zu Ihrer Verfügung
gestellt.« »Wie?« rief K. und staunte die drei an.
Diese so
uncharakteristischen, blutarmen, jungen Leute, die er immer noch nur als
Gruppe bei den Photographien in der Erinnerung hatte, waren tatsächlich
Beamte aus seiner Bank, nicht Kollegen, das war zu viel gesagt und
bewies
eine Lücke in der Allwissenheit des Aufsehers, aber
untergeordnete Beamte
aus der Bank waren es allerdings.
Wie hatte K. das übersehen können? Wie
hatte er doch hingenommen sein müssen von dem Aufseher und den Wächtern, um
diese drei nicht zu erkennen! Den steifen, die Hände schwingenden
Rabensteiner, den blonden Kullich mit den tiefliegenden Augen und Kaminer
mit dem unausstehlichen, durch eine chronische Muskelzerrung bewirkten
Lächeln. »Guten Morgen«, sagte K. nach einem Weilchen und reichte den sich
korrekt verbeugenden Herren die Hand. »Ich habe Sie gar nicht erkannt. Nun
werden wir also an die Arbeit gehen, nicht?« Die Herren nickten lachend und
eifrig, als [→HL 16] hätten sie die ganze Zeit über darauf gewartet, nur als K.
seinen Hut vermisste, der in seinem Zimmer liegen geblieben war, liefen sie
sämtlich hintereinander, ihn holen, was immerhin auf eine gewisse
Verlegenheit schließen ließ. K. stand still und sah ihnen durch die zwei
offenen Türen nach, der letzte war natürlich der gleichgültige Rabensteiner,
der bloß einen eleganten Trab angeschlagen hatte. Kaminer überreichte den Hut,
und K. musste sich, wie dies übrigens auch öfters in der Bank nötig war,
ausdrücklich sagen, dass
Kaminers Lächeln nicht Absicht war, ja dass er
überhaupt absichtlich nicht lächeln konnte.
Im Vorzimmer öffnete dann Frau Grubach, die
gar nicht sehr schuldbewusst aussah, der ganzen Gesellschaft
die Wohnungstür, und K. sah, wie so oft, auf
ihr Schürzenband nieder, das so
unnötig tief in ihren
mächtigen Leib einschnitt.
Unten entschloss sich K.,
die Uhr in der Hand, ein Automobil zu nehmen, um die schon halbstündige
Verspätung nicht unnötig zu vergrößern.
Kaminer lief zur Ecke, um den
Wagen zu holen, die zwei anderen versuchten
offensichtlich, K. zu
zerstreuen, als plötzlich Kullich auf das gegenüberliegende Haustor zeigte,
in dem eben der große Mann mit dem blonden Spitzbart erschien und, im ersten
Augenblick ein wenig verlegen darüber, dass er sich jetzt in seiner ganzen
Größe zeigte, zur Wand zurücktrat und sich anlehnte.
Die Alten waren wohl
noch auf der Treppe. K. ärgerte sich über Kullich, dass dieser auf den Mann
aufmerksam machte, den er selbst schon früher gesehen, ja den er sogar
erwartet hatte. »Schauen Sie nicht hin!« stieß er hervor,
ohne zu bemerken,
wie auffallend eine solche Redeweise gegenüber selbständigen Männern war. Es
war aber auch keine Erklärung nötig, denn gerade kam das Automobil, man
setzte sich und fuhr los.
Da erinnerte sich K., dass er das Weggehen des
Aufsehers und der Wächter gar nicht bemerkt hatte, der Aufseher hatte ihm
die drei Beamten verdeckt und nun wieder die Beamten den Aufseher. Viel
Geistesgegenwart bewies das nicht, und K. nahm sich vor, sich in dieser
Hinsicht genauer zu beobachten. Doch drehte er sich noch
unwillkürlich um
und beugte sich über das Hinterdeck des Automobils vor, um
möglicherweise
den Aufseher und die Wächter noch zu sehen. Aber gleich wendete er sich
wieder zurück und lehnte sich bequem in die Wagenecke, ohne auch nur den
Versuch gemacht zu haben, jemanden zu suchen.
Obwohl es nicht den Anschein
hatte, hätte er gerade jetzt Zuspruch nötig gehabt, aber nun
schienen die
Herren ermüdet, Rabensteiner sah rechts aus dem Wagen, Kullich links, und
nur Kaminer stand mit seinem Grinsen zur Verfügung, über das einen Spaß zu
machen leider die Menschlichkeit verbot.
[→HL 17]
GESPRÄCH MIT FRAU GRUBACH -
DANN FRÄULEIN BÜRSTNER
In diesem Frühjahr pflegte K. die
Abende in der Weise zu verbringen, dass er nach der Arbeit, wenn dies noch
möglich war - er saß meistens bis neun Uhr im Bureau -, einen kleinen
Spaziergang allein oder mit Beamten machte und dann in eine Bierstube ging,
wo er an einem Stammtisch mit meist älteren Herren gewöhnlich bis elf Uhr beisammensaß. Es gab aber auch Ausnahmen von dieser Einteilung, wenn K. zum
Beispiel vom Bankdirektor, der seine Arbeitskraft und Vertrauenswürdigkeit
sehr schätzte, zu einer Autofahrt oder zu einem Abendessen in seiner Villa
eingeladen wurde. Außerdem ging K.
einmal in der Woche zu einem Mädchen
namens Elsa, die während der Nacht bis in den späten Morgen als Kellnerin in
einer Weinstube bediente und während des Tages nur vom Bett aus Besuche
empfing.
An diesem Abend aber - der Tag war unter angestrengter Arbeit und vielen
ehrenden und freundschaftlichen Geburtstagswünschen schnell verlaufen -
wollte K. sofort nach Hause gehen. In allen kleinen Pausen der Tagesarbeit
hatte er daran gedacht; ohne genau zu wissen, was er meinte,
schien es ihm,
als ob durch die Vorfälle des Morgens eine große Unordnung in der ganzen
Wohnung der Frau Grubach verursacht worden sei und dass gerade er nötig sei,
um die Ordnung wiederherzustellen. War aber einmal diese Ordnung
hergestellt, dann war jede Spur jener Vorfälle ausgelöscht und alles nahm
seinen alten Gang wieder auf. Insbesondere von den drei Beamten war nichts
zu befürchten, sie waren wieder in die große Beamtenschaft der Bank
versenkt, es war keine Veränderung an ihnen zu bemerken. K. hatte sie öfters
einzeln und gemeinsam in sein Bureau berufen, zu keinem andern Zweck, als um
sie zu beobachten; immer hatte er sie befriedigt entlassen können. Als er um
halb zehn Uhr abends vor dem Hause, in dem er wohnte, ankam, traf er im
Haustor einen jungen Burschen, der dort breitbeinig stand und eine Pfeife
rauchte. »Wer sind Sie?« fragte K. sofort und brachte sein Gesicht nahe an
den Burschen, man sah nicht viel im Halbdunkel des Flurs. »Ich bin der Sohn
des Hausmeisters, gnädiger Herr«, antwortete der Bursche, nahm die Pfeife
aus dem Mund und trat zur Seite. »Der Sohn des Hausmeisters?« fragte K. und
klopfte mit seinem Stock ungeduldig den Boden. »Wünscht der gnädige Herr
etwas? Soll ich den Vater holen?« »Nein, nein«, sagte K., in seiner Stimme
lag etwas Verzeihendes, als habe der Bursche etwas Böses ausgeführt, er aber
ver- [→HL 18]zeihe ihm. »Es ist gut«, sagte er dann und ging weiter, aber ehe er die
Treppe hinaufstieg, drehte er sich noch einmal um.
Er hätte geradewegs in sein
Zimmer gehen können, aber da er mit Frau Grubach sprechen wollte, klopfte er
gleich an ihre Tür an. Sie saß mit einem Strickstrumpf am Tisch, auf dem
noch ein Haufen alter Strümpfe lag. K. entschuldigte sich zerstreut, dass er
so spät komme, aber Frau Grubach war sehr freundlich und wollte keine
Entschuldigung hören, für ihn sei sie immer zu sprechen, er wisse sehr gut,
dass er ihr bester und liebster Mieter sei. K. sah sich im Zimmer um, es war
wieder vollkommen in seinem alten Zustand, das Frühstücksgeschirr, das früh
auf dem Tischchen beim Fenster gestanden hatte, war auch schon weggeräumt.
»Frauenhände bringen doch im stillen viel fertig«, dachte er, er hätte das
Geschirr vielleicht auf der Stelle zerschlagen, aber gewiss nicht
hinaustragen können. Er sah Frau Grubach mit einer gewissen Dankbarkeit an.
»Warum arbeiten Sie noch so spät?« fragte er. Sie saßen nun beide am Tisch,
und K. vergrub von Zeit zu Zeit seine Hand in die Strümpfe. »Es gibt viel
Arbeit«, sagte sie, »während des Tages gehöre ich den Mietern; wenn ich
meine Sachen in Ordnung bringen will, bleiben mir nur die Abende.« »Ich habe
Ihnen heute wohl noch eine außergewöhnliche Arbeit gemacht?« »Wieso denn?«
fragte sie, etwas eifriger werdend, die Arbeit ruhte in ihrem Schoße. »Ich
meine die Männer, die heute früh hier waren.« »Ach so«, sagte sie und kehrte
wieder in ihre Ruhe zurück, »das hat mir keine besondere Arbeit gemacht.« K.
sah schweigend zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vornahm. Sie scheint
sich zu wundern, dass ich davon spreche, dachte er, sie scheint es nicht für
richtig zu halten, dass ich davon spreche. Desto wichtiger ist es, dass ich
es tue. Nur mit einer alten Frau kann ich davon sprechen. »Doch, Arbeit hat
es gewiss gemacht«, sagte er dann, »aber es wird nicht wieder vorkommen.«
»Nein, das kann nicht wieder vorkommen«, sagte sie bekräftigend und lächelte
K. fast wehmütig an. »Meinen Sie das ernstlich?« fragte K. »Ja«, sagte sie
leiser, »aber vor allem dürfen Sie es nicht zu schwer nehmen. Was geschieht
nicht alles in der Welt! Da Sie so vertraulich mit mir reden, Herr K., kann
ich Ihnen ja eingestehen, dass ich ein wenig hinter der Tür gehorcht habe
und dass mir auch die beiden Wächter einiges erzählt haben. Es handelt sich
ja um Ihr Glück und das liegt mir wirklich am Herzen, mehr als mir
vielleicht zusteht, denn ich bin ja bloß die Vermieterin. Nun, ich habe also
einiges gehört, aber ich kann nicht sagen, dass es etwas besonders Schlimmes
war. Nein. Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so wie ein Dieb verhaftet
wird. Wenn man wie ein Dieb verhaftet wird, so ist es schlimm, aber diese
Verhaftung -. Es [→HL 19] kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, entschuldigen Sie, wenn
ich etwas Dummes sage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich zwar
nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muss.«
»Es ist gar nichts Dummes, was
Sie gesagt haben, Frau Grubach, wenigstens bin auch ich zum Teil Ihrer
Meinung, nur urteile ich über das Ganze noch schärfer als Sie und halte es
einfach nicht einmal für etwas Gelehrtes, sondern überhaupt für nichts. Ich
wurde überrumpelt, das war es. Wäre ich gleich nach dem Erwachen, ohne mich
durch das Ausbleiben der Anna beirren zu lassen, aufgestanden und ohne
Rücksicht auf irgend jemand, der mir in den Weg getreten wäre, zu Ihnen
gegangen, hätte ich diesmal ausnahmsweise etwa in der Küche gefrühstückt,
hätte mir von Ihnen die Kleidungsstücke aus meinem Zimmer bringen lassen,
kurz, hätte ich vernünftig gehandelt, so wäre nichts weiter geschehen, es
wäre alles, was werden wollte, erstickt worden. Man ist aber so wenig
vorbereitet. In der Bank zum Beispiel bin ich vorbereitet, dort könnte mir
etwas Derartiges unmöglich geschehen, ich habe dort einen eigenen Diener,
das allgemeine Telephon und das Bureautelephon stehen vor mir auf dem Tisch,
immerfort kommen Leute, Parteien und Beamte, außerdem aber und vor allem bin
ich dort immerfort im Zusammenhang der Arbeit, daher geistesgegenwärtig, es
würde mir geradezu ein Vergnügen machen, dort einer solchen Sache
gegenübergestellt zu werden. Nun, es ist vorüber und ich wollte eigentlich
auch gar nicht mehr darüber sprechen, nur Ihr Urteil, das Urteil einer
vernünftigen Frau, wollte ich hören und bin sehr froh, dass wir darin
übereinstimmen. Nun müssen Sie mir die Hand reichen, eine solche
Übereinstimmung muss durch Handschlag bekräftigt werden.«
Ob sie mir die Hand reichen
wird? Der Aufseher hat mir die Hand nicht gereicht, dachte er und sah die
Frau anders als früher, prüfend an. Sie stand auf, weil auch er aufgestanden
war, sie war ein wenig befangen, weil ihr nicht alles, was K. gesagt hatte,
verständlich gewesen war. Infolge dieser Befangenheit sagte sie aber etwas,
was sie gar nicht wollte und was auch gar nicht am Platze war: »Nehmen Sie
es doch nicht so schwer, Herr K.«, sagte sie, hatte Tränen in der Stimme und
vergaß natürlich auch den Handschlag. »Ich wüsste nicht, dass ich es schwer
nehme«, sagte K., plötzlich ermüdet und das Wertlose aller Zustimmungen
dieser Frau einsehend.
Bei der Tür fragte er noch:
»Ist Fräulein Bürstner zu Hause?« »Nein«, sagte Frau Grubach und lächelte
bei dieser trockenen Auskunft mit einer verspäteten vernünftigen Teilnahme.
»Sie ist im Theater. Wollten Sie etwas von ihr? Soll ich ihr etwas
ausrich-[→HL 20]ten?« »Ach, ich wollte nur ein paar Worte mit ihr reden.« »Ich weiß
leider nicht, wann sie kommt; wenn sie im Theater ist, kommt sie gewöhnlich
spät.« »Das ist ja ganz gleichgültig«, sagte K. und drehte schon den
gesenkten Kopf der Tür zu, um wegzugehen, »ich wollte mich nur bei ihr
entschuldigen, dass ich heute ihr Zimmer in Anspruch genommen habe.« »Das
ist nicht nötig, Herr K., Sie sind zu rücksichtsvoll, das Fräulein weiß ja
von gar nichts, sie war seit dem frühen Morgen noch nicht zu Hause, es ist
auch schon alles in Ordnung gebracht, sehen Sie selbst.« Und sie öffnete die
Tür zu Fräulein Bürstners Zimmer. »Danke, ich glaube es«, sagte K., ging
dann aber doch zu der offenen Tür. Der Mond schien still in das dunkle
Zimmer. Soviel man sehen konnte, war wirklich alles an seinem Platz, auch
die Bluse hing nicht mehr an der Fensterklinke. Auffallend hoch
schienen die
Polster im Bett, sie lagen zum Teil im Mondlicht. »Das Fräulein kommt oft
spät nach Hause«, sagte K. und sah Frau Grubach an, als trage sie die
Verantwortung dafür. »Wie eben junge Leute sind!« sagte Frau Grubach
entschuldigend. »Gewiss, gewiss«, sagte K., »es kann aber zu weit gehen.«
»Das kann es«, sagte Frau
Grubach, »wie sehr haben Sie recht, Herr K. Vielleicht sogar in diesem Fall.
Ich will Fräulein Bürstner gewiss nicht verleumden, sie ist ein gutes,
liebes Mädchen, freundlich, ordentlich, pünktlich, arbeitsam, ich schätze
das alles sehr, aber eines ist wahr, sie sollte stolzer, zurückhaltender
sein. Ich habe sie in diesem Monat schon zweimal in entlegenen Straßen und
immer mit einem andern Herrn gesehen. Es ist mir sehr peinlich, ich erzähle
es, beim wahrhaftigen Gott, nur Ihnen, Herr K., aber es wird sich nicht
vermeiden lassen, dass ich auch mit dem Fräulein selbst darüber spreche. Es
ist übrigens nicht das Einzige, das sie mir verdächtig macht.« »Sie sind auf
ganz falschem Weg«, sagte K. wütend und fast unfähig, es zu verbergen,
»übrigens haben Sie offenbar auch meine Bemerkung über das Fräulein
missverstanden, so war es nicht gemeint. Ich warne Sie sogar aufrichtig, dem
Fräulein irgend etwas zu sagen, Sie sind durchaus im Irrtum, ich kenne das
Fräulein sehr gut, es ist nichts davon wahr, was Sie sagten. Übrigens,
vielleicht gehe ich zu weit, ich will Sie nicht hindern, sagen Sie ihr, was
Sie wollen. Gute Nacht.« »Herr K.«, sagte Frau Grubach bittend und eilte K.
bis zu seiner Tür nach, die er schon geöffnet hatte, »ich will ja noch gar
nicht mit dem Fräulein reden, natürlich will ich sie vorher noch weiter
beobachten, nur Ihnen habe ich anvertraut, was ich wusste. Schließlich muss
es doch im Sinne jedes Mieters sein, wenn man die Pension rein zu erhalten
sucht, und nichts anderes ist mein Bestreben dabei.« »Die Reinheit!« rief K.
noch durch die Spalte der Tür, »wenn Sie die Pension rein er-[→HL
21]halten wollen,
müssen Sie zuerst mir kündigen.« Dann schlug er die Tür zu, ein leises
Klopfen beachtete er nicht mehr.
Dagegen beschloss er, da er gar
keine Lust zum Schlafen hatte, noch wach zu bleiben und bei dieser Gelegenheit
auch festzustellen, wann Fräulein Bürstner kommen würde.
Vielleicht wäre es dann auch
möglich, so unpassend es sein mochte, noch ein paar Worte mir ihr zu reden.
Als er im Fenster lag und die müden Augen drückte, dachte er einen
Augenblick sogar daran, Frau Grubach zu bestrafen und Fräulein Bürstner zu
überreden, gemeinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber erschien ihm das
entsetzlich übertrieben, und er hatte sogar den Verdacht gegen sich, dass er
darauf ausging, die Wohnung wegen der Vorfälle am Morgen zu wechseln. Nichts
wäre unsinniger und vor allem zweckloser und verächtlicher gewesen. Als er
des Hinausschauens auf die leere Straße überdrüssig geworden war, legte er
sich auf das Kanapee, nachdem er die Tür zum Vorzimmer ein wenig geöffnet
hatte, um jeden, der die Wohnung betrat, gleich vom Kanapee aus sehen zu
können. Etwa bis elf Uhr lag er ruhig, eine Zigarre rauchend, auf dem
Kanapee. Von da ab hielt er es aber nicht mehr dort aus, sondern ging ein
wenig ins Vorzimmer, als könne er dadurch die Ankunft des Fräulein Bürstner
beschleunigen. Er hatte kein besonderes Verlangen nach ihr, er konnte sich
nicht einmal genau erinnern, wie sie aussah, aber nun wollte er mit ihr
reden und es reizte ihn, dass sie durch ihr spätes Kommen auch noch in den
Abschluss dieses Tages Unruhe und Unordnung brachte. Sie war auch schuld
daran, dass er heute nicht zu Abend gegessen und dass er
den für heute
beabsichtigten Besuch bei Elsa unterlassen hatte. Beides konnte er
allerdings noch dadurch nachholen, dass er jetzt in das Weinlokal ging, in
dem Elsa bedienstet war. Er wollte es auch noch später nach der Unterredung
mit Fräulein Bürstner tun.
Es war halb zwölf vorüber, als jemand
im Treppenhaus zu hören war. K., der, seinen Gedanken hingegeben, im
Vorzimmer so, als wäre es sein eigenes Zimmer, laut auf und ab ging,
flüchtete hinter seine Tür. Es war Fräulein Bürstner, die gekommen war.
Fröstelnd zog sie, während sie
die Tür versperrte, einen seidenen Schal um ihre schmalen Schultern
zusammen. Im nächsten Augenblick musste sie in ihr Zimmer gehen, in das K.
gewiss um Mitternacht nicht eindringen durfte; er musste sie also jetzt
ansprechen, hatte aber unglücklicherweise versäumt, das elektrische Licht in
seinem Zimmer anzudrehen, so dass sein Vortreten aus dem dunklen Zimmer den
Anschein eines Überfalls hatte und wenigstens sehr erschrecken musste. In
seiner Hilflosigkeit und da [→HL
22] keine Zeit zu verlieren war, flüsterte er durch
den Türspalt: »Fräulein Bürstner.«
Es klang wie eine Bitte, nicht
wie ein Anruf. »Ist jemand hier?« fragte Fräulein Bürstner und sah sich mit
großen Augen um. »Ich bin es«, sagte K. und trat vor. »Ach, Herr K.!« sagte
Fräulein Bürstner lächelnd. »Guten Abend«, und sie reichte ihm die Hand.
»Ich wollte ein paar Worte mit Ihnen sprechen, wollen Sie mir das jetzt
erlauben?« »Jetzt?« fragte Fräulein Bürstner, »muss es jetzt sein? Es ist
ein wenig sonderbar, nicht?« »Ich warte seit neun Uhr auf Sie.« »Nun ja, ich
war im Theater, ich wusste doch nichts von Ihnen.« »Der Anlass für das, was
ich Ihnen sagen will, hat sich erst heute ergeben.«
»So, nun ich habe ja nichts
Grundsätzliches dagegen, außer dass ich zum Hinfallen müde bin. Also kommen
Sie auf ein paar Minuten in mein Zimmer. Hier könnten wir uns auf keinen
Fall unterhalten, wir wecken ja alle und das wäre mir unseretwegen noch
unangenehmer als der Leute wegen. Warten Sie hier, bis ich in meinem Zimmer
angezündet habe, und drehen Sie dann hier das Licht ab.« K. tat so, wartete
dann aber noch bis Fräulein Bürstner ihn aus ihrem Zimmer nochmals leise
aufforderte zu kommen. »Setzen Sie sich«, sagte sie und zeigte auf die
Ottomane, sie selbst blieb aufrecht am Bettpfosten trotz der Müdigkeit, von
der sie gesprochen hatte; nicht einmal ihren kleinen, aber mit einer
Überfülle von Blumen geschmückten Hut legte sie ab.
»Was wollten Sie also? Ich bin
wirklich neugierig.« Sie kreuzte leicht die Beine. »Sie werden vielleicht
sagen«, begann K., »dass die Sache nicht so dringend war, um jetzt
besprochen zu werden, aber -« »Einleitungen überhöre ich immer«, sagte
Fräulein Bürstner. »Das erleichtert meine Aufgabe«, sagte K. »Ihr Zimmer ist
heute früh, gewissermaßen durch meine Schuld, ein wenig in Unordnung
gebracht worden, es geschah durch fremde Leute gegen meinen Willen und doch,
wie gesagt, durch meine Schuld; dafür wollte ich um Entschuldigung bitten.«
»Mein Zimmer?« fragte Fräulein Bürstner und sah statt des Zimmers K. prüfend
an. »Es ist so«, sagte K., und nun sahen beide einander zum ersten Mal in
die Augen, »die Art und Weise, in der es geschah, ist an sich keines Wortes
wert.« »Aber doch das eigentlich Interessante«, sagte Fräulein Bürstner.
»Nein«, sagte K. »Nun«, sagte Fräulein Bürstner, »ich will mich nicht in
Geheimnisse eindrängen, bestehen Sie darauf, dass es uninteressant ist, so
will ich auch nichts dagegen einwenden. Die Entschuldigung, um die Sie
bitten, gebe ich Ihnen gern, besonders da ich keine Spur einer Unordnung
finden kann.« Sie machte, die flachen Hände tief an die Hüften gelegt, einen
Rundgang durch das Zimmer. Bei der Matte mit den Photographien blieb sie
stehen. »Sehen Sie doch!« rief sie, »meine
[→HL 23] Photographien sind wirklich
durcheinander geworfen. Das ist aber hässlich. Es ist also jemand
unberechtigterweise in meinem Zimmer gewesen.« K. nickte und verfluchte im
stillen den Beamten Kaminer, der seine öde, sinnlose Lebhaftigkeit niemals
zähmen konnte. »Es ist sonderbar«, sagte Fräulein Bürstner, »dass ich
gezwungen bin, Ihnen etwas zu verbieten, was Sie sich selbst verbieten
müssten, nämlich in meiner Abwesenheit mein Zimmer zu betreten.« »Ich
erklärte Ihnen doch, Fräulein«, sagte K. und ging auch zu den Photographien,
»dass nicht ich es war, der sich an Ihren Photographien vergangen hat; aber
da Sie mir nicht glauben, so muss ich also eingestehen, dass die
Untersuchungskommission drei Bankbeamte mitgebracht hat, von denen der eine,
den ich bei nächster Gelegenheit aus der Bank hinausbefördern werde, die
Photographien wahrscheinlich in die Hand genommen hat. Ja, es war eine
Untersuchungskommission hier«, fügte K. hinzu, da ihn das Fräulein mit einem
fragenden Blick ansah. »Ihretwegen?« fragte das Fräulein. »Ja«, antwortete
K. »Nein!« rief das Fräulein und lachte. »Doch«, sagte K., »glauben Sie
denn, dass ich schuldlos bin?« »Nun, schuldlos ...« sagte das Fräulein, »ich
will nicht gleich ein vielleicht folgenschweres Urteil aussprechen, auch
kenne ich Sie doch nicht, es muss doch schon ein schwerer Verbrecher sein,
dem man gleich eine Untersuchungskommission auf den Leib schickt. Da Sie
aber doch frei sind - ich schließe wenigstens aus Ihrer Ruhe, dass Sie nicht
aus dem Gefängnis entlaufen sind - so können Sie doch kein solches
Verbrechen begangen haben.« »Ja«, sagte K., »aber die
Untersuchungskommission kann doch eingesehen haben, dass ich unschuldig bin
oder doch nicht so schuldig, wie angenommen wurde.« »Gewiss, das kann sein«,
sagte Fräulein Bürstner sehr aufmerksam. »Sehen Sie«, sagte K., »Sie haben
nicht viel Erfahrung in Gerichtssachen.« »Nein, das habe ich nicht«, sagte
Fräulein Bürstner, »und habe es auch schon oft bedauert, denn ich möchte
alles wissen, und gerade Gerichtssachen interessieren mich ungemein. Das
Gericht hat eine eigentümliche Anziehungskraft, nicht? Aber ich werde in
dieser Richtung meine Kenntnisse sicher vervollständigen, denn ich trete
nächsten Monat als Kanzleikraft in ein Advokatenbureau ein.« »Das ist sehr
gut«, sagte K., »Sie werden mir dann in meinem Prozess ein wenig helfen
können.«
»Das könnte sein«, sagte
Fräulein Bürstner, »warum denn nicht? Ich verwende gern meine Kenntnisse.«
»Ich meine es auch im Ernst«, sagte K., »oder zumindest in dem halben Ernst,
in dem Sie es meinen. Um einen Advokaten heranzuziehen, dazu ist die Sache
doch zu kleinlich, aber einen Ratgeber könnte ich gut brauchen.« »Ja, aber
wenn ich Ratgeber [→HL 24]
sein soll, müsste ich wissen, worum es sich handelt«,
sagte Fräulein Bürstner. »Das ist eben der Haken«, sagte K., »das weiß ich
selbst nicht.« »Dann haben Sie sich also einen Spaß aus mir gemacht«, sagte
Fräulein Bürstner übermäßig enttäuscht, »es war höchst unnötig, sich diese
späte Nachtzeit dazu auszusuchen.« Und sie ging von den Photographien weg,
wo sie so lange vereinigt gestanden hatten.
»Aber nein, Fräulein«, sagte
K., »ich mache keinen Spaß. dass Sie mir nicht glauben wollen! Was ich weiß,
habe ich Ihnen schon gesagt. Sogar mehr als ich weiß, denn es war gar keine
Untersuchungskommission, ich nenne es so, weil ich keinen andern Namen dafür
weiß. Es wurde gar nichts untersucht, ich wurde nur verhaftet, aber von
einer Kommission.« Fräulein Bürstner saß auf der Ottomane und lachte wieder.
»Wie war es denn?« fragte sie. »Schrecklich«, sagte K., aber er dachte jetzt
gar nicht daran, sondern war ganz vom Anblick des Fräulein Bürstner
ergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stützte - der Ellbogen ruhte auf
dem Kissen der Ottomane - während die andere Hand langsam die Hüfte strich.
»Das ist zu allgemein«, sagte Fräulein Bürstner. »Was ist zu allgemein?«
fragte K. Dann erinnerte er sich und fragte: »Soll ich Ihnen zeigen, wie es
gewesen ist?« Er wollte Bewegung machen und doch nicht weggehen. »Ich bin
schon müde«, sagte Fräulein Bürstner. »Sie kamen so spät«, sagte K. »Nun
endet es damit, dass ich Vorwürfe bekomme, es ist auch berechtigt, denn ich
hätte Sie nicht mehr hereinlassen sollen. Notwendig war es ja auch nicht,
wie es sich gezeigt hat.« »Es war notwendig, das werden Sie erst jetzt
sehn«, sagte K. »Darf ich das Nachttischchen von Ihrem Bett herrücken?« »Was
fällt Ihnen ein?« sagte Fräulein Bürstner, »das dürfen Sie natürlich nicht!«
»Dann kann ich es Ihnen nicht zeigen«, sagte K. aufgeregt, als füge man ihm
dadurch einen unermesslichen Schaden zu. »Ja, wenn Sie es zur Darstellung
brauchen, dann rücken Sie das Tischchen nur ruhig fort«, sagte Fräulein
Bürstner und fügte nach einem Weilchen mit schwächerer Stimme hinzu: »Ich
bin so müde, dass ich mehr erlaube, als gut ist.« K. stellte das Tischchen
in die Mitte des Zimmers und setzte sich dahinter. »Sie müssen sich die
Verteilung der Personen richtig vorstellen, es ist sehr interessant. Ich bin
der Aufseher, dort auf dem Koffer sitzen zwei Wächter, bei den Photographien
stehen drei junge Leute. An der Fensterklinke hängt, was ich nur nebenbei
erwähne, eine weiße Bluse. Und jetzt fängt es an. Ja, ich vergesse mich. Die
wichtigste Person, also ich, stehe hier vor dem Tischchen. Der Aufseher
sitzt äußerst bequem, die Beine übereinander gelegt, den Arm hier über die
Lehne hinunterhängend, ein Lümmel sondergleichen. Und jetzt fängt es also
wirklich an. Der Aufseher ruft, als ob er mich
[→HL 25] wecken müsste, er schreit
geradezu, ich muss leider, wenn ich es Ihnen begreiflich machen will, auch
schreien, es ist übrigens nur mein Name, den er so schreit.« Fräulein
Bürstner, die lachend zuhörte, legte den Zeigefinger an den Mund, um K. am
Schreien zu hindern, aber es war zu spät. K. war zu sehr in der Rolle, er
rief langsam: »Josef K.!«, übrigens nicht so laut, wie er gedroht hatte,
aber doch so, dass sich der Ruf, nachdem er plötzlich ausgestoßen war, erst
allmählich im Zimmer zu verbreiten schien.
Da klopfte es an die Tür des
Nebenzimmers einige Mal, stark, kurz und regelmäßig. Fräulein Bürstner
erbleichte und legte die Hand aufs Herz. K. erschrak deshalb besonders
stark, weil er noch ein Weilchen ganz unfähig gewesen war, an etwas anderes
zu denken als an die Vorfälle des Morgens und an das Mädchen, dem er sie
vorführte. Kaum hatte er sich gefasst, sprang er zu Fräulein Bürstner und
nahm ihre Hand. »Fürchten Sie nichts«, flüsterte er, »ich werde alles in
Ordnung bringen. Wer kann es aber sein? Hier nebenan ist doch nur das
Wohnzimmer, in dem niemand schläft. Doch«, flüsterte Fräulein Bürstner an
K.s Ohr, »seit gestern schläft hier ein Neffe von Frau Grubach, ein
Hauptmann. Es ist gerade kein anderes Zimmer frei. Auch ich habe es
vergessen. dass Sie so schreien mussten! Ich bin unglücklich darüber.«
»Dafür ist gar kein Grund«,
sagte K. und küsste, als sie jetzt auf das Kissen zurücksank, ihre Stirn.
»Weg, weg«, sagte sie und richtete sich eilig wieder auf, »gehen Sie doch,
gehen Sie doch, was wollen Sie, er horcht doch an der Tür, er hört doch
alles. Wie Sie mich quälen! Ich gehe nicht früher«, sagte K., »als Sie ein
wenig beruhigt sind. Kommen Sie in die andere Ecke des Zimmers, dort kann er
uns nicht hören.« Sie ließ sich dorthin führen. »Sie überlegen nicht«, sagte
er, »dass es sich zwar um eine Unannehmlichkeit für Sie handelt, aber
durchaus nicht um eine Gefahr. Sie wissen, wie mich Frau Grubach, die in
dieser Sache doch entscheidet, besonders da der Hauptmann ihr Neffe ist,
geradezu verehrt und alles, was ich sage, unbedingt glaubt.
Sie ist auch im übrigen von mir
abhängig, denn sie hat eine größere Summe von mir geliehen. Jeden Ihrer
Vorschläge über eine Erklärung für unser Beisammen nehme ich an, wenn es nur
ein wenig zweckentsprechend ist, und verbürge mich, Frau Grubach dazu zu
bringen, die Erklärung nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern wirklich
und aufrichtig zu glauben. Mich müssen Sie dabei in keiner Weise schonen.
Wollen Sie verbreitet haben, dass ich Sie überfallen habe, so wird Frau
Grubach in diesem Sinne unterrichtet werden und wird es glauben, ohne das
Vertrauen zu mir zu verlieren, so sehr hängt sie an mir.« Fräulein Bürstner
sah, still und ein wenig zusammengesun-[→HL
26]ken, vor sich auf den Boden. »Warum
sollte Frau Grubach nicht glauben, dass ich Sie überfallen habe?« fügte K.
hinzu. Vor sich sah er ihr Haar, geteiltes, niedrig gebauschtes, fest
zusammengehaltenes, rötliches Haar. Er
glaubte, sie werde ihm den Blick
zuwenden, aber sie sagte in unveränderter Haltung: »Verzeihen Sie, ich bin
durch das plötzliche Klopfen so erschreckt worden, nicht so sehr durch die
Folgen, die die Anwesenheit des Hauptmannes haben könnte. Es war so still
nach Ihrem Schrei, und da klopfte es, deshalb bin ich so erschrocken, ich
saß auch in der Nähe der Tür, es klopfte fast neben mir. Für Ihre Vorschläge
danke ich, aber ich nehme sie nicht an. Ich kann für alles, was in meinem
Zimmer geschieht, die Verantwortung tragen, und zwar gegenüber jedem. Ich
wundere mich, dass Sie nicht merken, was für eine Beleidigung für mich in
Ihren Vorschlägen liegt, neben den guten Absichten natürlich, die ich
gewiss
anerkenne. Aber nun gehen Sie, lassen Sie mich allein, ich habe es jetzt
noch nötiger als früher. Aus den wenigen Minuten, um die Sie gebeten haben,
ist nun eine halbe Stunde und mehr geworden.« K. fasste sie bei der Hand und
dann beim Handgelenk: »Sie sind mir aber nicht böse?« sagte er. Sie streifte
seine Hand ab und antwortete: »Nein, nein, ich bin niemals und niemandem
böse.« Er fasste wieder nach ihrem Handgelenk, sie duldete es jetzt und
führte ihn so zur Tür. Er war fest entschlossen, wegzugehen. Aber vor der
Tür, als hätte er nicht erwartet, hier eine Tür zu finden, stockte er,
diesen Augenblick benützte Fräulein Bürstner, sich loszumachen, die Tür zu
öffnen, ins Vorzimmer zu schlüpfen und von dort aus K. leise zu sagen: »Nun
kommen Sie doch, bitte. Sehen Sie« - sie zeigte auf die Tür des Hauptmanns,
unter der ein Lichtschein hervorkam - »er hat angezündet und unterhält sich
über uns.« »Ich komme schon«, sagte K., lief vor, fasste sie, küsste sie auf
den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der
Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küsste er
sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange
liegen. Ein Geräusch aus dem Zimmer des Hauptmanns ließ ihn aufschauen.
»Jetzt werde ich gehen«, sagte er, er wollte Fräulein Bürstner beim
Taufnamen nennen, wusste ihn aber nicht. Sie nickte müde, überließ ihm,
schon halb abgewendet, die Hand zum Küssen, als wisse sie nichts davon, und
ging gebückt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag K. in seinem Bett. Er schlief
sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein
Verhalten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, dass er nicht
noch zufriedener war; wegen des Hauptmanns machte er sich für Fräulein
Bürstner ernstliche Sorgen.[→HL
27]
ERSTE UNTERSUCHUNG
K. war telephonisch verständigt
worden, dass am nächsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner
Angelegenheit stattfinden würde. Man machte ihn darauf aufmerksam, dass
diese Untersuchungen regelmäßig, wenn auch vielleicht nicht jede Woche, so
doch häufiger einander folgen würden. Es liege einerseits im allgemeinen
Interesse, den Prozess rasch zu Ende zu führen, anderseits aber müssten die
Untersuchungen in jeder Hinsicht gründlich sein und dürften doch wegen der
damit verbundenen Anstrengung niemals allzu lange dauern. Deshalb habe man
den Ausweg dieser rasch aufeinander folgenden, aber kurzen Untersuchungen
gewählt. Die Bestimmung des Sonntags als Untersuchungstag habe man deshalb
vorgenommen, um K. in seiner beruflichen Arbeit nicht zu stören. Man setze
voraus, dass er damit einverstanden sei, sollte er einen anderen Termin
wünschen, so würde man ihm, so gut es ginge, entgegenkommen. Die
Untersuchungen wären beispielsweise auch in der Nacht möglich, aber da sei
wohl K. nicht frisch genug. Jedenfalls werde man es, solange K. nichts
einwende, beim Sonntag belassen. Es sei selbstverständlich, dass er bestimmt
erscheinen müsse, darauf müsse man ihn wohl nicht erst aufmerksam machen. Es
wurde ihm die Nummer des Hauses genannt, in dem er sich einfinden solle, es
war ein Haus in einer entlegenen Vorstadtstraße, in der K. noch niemals
gewesen war.
K. hängte, als er diese Meldung erhalten hatte, ohne zu antworten, den Hörer
an; er war gleich entschlossen, Sonntag hinzugehen, es war gewiss notwendig,
der Prozess kam in Gang und er musste sich dem entgegenstellen, diese erste
Untersuchung sollte auch die letzte sein. Er stand noch nachdenklich beim
Apparat, da hörte er hinter sich die Stimme des Direktor-Stellvertreters,
der telephonieren wollte, dem aber K. den Weg verstellte. »Schlechte
Nachrichten?« fragte der Direktor-Stellvertreter leichthin, nicht um etwas
zu erfahren, sondern um K. vom Apparat wegzubringen. »Nein, nein«, sagte K.,
trat beiseite, ging aber nicht weg. Der Direktor-Stellvertreter nahm den
Hörer und sagte, während er auf die telephonische Verbindung wartete, über
das Hörrohr hinweg: »Eine Frage, Herr K.: Möchten Sie mir Sonntag früh das
Vergnügen machen, eine Partie auf meinem Segelboot mitzumachen? Es wird eine
größere Gesellschaft sein, gewiss auch Ihre Bekannten darunter. Unter
anderem Staatsanwalt Hasterer. Wollen Sie kommen? Kommen Sie doch!« K.
versuchte, darauf Acht zu geben, was der Direktor-Stellvertreter sagte. Es
war nicht unwichtig für ihn, denn diese Einladung des
Direktor-Stellvertreters, mit dem er -[→HL
28] sich niemals sehr gut vertragen hatte,
bedeutete einen Versöhnungsversuch von dessen Seite und zeigte, wie wichtig
K. in der Bank geworden war und wie wertvoll seine Freundschaft oder
wenigstens seine Unparteilichkeit dem zweithöchsten Beamten der Bank
erschien. Diese Einladung war eine Demütigung des Direktor-Stellvertreters,
mochte sie auch nur in Erwartung der telephonischen Verbindung über das
Hörrohr hinweg gesagt sein. Aber K. musste eine zweite Demütigung folgen
lassen, er sagte: »Vielen Dank! Aber ich habe leider Sonntag keine Zeit, ich
habe schon eine Verpflichtung.« »Schade«, sagte der Direktor-Stellvertreter
und wandte sich dem telephonischen Gespräch zu, das gerade hergestellt
worden war.
Es war kein kurzes Gespräch,
aber K. blieb in seiner Zerstreutheit die ganze Zeit über neben dem Apparat
stehen. Erst als der Direktor-Stellvertreter abläutete, erschrak er und
sagte, um sein unnützes Dasein nur ein wenig zu entschuldigen: »Ich bin
jetzt antelephoniert worden, ich möchte irgendwo hinkommen, aber man hat
vergessen, mir zu sagen, zu welcher Stunde.« »Fragen Sie doch noch einmal
nach«, sagte der Direktor-Stellvertreter. »Es ist nicht so wichtig«, sagte
K., obwohl dadurch seine frühere, schon an sich mangelhafte Entschuldigung
noch weiter verfiel. Der Direktor-Stellvertreter sprach noch im Weggehen
über andere Dinge. K. zwang sich auch zu antworten, dachte aber
hauptsächlich daran, dass es am besten sein werde, Sonntag um neun Uhr
vormittags hinzukommen, da zu dieser Stunde an Werktagen alle Gerichte zu
arbeiten anfangen.
Sonntag war trübes Wetter. K.
war sehr ermüdet, da er wegen einer Stammtischfeierlichkeit bis spät in die
Nacht im Gasthaus geblieben war, er hätte fast verschlafen. Eilig, ohne Zeit
zu haben, zu überlegen und die verschiedenen Pläne, die er während der Woche
ausgedacht hatte, zusammenzustellen, kleidete er sich an und lief, ohne zu
frühstücken, in die ihm bezeichnete Vorstadt. Eigentümlicherweise traf er,
obwohl er wenig Zeit hatte, umherzublicken, die drei an seiner Angelegenheit
beteiligten Beamten, Rabensteiner, Kullich und Kaminer. Die ersten zwei
fuhren in einer Elektrischen quer über K.s Weg, Kaminer aber saß auf der
Terrasse eines Kaffeehauses und beugte sich gerade, als K. vorüberkam,
neugierig über die Brüstung.
Alle sahen ihm
wohl nach und
wunderten sich, wie ihr Vorgesetzter lief; es war irgendein Trotz, der K.
davon abgehalten hatte, zu fahren, er hatte Abscheu vor jeder, selbst der
geringsten fremden Hilfe in dieser seiner Sache, auch wollte er niemanden in
Anspruch nehmen und dadurch selbst nur im Allerentferntesten einweihen;
schließlich hatte er aber auch nicht die geringste Lust, sich durch allzu
große Pünkt-[→HL
29]lichkeit vor der Untersuchungskommission zu erniedrigen.
Allerdings lief er jetzt, um nur möglichst um neun Uhr einzutreffen, obwohl
er nicht einmal für eine bestimmte Stunde bestellt war. Er hatte gedacht,
das Haus schon von der Ferne an irgendeinem Zeichen, das er sich selbst
nicht genau vorgestellt hatte, oder an einer besonderen Bewegung vor dem
Eingang schon von weitem zu erkennen. Aber die Juliusstraße, in der es sein
sollte und an deren Beginn K. einen Augenblick lang stehen blieb, enthielt
auf beiden Seiten fast ganz einförmige Häuser, hohe, graue, von armen Leuten
bewohnte Miethäuser. Jetzt, am Sonntagmorgen, waren die meisten Fenster
besetzt, Männer in Hemdärmeln lehnten dort und rauchten oder hielten kleine
Kinder vorsichtig und zärtlich an den Fensterrand. Andere Fenster waren hoch
mit Bettzeug angefüllt, über dem flüchtig der zerraufte Kopf einer Frau
erschien. Man rief einander über die Gasse zu, ein solcher Zuruf bewirkte
gerade über K. ein großes Gelächter. Regelmäßig verteilt befanden sich in
der langen Straße kleine, unter dem Straßenniveau liegende, durch ein paar
Treppen erreichbare Läden mit verschiedenen Lebensmitteln. Dort gingen
Frauen aus und ein oder standen auf den Stufen und plauderten. Ein
Obsthändler, der seine Waren zu den Fenstern hinauf empfahl, hätte, ebenso
unaufmerksam wie K., mit seinem Karren diesen fast niedergeworfen. Eben
begann ein in besseren Stadtvierteln ausgedientes Grammophon mörderisch zu
spielen.
K. ging tiefer in die Gasse
hinein, langsam, als hätte er nun schon Zeit oder als sähe ihn der
Untersuchungsrichter aus irgendeinem Fenster und wisse also, dass sich K.
eingefunden habe. Es war kurz nach neun. Das Haus lag ziemlich weit, es war
fast ungewöhnlich ausgedehnt, besonders die Toreinfahrt war hoch und weit.
Sie war offenbar für Lastfuhren bestimmt, die zu den verschiedenen
Warenmagazinen gehörten, die jetzt versperrt den großen Hof umgaben und
Aufschriften von Firmen trugen, von denen K. einige aus dem Bankgeschäft
kannte. Gegen seine sonstige Gewohnheit sich mit allen diesen
Äußerlichkeiten genauer befassend, blieb er auch ein wenig am Eingang des
Hofes stehen. In seiner Nähe auf einer Kiste saß ein bloßfüßiger Mann und
las eine Zeitung. Auf einem Handkarren schaukelten zwei Jungen. Vor einer
Pumpe stand ein schwaches, junges Mädchen in einer Nachtjoppe und blickte,
während das Wasser in ihre Kanne strömte, auf K. hin. In einer Ecke des
Hofes wurde zwischen zwei Fenstern ein Strick gespannt, auf dem die zum
Trocknen bestimmte Wäsche schon hing. Ein Mann stand unten und leitete die
Arbeit durch ein paar Zurufe. [→HL
30]
K. wandte sich der Treppe zu,
um zum Untersuchungszimmer zu kommen, stand dann aber wieder still, denn
außer dieser Treppe sah er im Hof noch drei verschiedene Treppenaufgänge und
überdies schien ein kleiner Durchgang am Ende des Hofes noch in einen
zweiten Hof zu führen. Er ärgerte sich, dass man ihm die Lage des Zimmers
nicht näher bezeichnet hatte, es war doch eine sonderbare Nachlässigkeit
oder Gleichgültigkeit, mit der man ihn behandelte, er beabsichtigte, das
sehr laut und deutlich festzustellen. Schließlich stieg er doch die Treppe
hinauf und spielte in Gedanken mit einer Erinnerung an den Ausspruch des
Wächters Willem, dass das Gericht von der Schuld angezogen werde, woraus
eigentlich folgte, dass das Untersuchungszimmer an der Treppe liegen musste,
die K. zufällig wählte.
Er störte im Hinaufgehen viele
Kinder, die auf der Treppe spielten und ihn, wenn er durch ihre Reihe
schritt, böse ansahen. »Wenn ich nächstens wieder hergehen sollte«, sagte er
sich, »muss ich entweder Zuckerwerk mitnehmen, um sie zu gewinnen, oder den
Stock, um sie zu prügeln.« Knapp vor dem ersten Stockwerk musste er sogar
ein Weilchen warten, bis eine Spielkugel ihren Weg vollendet hatte, zwei
kleine Jungen mit den verzwickten Gesichtern erwachsener Strolche hielten
ihn indessen an den Beinkleidern; hätte er sie abschütteln wollen, hätte er
ihnen wehtun müssen, und er fürchtete ihr Geschrei.
Im ersten Stockwerk begann die
eigentliche Suche. Da er doch nicht nach der Untersuchungskommission fragen
konnte, erfand er einen Tischler Lanz - der Name fiel ihm ein, weil der
Hauptmann, der Neffe der Frau Grubach, so hieß - und wollte nun in allen
Wohnungen nachfragen, ob hier ein Tischler Lanz wohne, um so die Möglichkeit
zu bekommen, in die Zimmer hineinzusehen. Es zeigte sich aber, dass das
meistens ohne weiteres möglich war, denn fast alle Türen standen offen und
die Kinder liefen ein und aus. Es waren in der Regel kleine, einfenstrige
Zimmer, in denen auch gekocht wurde. Manche Frauen hielten Säuglinge im Arm
und arbeiteten mit der freien Hand auf dem Herd.
Halbwüchsige, scheinbar nur
mit Schürzen bekleidete Mädchen liefen am fleißigsten hin und her. In allen
Zimmern standen die Betten noch in Benützung, es lagen dort Kranke oder noch
Schlafende oder Leute, die sich dort in Kleidern streckten. An den
Wohnungen, deren Türen geschlossen waren, klopfte K. an und fragte, ob hier
ein Tischler Lanz wohne. Meistens öffnete eine Frau, hörte die Frage an und
wandte sich ins Zimmer zu jemandem, der sich aus dem Bett erhob. »Der Herr
fragt, ob ein Tischler Lanz hier wohnt.« »Tischler Lanz?« fragte der aus dem
Bett.
»Ja«, sagte K.,
trotz-[→HL 31]dem sich
hier die Untersuchungskommission zweifellos nicht befand und daher seine
Aufgabe beendet war. Viele glaubten, es liege K. sehr viel daran, den
Tischler Lanz zu finden, dachten lange nach, nannten seine Tischler, der
aber nicht Lanz hieß, oder einen Namen, der mit Lanz eine ganz entfernte
Ähnlichkeit hatte, oder sie fragten bei Nachbarn oder begleiteten K. zu
einer weit entfernten Tür, wo ihrer Meinung nach ein derartiger Mann
möglicherweise in Aftermiete wohne oder wo jemand sei, der bessere Auskunft
als sie selbst geben könne. Schließlich musste K. kaum mehr selbst fragen,
sondern wurde auf diese Weise durch die Stockwerke gezogen. Er bedauerte
seinen Plan, der ihm zuerst so praktisch erschienen war. Vor dem fünften
Stockwerk entschloss er sich, die Suche aufzugeben, verabschiedete sich von
einem freundlichen, jungen Arbeiter, der ihn weiter hinaufführen wollte, und
ging hinunter.
Dann aber ärgerte ihn wieder
das Nutzlose dieser ganzen Unternehmung, er ging nochmals zurück und klopfte
an die erste Tür des fünften Stockwerkes. Das erste, was er in dem kleinen
Zimmer sah, war eine große Wanduhr, die schon zehn Uhr zeigte. »Wohnt ein
Tischler Lanz hier?« fragte er. »Bitte«, sagte eine junge Frau mit
schwarzen, leuchtenden Augen, die gerade in einem Kübel Kinderwäsche wusch,
und zeigte mit der nassen Hand auf die offene Tür des Nebenzimmers.
K.
glaubte in eine Versammlung
einzutreten. Ein Gedränge der verschiedensten Leute - niemand kümmerte sich
um den Eintretenden - füllte ein mittelgroßes, zweifenstriges Zimmer, das
knapp an der Decke von einer Galerie umgeben war, die gleichfalls
vollständig besetzt war und wo die Leute nur gebückt stehen konnten und mit
Kopf und Rücken an die Decke stießen. K., dem die Luft zu dumpf war, trat
wieder hinaus und sagte zu der jungen Frau, die ihn
wahrscheinlich falsch
verstanden hatte: »Ich habe nach einem Tischler, einem gewissen Lanz,
gefragt?« »Ja«, sagte die Frau, »gehen Sie, bitte, hinein.« K. hätte ihr
vielleicht nicht gefolgt, wenn die Frau nicht auf ihn zugegangen wäre, die
Türklinke ergriffen und gesagt hätte: »Nach Ihnen muss ich schließen, es
darf niemand mehr hinein.« »Sehr vernünftig«, sagte K., »es ist aber jetzt
schon zu voll.« Dann ging er aber doch wieder hinein.
Zwischen zwei Männern hindurch,
die sich unmittelbar bei der Tür unterhielten - der eine machte mit beiden,
weit vorgestreckten Händen die Bewegung des Geldaufzählens, der andere sah
ihm scharf in die Augen -, fasste eine Hand nach K. Es war ein kleiner,
rotbäckiger Junge. »Kommen Sie, kommen Sie«, sagte er. K. ließ sich von ihm
führen, es zeigte sich, dass in dem durcheinander wimmelnden Gedränge doch
ein schmaler Weg frei war, der mög-[→HL
32]licherweise zwei Parteien schied; dafür
sprach auch, dass K. in den ersten Reihen rechts und links kaum ein ihm
zugewendetes Gesicht sah, sondern nur die Rücken von Leuten, welche ihre
Reden und Bewegungen nur an Leute ihrer Partei richteten. Die meisten waren
schwarz angezogen, in alten, lang und lose hinunterhängenden
Feiertagsröcken. Nur diese Kleidung beirrte K., sonst hätte er das Ganze für
eine politische Bezirksversammlung angesehen.
Am anderen Ende des Saales, zu
dem K. geführt wurde, stand auf einem sehr niedrigen, gleichfalls
überfüllten Podium ein kleiner Tisch, der Quere nach aufgestellt, und hinter
ihm, nahe am Rand des Podiums, saß ein kleiner, dicker, schnaufender Mann,
der sich gerade mit einem hinter ihm Stehenden - dieser hatte den Ellbogen
auf die Sessellehne gestützt und die Beine gekreuzt - unter großem Gelächter
unterhielt. Manchmal warf er den Arm in die Luft, als karikiere er jemanden.
Der Junge, der K. führte, hatte Mühe, seine Meldung vorzubringen. Zweimal
hatte er schon, auf den Fußspitzen stehend, etwas auszurichten versucht,
ohne von dem Mann oben beachtet worden zu sein. Erst als einer der Leute
oben auf dem Podium auf den Jungen aufmerksam machte, wandte sich der Mann
ihm zu und hörte hinuntergebeugt seinen leisen Bericht an. Dann zog er seine
Uhr und sah schnell nach K. hin. »Sie hätten vor einer Stunde und fünf
Minuten erscheinen sollen«, sagte er. K. wollte etwas antworten, aber er
hatte keine Zeit, denn kaum hatte der Mann ausgesprochen, erhob sich in der
rechten Saalhälfte ein allgemeines Murren. »Sie hätten vor einer Stunde und
fünf Minuten erscheinen sollen«, wiederholte nun der Mann mit erhobener
Stimme und sah nun auch schnell in den Saal hinunter. Sofort wurde auch das
Murren stärker und verlor sich, da der Mann nichts mehr sagte, nur
allmählich. Es war jetzt im Saal viel stiller als bei K.s Eintritt. Nur die
Leute auf der Galerie hörten nicht auf, ihre Bemerkungen zu machen. Sie
schienen, soweit man oben in dem Halbdunkel, Dunst und Staub etwas
unterscheiden konnte, schlechter angezogen zu sein als die unten. Manche
hatten Polster mitgebracht, die sie zwischen den Kopf und die Zimmerdecke
gelegt hatten, um sich nicht wundzudrücken.
K. hatte sich entschlossen,
mehr zu beobachten als zu reden, infolgedessen verzichtete er auf die
Verteidigung wegen seines angeblichen Zuspätkommens und sagte bloß: »Mag ich
zu spät gekommen sein, jetzt bin ich hier.« Ein Beifallklatschen, wieder aus
der rechten Saalhälfte, folgte. Leicht zu gewinnende Leute, dachte K. und
war nur gestört durch die Stille in der linken Saalhälfte, die gerade hinter
ihm lag und aus der sich nur ganz vereinzeltes Händeklatschen erhoben hatte.
Er dachte nach, was er sa-[→HL33]gen könnte, um alle auf einmal oder, wenn das nicht
möglich sein sollte, wenigstens zeitweilig auch die anderen zu gewinnen.
»Ja«, sagte der Mann, »aber ich
bin nicht mehr verpflichtet, Sie jetzt zu verhören« - wieder das Murren,
diesmal aber missverständlich, denn der Mann fuhr, indem er den Leuten mit
der Hand abwinkte, fort, - »ich will es jedoch ausnahmsweise heute noch tun.
Eine solche Verspätung darf sich aber nicht mehr wiederholen. Und nun treten
Sie vor!« Irgend jemand sprang vom Podium hinunter, so dass für K. ein Platz
frei wurde, auf den er hinaufstieg. Er stand eng an den Tisch gedrückt, das
Gedränge hinter ihm war so groß, dass er ihm Widerstand leisten musste,
wollte er nicht den Tisch des Untersuchungsrichters und vielleicht auch
diesen selbst vom Podium hinunterstoßen.
Der Untersuchungsrichter
kümmerte sich aber nicht darum, sondern saß recht bequem auf seinem Sessel
und griff, nachdem er dem Mann hinter ihm ein abschließendes Wort gesagt
hatte, nach einem kleinen Anmerkungsbuch, dem einzigen Gegenstand auf seinem
Tisch. Es war schulheftartig, alt, durch vieles Blättern ganz aus der Form
gebracht. »Also«, sagte der Untersuchungsrichter, blätterte in dem Heft und
wandte sich im Tone einer Feststellung an K., »Sie sind Zimmermaler?«
»Nein«, sagte K., »sondern erster Prokurist einer großen Bank.« Dieser
Antwort folgte bei der rechten Partei unten ein Gelächter, das so herzlich
war, dass K. mitlachen musste. Die Leute stützten sich mit den Händen auf
ihre Knie und schüttelten sich wie unter schweren Hustenanfällen. Es lachten
sogar einzelne auf der Galerie. Der ganz böse gewordene
Untersuchungsrichter, der
wahrscheinlich gegen die Leute unten machtlos war,
suchte sich an der Galerie zu entschädigen, sprang auf, drohte der Galerie,
und seine sonst wenig auffallenden Augenbrauen drängten sich buschig,
schwarz und groß über seinen Augen.
Die linke Saalhälfte war aber
noch immer still, die Leute standen dort in Reihen, hatten ihre Gesichter
dem Podium zugewendet und hörten den Worten, die oben gewechselt wurden,
ebenso ruhig zu wie dem Lärm der anderen Partei, sie duldeten sogar, dass
einzelne aus ihren Reihen mit der anderen Partei hie und da gemeinsam
vorgingen. Die Leute der linken Partei, die übrigens weniger zahlreich
waren, mochten im Grunde ebenso unbedeutend sein wie die der rechten Partei,
aber die Ruhe ihres Verhaltens ließ sie bedeutungsvoller erscheinen. Als K.
jetzt zu reden begann, war er überzeugt, in ihrem Sinne zu sprechen.
»Ihre Frage, Herr
Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin - vielmehr, Sie haben gar nicht
gefragt, sondern es mir auf den
[→HL 34] Kopf zugesagt -, ist bezeichnend für die
ganze Art des Verfahrens, das gegen mich geführt wird. Sie können einwenden,
dass es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist
ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es
also für den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermaßen. Man kann sich
nicht anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es überhaupt beachten
will. Ich sage nicht, dass es ein liederliches Verfahren ist, aber ich
möchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.« K.
unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er gesagt hatte, war
scharf, schärfer, als er es beabsichtigt hatte, aber doch richtig. Es hätte
Beifall hier oder dort verdient, es war jedoch alles still, man wartete
offenbar gespannt auf das Folgende, es bereitete sich vielleicht in der
Stille ein Ausbruch vor, der allem ein Ende machen würde. Störend war es,
dass sich jetzt die Tür am Saalende öffnete, die junge Wäscherin, die ihre
Arbeit wahrscheinlich beendet hatte, eintrat und trotz aller Vorsicht, die
sie aufwendete, einige Blicke auf sich zog. Nur der Untersuchungsrichter
machte K. unmittelbare Freude, denn er
schien von den Worten sofort
getroffen zu werden. Er hatte bisher stehend zugehört, denn er war von K.s
Ansprache überrascht worden, während er sich für die Galerie aufgerichtet
hatte. Jetzt, in der Pause, setzte er sich allmählich, als sollte es nicht
bemerkt werden. Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigen, nahm er wieder
das Heftchen vor.
»Es hilft nichts«, fuhr K.
fort, »auch Ihr Heftchen, Herr Untersuchungsrichter, bestätigt, was ich
sage.« Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte in der fremden Versammlung
zu hören, wagte es K. sogar, kurzerhand das Heft dem Untersuchungsrichter
wegzunehmen und es mit den Fingerspitzen, als scheue er sich davor, an einem
mittleren Blatte hochzuheben, so dass beiderseits die eng beschriebenen,
fleckigen, gelbrandigen Blätter hinunterhingen. »Das sind die Akten des
Untersuchungsrichters«, sagte er und ließ das Heft auf den Tisch
hinunterfallen. »Lesen Sie darin ruhig weiter, Herr Untersuchungsrichter,
vor diesem Schuldbuch fürchte ich mich wahrhaftig nicht, obwohl es mir
unzugänglich ist, denn ich kann es nur mit zwei Fingern anfassen und würde
es nicht in die Hand nehmen.« Es konnte nur ein Zeichen tiefer Demütigung
sein oder es musste zumindest so aufgefasst werden, dass der
Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen war,
griff, es ein wenig in Ordnung zu bringen suchte und es wieder vornahm, um
darin zu lesen.
Die Gesichter der Leute in der
ersten Reihe waren so gespannt auf K. gerichtet, dass er ein Weilchen lang
zu ihnen hinuntersah.[→HL 35] Es waren durchwegs ältere Männer, einige waren
weißbärtig. Waren vielleicht sie die Entscheidenden, die die ganze
Versammlung beeinflussen konnten, welche auch durch die Demütigung des
Untersuchungsrichters sich nicht aus der Regungslosigkeit bringen ließ, in
welche sie seit K.s Rede versunken war? »Was mir geschehen ist«, fuhr K.
fort, etwas leiser als früher, und suchte immer wieder die Gesichter der
ersten Reihe ab, was seiner Rede einen etwas fahrigen Ausdruck gab, »was mir
geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehr
wichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines
Verfahrens, wie es gegen viele geübt wird. Für diese stehe ich hier ein,
nicht für mich.« Er hatte unwillkürlich seine Stimme erhoben. Irgendwo
klatschte jemand mit erhobenen Händen und rief: »Bravo! Warum denn nicht?
Bravo! Und wieder Bravo!« Die in der ersten Reihe griffen hier und da in
ihre Bärte, keiner kehrte sich wegen des Ausrufs um. Auch K. maß ihm keine
Bedeutung bei, war aber doch aufgemuntert; er hielt es jetzt gar nicht mehr
für nötig, dass alle Beifall klatschten, es genügte, wenn die Allgemeinheit
über die Sache nachzudenken begann und nur manchmal einer durch Überredung
gewonnen wurde.
»Ich will nicht Rednererfolg«,
sagte K. aus dieser Überlegung heraus, »er dürfte mir auch nicht erreichbar
sein. Der Herr Untersuchungsrichter spricht wahrscheinlich viel besser, es
gehört ja zu seinem Beruf. Was ich will, ist nur die öffentliche Besprechung
eines öffentlichen Missstandes. Hören Sie: Ich bin vor etwa zehn Tagen
verhaftet worden, über die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich, aber
das gehört jetzt nicht hierher. Ich wurde früh im Bett überfallen,
vielleicht hatte man - es ist nach dem, was der Untersuchungsrichter sagte,
nicht ausgeschlossen - den Befehl, irgendeinen Zimmermaler, der ebenso
unschuldig ist wie ich, zu verhaften, aber man wählte mich.
Das Nebenzimmer war von zwei
groben Wächtern besetzt. Wenn ich ein gefährlicher Räuber wäre, hätte man
nicht bessere Vorsorge treffen können. Diese Wächter waren überdies
demoralisiertes Gesindel, sie schwätzten mir die Ohren voll, sie wollten
sich bestechen lassen, sie wollten mir unter Vorspiegelungen Wäsche und
Kleider herauslocken, sie wollten Geld, um mir
angeblich ein Frühstück zu
bringen, nachdem sie mein eigenes Frühstück vor meinen Augen schamlos
aufgegessen hatten. Nicht genug daran. Ich wurde in ein drittes Zimmer vor
den Aufseher geführt. Es war das Zimmer einer Dame, die ich sehr schätze,
und ich musste zusehen, wie dieses Zimmer meinetwegen, aber ohne meine
Schuld, durch die Anwesenheit der
[→HL 36]
Wächter und des Aufsehers gewissermaßen
verunreinigt wurde. Es war nicht leicht, ruhig zu bleiben. Es gelang mir
aber, und ich fragte den Aufseher vollständig ruhig - wenn er hier wäre,
müsste er es bestätigen -, warum ich verhaftet sei. Was antwortete nun
dieser Aufseher, den ich jetzt noch vor mir sehe, wie er auf dem Sessel der
erwähnten Dame als eine Darstellung des stumpfsinnigsten Hochmuts sitzt?
Meine Herren, er antwortete im Grunde nichts, vielleicht wusste er wirklich
nichts, er hatte mich verhaftet und war damit zufrieden. Er hat sogar noch
ein übriges getan und in das Zimmer jener Dame drei niedrige Angestellte
meiner Bank gebracht, die sich damit beschäftigten, Photographien, Eigentum
der Dame, zu betasten und in Unordnung zu bringen. Die Anwesenheit dieser
Angestellten hatte natürlich noch einen andern Zweck, sie sollten, ebenso
wie meine Vermieterin und ihr Dienstmädchen, die Nachricht von meiner
Verhaftung verbreiten, mein öffentliches Ansehen schädigen und insbesondere
in der Bank meine Stellung erschüttern. Nun ist nichts davon, auch nicht im
geringsten, gelungen, selbst meine Vermieterin, eine ganz einfache Person -
ich will ihren Namen hier in ehrendem Sinne nennen, sie heißt Frau Grubach
-, selbst Frau Grubach war verständig genug, einzusehen, dass eine solche
Verhaftung nicht mehr bedeutet, als einen Anschlag, den nicht genügend
beaufsichtigte Jungen auf der Gasse ausführen. Ich wiederhole, mir hat das
Ganze nur Unannehmlichkeiten und vorübergehenden Ärger bereitet, hätte es
aber nicht auch schlimmere Folgen haben können?« Als K. sich hier unterbrach
und nach dem stillen Untersuchungsrichter hinsah,
glaubte er zu bemerken,
dass dieser gerade mit einem Blick jemandem in der Menge ein Zeichen gab. K.
lächelte und sagte: »Eben gibt hier neben mir der Herr Untersuchungsrichter
jemandem von Ihnen ein geheimes Zeichen. Es sind also Leute unter Ihnen, die
von hier oben dirigiert werden. Ich weiß nicht, ob das Zeichen jetzt Zischen
oder Beifall bewirken sollte, und verzichte dadurch, dass ich die Sache
vorzeitig verrate, ganz bewusst darauf, die Bedeutung des Zeichens zu
erfahren. Es ist mir vollständig gleichgültig, und ich ermächtige den Herrn
Untersuchungsrichter öffentlich, seine bezahlten Angestellten dort unten,
statt mit geheimen Zeichen, laut mit Worten zu befehligen, indem er etwa
einmal sagt: «Jetzt zischt!» und das nächste Mal: «Jetzt klatscht!»«
In Verlegenheit oder Ungeduld
rückte der Untersuchungsrichter auf seinem Sessel hin und her. Der Mann
hinter ihm, mit dem er sich schon früher unterhalten hatte, beugte sich
wieder zu ihm, sei es, um ihm im allgemeinen Mut zuzusprechen oder um ihm
ei-[→HL 37]nen besonderen Rat zu geben. Unten unterhielten sich die Leute leise, aber
lebhaft. Die zwei Parteien, die früher so entgegengesetzte Meinungen gehabt
zu haben schienen, vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit dem Finger
auf K., andere auf den Untersuchungsrichter. Der neblige Dunst im Zimmer war
äußerst lästig, er verhinderte sogar eine genauere Beobachtung der
Fernerstehenden. Besonders für die Galeriebesucher musste er störend sein,
sie waren gezwungen, allerdings unter scheuen Seitenblicken nach dem
Untersuchungsrichter, leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stellen,
um sich näher zu unterrichten. Die Antworten wurden im Schutz der
vorgehaltenen Hände ebenso leise gegeben.
»Ich bin gleich zu Ende«, sagte
K. und schlug, da keine Glocke vorhanden war, mit der Faust auf den Tisch;
im Schrecken darüber fuhren die Köpfe des Untersuchungsrichters und seines
Ratgebers augenblicklich auseinander: »Mir steht die ganze Sache fern, ich
beurteile sie daher ruhig, und Sie können, vorausgesetzt, dass Ihnen an
diesem angeblichen Gericht etwas gelegen ist, großen Vorteil davon haben,
wenn Sie mir zuhören. Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen, was ich
vorbringe, bitte ich Sie für späterhin zu verschieben, denn ich habe keine
Zeit und werde bald weggehen.« Sofort war es still, so sehr beherrschte K.
schon die Versammlung. Man schrie nicht mehr durcheinander wie am Anfang,
man klatschte nicht einmal mehr Beifall, aber man
schien schon überzeugt
oder auf dem nächsten Wege dazu.
»Es ist kein Zweifel«, sagte K.
sehr leise, denn ihn freute das angespannte Aufhorchen der ganzen
Versammlung, in dieser Stille entstand ein Sausen, das aufreizender war als
der verzückteste Beifall, »es ist kein Zweifel, dass hinter allen Äußerungen
dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der Verhaftung und der heutigen
Untersuchung, eine große Organisation sich befindet. Eine Organisation, die
nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter,
die günstigsten Falles bescheiden sind, beschäftigt, sondern die weiterhin
jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält, mit dem
zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen und
anderen Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern, ich scheue vor dem Wort
nicht zurück. Und der Sinn dieser großen Organisation, meine Herren? Er
besteht darin, dass unschuldige Personen verhaftet werden und gegen sie ein
sinnloses und meistens, wie in meinem Fall, ergebnisloses Verfahren
eingeleitet wird. Wie ließe sich bei dieser Sinnlosigkeit des Ganzen die
schlimmste Korruption der [→HL 38]
Beamtenschaft vermeiden? Das ist unmöglich, das
brächte auch der höchste Richter nicht einmal für sich selbst zustande.
Darum suchen die Wächter den Verhafteten die Kleider vom Leib zu stehlen,
darum brechen Aufseher in fremde Wohnungen ein, darum sollen Unschuldige,
statt verhört, lieber vor ganzen Versammlungen entwürdigt werden. Die
Wächter haben nur von Depots erzählt, in die man das Eigentum der
Verhafteten bringt, ich wollte einmal diese Depotplätze sehen, in denen das
mühsam erarbeitete Vermögen der Verhafteten fault, soweit es nicht von
diebischen Depotbeamten gestohlen ist.« K. wurde durch ein Kreischen vom Saalende unterbrochen, er beschattete die Augen, um hinsehen zu können, denn
das trübe Tageslicht machte den Dunst weißlich und blendete. Es handelte
sich um die Waschfrau, die K. gleich bei ihrem Eintritt als eine wesentliche
Störung erkannt hatte.
Ob sie jetzt schuldig war oder
nicht, konnte man nicht erkennen. K. sah nur, dass ein Mann sie in einen
Winkel bei der Tür gezogen hatte und dort an sich drückte. Aber nicht sie
kreischte, sondern der Mann, er hatte den Mund breit gezogen und blickte zur
Decke. Ein kleiner Kreis hatte sich um beide gebildet, die Galeriebesucher
in der Nähe schienen darüber begeistert, dass der Ernst, den K. in die
Versammlung eingeführt hatte, auf diese Weise unterbrochen wurde. K. wollte
unter dem ersten Eindruck gleich hinlaufen, auch dachte er, allen würde
daran gelegen sein, dort Ordnung zu schaffen und zumindest das Paar aus dem
Saal zu weisen, aber die ersten Reihen vor ihm blieben ganz fest, keiner
rührte sich, und keiner ließ K. durch. Im Gegenteil, man hinderte ihn, alte
Männer hielten den Arm vor, und irgendeine Hand - er hatte nicht Zeit, sich
umzudrehen - fasste ihn hinten am Kragen. K. dachte nicht eigentlich mehr an
das Paar, ihm war, als werde seine Freiheit eingeschränkt, als mache man mit
der Verhaftung ernst, und er sprang rücksichtslos vom Podium hinunter. Nun
stand er Aug in Aug dem Gedränge gegenüber. Hatte er die Leute richtig
beurteilt? Hatte er seiner Rede zuviel Wirkung zugetraut? Hatte man sich
verstellt, solange er gesprochen hatte, und hatte man jetzt, da er zu den
Schlussfolgerungen kam, die Verstellung satt? Was für Gesichter rings um
ihn! Kleine, schwarze Äuglein huschten hin und her, die Wangen hingen herab,
wie bei Versoffenen, die langen Bärte waren steif und schütter, und griff
man in sie, so war es, als bilde man bloß Krallen, nicht als griffe man in
Bärte. Unter den Bärten aber - und das war die eigentliche Entdeckung, die
K. machte - schimmerten am Rockkragen Abzeichen in verschiedener Größe und
Farbe. Alle hatten diese Abzeichen, soweit man sehen konnte. Alle gehörten
[→HL 39]
zueinander, die
scheinbaren Parteien rechts und links, und als er sich
plötzlich umdrehte, sah er die gleichen Abzeichen am Kragen des
Untersuchungsrichters, der, die Hände im Schoß, ruhig hinuntersah. »So«,
rief K. und warf die Arme in die Höhe, die plötzliche Erkenntnis wollte
Raum, »ihr seid ja alle Beamte, wie ich sehe,
ihr seid ja die korrupte
Bande, gegen die ich sprach, ihr habt euch hier gedrängt, als Zuhörer und
Schnüffler, habt scheinbare Parteien gebildet, und eine hat applaudiert, um
mich zu prüfen, ihr wolltet lernen, wie man Unschuldige verführen soll! Nun,
ihr seid nicht nutzlos hier gewesen, hoffe ich, entweder habt ihr euch
darüber unterhalten, dass jemand die Verteidigung der Unschuld von euch
erwartet hat, oder aber - lass mich oder ich schlage«, rief K. einem
zitternden Greis zu, der sich besonders nahe an ihn geschoben hatte - »oder
aber ihr habt wirklich etwas gelernt. Und damit wünsche ich euch Glück zu
euerem Gewerbe.«
Er nahm schnell seinen Hut, der
am Rande des Tisches lag, und drängte sich unter allgemeiner Stille,
jedenfalls der Stille vollkommenster Überraschung, zum Ausgang. Der
Untersuchungsrichter schien aber noch schneller als K. gewesen zu sein, denn
er erwartete ihn bei der Tür. »Einen Augenblick«, sagte er. K. blieb stehen,
sah aber nicht auf den Untersuchungsrichter, sondern auf die Tür, deren
Klinke er schon ergriffen hatte. »Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam
machen«, sagte der Untersuchungsrichter, »dass Sie sich heute - es dürfte
Ihnen noch nicht zu Bewusstsein gekommen sein - des Vorteils beraubt haben,
den ein Verhör für den Verhafteten in jedem Falle bedeutet.« K. lachte die
Tür an.
»Ihr Lumpen«, rief er, »ich schenke euch alle Verhöre«, öffnete die
Tür und eilte die Treppe hinunter. Hinter ihm erhob sich der Lärm der wieder
lebendig gewordenen Versammlung, welche die Vorfälle wahrscheinlich nach Art
von Studierenden zu besprechen begann.
IM LEEREN
SITZUNGSSAAL - DER STUDENT - DIE KANZLEIEN
K. wartete während der
nächsten Woche von Tag zu Tag auf eine neuerliche
Verständigung, er konnte nicht
glauben, dass man seinen Verzicht auf Verhöre wörtlich genommen hatte, und
als die erwartete Verständigung bis Samstagabend wirklich nicht kam, nahm er
an, er sei stillschweigend in das gleiche Haus für die glei-[→HL
40]che Zeit wieder
vorgeladen. Er begab sich daher Sonntags wieder hin, ging diesmal geradewegs
über Treppen und Gänge;
einige Leute, die sich seiner erinnerten, grüßten
ihn an ihren Türen, aber er musste niemanden mehr fragen und
kam bald zu der
richtigen Tür. Auf sein Klopfen wurde ihm gleich aufgemacht, und ohne sich
weiter nach der bekannten Frau umzusehen, die bei der Tür stehen blieb,
wollte er gleich ins Nebenzimmer. »Heute ist keine Sitzung«, sagte die Frau.
»Warum sollte keine Sitzung sein?« fragte er und wollte es nicht glauben.
Aber die Frau überzeugte ihn, indem sie die
Tür des Nebenzimmers öffnete. Es
war wirklich leer und sah in seiner Leere noch kläglicher aus als am letzten
Sonntag. Auf dem Tisch, der unverändert auf dem Podium stand, lagen einige
Bücher. »Kann ich mir die Bücher anschauen?« fragte K., nicht aus besonderer
Neugierde, sondern nur, um nicht vollständig nutzlos hier gewesen zu sein.
»Nein«, sagte die Frau und schloss wieder die Tür, »das ist nicht erlaubt.
Die Bücher gehören dem Untersuchungsrichter.« »Ach so«, sagte K. und nickte,
»die Bücher sind wohl Gesetzbücher, und
es gehört zu der Art dieses
Gerichtswesens, dass man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend
verurteilt wird.« »Es wird so sein«, sagte die Frau, die ihn nicht genau
verstanden hatte. »Nun, dann gehe ich wieder«, sagte K. »Soll ich dem
Untersuchungsrichter etwas melden?« fragte die Frau. »Sie kennen ihn?«
fragte K.
»Natürlich«, sagte die Frau, »mein Mann ist ja Gerichtsdiener.«
Erst jetzt
merkte K., dass das
Zimmer, in dem letzthin nur ein Waschbottich gestanden
war, jetzt ein völlig eingerichtetes Wohnzimmer bildete. Die Frau bemerkte
sein Staunen und sagte: »Ja, wir haben hier freie Wohnung, müssen aber an
Sitzungstagen das Zimmer ausräumen. Die Stellung meines Mannes hat manche
Nachteile.« »Ich staune nicht so sehr über das Zimmer«, sagte K. und blickte
sie böse an, »als vielmehr darüber, dass Sie verheiratet sind.« »Spielen Sie
vielleicht auf den Vorfall in der letzten Sitzung an, durch den ich Ihre
Rede störte?« fragte die Frau. »Natürlich«, sagte K., »heute ist es ja schon
vorüber und fast vergessen, aber damals hat es mich geradezu wütend gemacht.
Und nun sagen Sie selbst, dass Sie eine verheiratete Frau sind.« »Es war
nicht zu Ihrem Nachteil, dass Ihre Rede abgebrochen wurde. Man hat
nachher
noch sehr ungünstig über sie geurteilt.« »Mag sein«, sagte K. ablenkend,
»aber Sie entschuldigt das nicht.«
»Ich bin vor allen
entschuldigt, die mich kennen«, sagte die Frau, »der, welcher mich damals
umarmt hat, verfolgt mich schon seit langem.
Ich mag im allgemeinen nicht
verlockend sein, für ihn bin ich es aber. Es gibt hierfür keinen Schutz,
auch mein Mann hat sich schon damit abgefunden; will er seine Stellung
be-[→HL 41]halten, muss er es dulden, denn jener Mann ist
Student und wird
voraussichtlich zu größerer Macht kommen. Er ist immerfort hinter mir her,
gerade ehe Sie kamen, ist er fortgegangen.« »Es passt zu allem anderen«,
sagte K., »es überrascht mich nicht.« »Sie wollen hier wohl einiges
verbessern?« fragte die Frau langsam und prüfend, als sage sie etwas, was
sowohl für sie als für K. gefährlich war. »Ich habe das schon aus Ihrer Rede
geschlossen, die mir persönlich sehr gut gefallen hat. Ich habe allerdings
nur einen Teil gehört, den Anfang habe ich versäumt und
während des
Schlusses lag ich mit dem Studenten auf dem Boden. - Es ist ja so widerlich
hier«, sagte sie nach einer Pause und fasste K.s Hand.
»Glauben Sie, dass es Ihnen
gelingen wird, eine Besserung zu erreichen?« K. lächelte und
drehte seine
Hand ein wenig in ihren weichen Händen. »Eigentlich«, sagte er, »bin ich
nicht dazu angestellt, Besserungen hier zu erreichen, wie Sie sich
ausdrücken, und wenn Sie es zum Beispiel dem Untersuchungsrichter sagten,
würden Sie ausgelacht oder bestraft werden. Tatsächlich hätte ich mich auch
aus freiem Willen in diese Dinge gewiss nicht eingemischt, und meinen Schlaf
hätte die Verbesserungsbedürftigkeit dieses Gerichtswesens niemals gestört.
Aber ich bin dadurch, dass ich angeblich verhaftet wurde - ich bin nämlich
verhaftet -, gezwungen worden, hier einzugreifen, und zwar um meinetwillen.
Wenn ich aber dabei auch Ihnen irgendwie nützlich sein kann, werde ich es
natürlich sehr gerne tun. Nicht etwa nur aus Nächstenliebe, sondern außerdem
deshalb, weil auch Sie mir helfen können.« »Wie könnte ich denn das?« fragte
die Frau. »Indem Sie mir zum Beispiel die Bücher dort auf dem Tisch zeigen.«
»Aber gewiss«, rief die Frau
und zog ihn eiligst hinter sich her. Es waren
alte, abgegriffene Bücher, ein
Einbanddeckel war in der Mitte fast zerbrochen, die Stücke hingen nur durch
Fasern zusammen. »Wie schmutzig hier alles ist«, sagte K. kopfschüttelnd,
und die Frau wischte mit ihrer Schürze, ehe K. nach den Büchern greifen
konnte, wenigstens oberflächlich den Staub weg. K. schlug das oberste Buch
auf, es erschien ein unanständiges Bild. Ein Mann und eine Frau saßen nackt
auf einem Kanapee, die gemeine Absicht des Zeichners war deutlich zu
erkennen, aber seine Ungeschicklichkeit war so groß gewesen, dass
schließlich doch nur ein Mann und eine Frau zu sehen waren, die allzu
körperlich aus dem Bilde hervorragten, übermäßig aufrecht dasaßen und sich
infolge falscher Perspektive nur mühsam einander zuwendeten. K. blätterte
nicht weiter, sondern schlug nur noch das Titelblatt des zweiten Buches auf,
es war ein Roman mit dem Titel: »Die Plagen, welche Grete von ihrem Manne
Hans zu erleiden hatte.« »Das sind die
[→HL 42]
Gesetzbücher, die hier studiert
werden«, sagte K., »von solchen Menschen soll ich gerichtet werden.« »Ich
werde Ihnen helfen«, sagte die Frau. »Wollen Sie?« »Könnten Sie denn das
wirklich, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Sie sagten doch vorhin, Ihr
Mann sei sehr abhängig von Vorgesetzten.« »Trotzdem will ich Ihnen helfen«,
sagte die Frau, »kommen Sie, wir müssen es besprechen. Über meine Gefahr
reden Sie nicht mehr, ich fürchte die Gefahr nur dort, wo ich sie fürchten
will. Kommen Sie.« Sie zeigte auf das Podium und
bat ihn, sich mit ihr auf
die Stufe zu setzen. »Sie haben schöne dunkle Augen«, sagte sie, nachdem sie
sich gesetzt hatten, und sah K. von unten ins Gesicht, »man sagt mir, ich
hätte auch schöne Augen, aber Ihre sind viel schöner. Sie fielen mir
übrigens gleich damals auf, als Sie zum ersten Mal hier eintraten. Sie waren
auch der Grund, warum ich dann später hierher ins Versammlungszimmer ging,
was ich sonst niemals tue und was mir sogar gewissermaßen verboten ist.« Das
ist also alles, dachte K.,
sie bietet sich mir an, sie ist verdorben wie
alle hier rings herum, sie hat die Gerichtsbeamten satt, was ja begreiflich
ist, und begrüßt deshalb jeden beliebigen Fremden mit einem Kompliment wegen
seiner Augen. Und K. stand stillschweigend auf, als hätte er seine Gedanken
laut ausgesprochen und dadurch der Frau sein Verhalten erklärt. »Ich glaube
nicht, dass Sie mir helfen können«, sagte er, »um mir wirklich zu helfen,
müsste man Beziehungen zu hohen Beamten haben. Sie aber kennen gewiss nur
die niedrigen Angestellten, die sich hier in Mengen herumtreiben. Diese
kennen Sie gewiss sehr gut und könnten bei ihnen auch manches durchsetzen,
das bezweifle ich nicht, aber das Größte, was man bei ihnen durchsetzen
könnte, wäre für den endgültigen Ausgang des Prozesses gänzlich belanglos.
Sie aber hätten sich dadurch doch einige Freunde verscherzt. Das will ich
nicht. Führen Sie Ihr bisheriges Verhältnis zu diesen Leuten weiter, es
scheint mir nämlich, dass es Ihnen unentbehrlich ist. Ich sage das nicht
ohne Bedauern, denn, um Ihr Kompliment doch auch irgendwie zu erwidern,
auch
Sie gefallen mir gut, besonders wenn Sie mich wie jetzt so traurig ansehen,
wozu übrigens für Sie gar kein Grund ist.
Sie gehören zu der Gesellschaft,
die ich bekämpfen muss, befinden sich aber in ihr sehr wohl,
Sie lieben
sogar den Studenten, und wenn Sie ihn nicht lieben, so ziehen Sie ihn doch
wenigstens Ihrem Manne vor. Das konnte man aus Ihren Worten leicht
erkennen.« »Nein!« rief sie, blieb sitzen und griff nach K.s Hand, die er
ihr nicht rasch genug entzog. »Sie dürfen jetzt nicht weggehen, Sie dürfen
nicht mit einem falschen Urteil über mich weggehen! Brächten Sie es wirklich
zustande, jetzt wegzugehn? [→HL
43] Bin ich wirklich so wertlos, dass Sie mir nicht
einmal den Gefallen tun wollen, noch ein kleines Weilchen hier zu bleiben?«
»Sie missverstehen mich«, sagte K. und setzte sich, »wenn Ihnen wirklich
daran liegt, dass ich hier bleibe, bleibe ich gern, ich habe ja Zeit, ich
kam doch in der Erwartung her, dass heute eine Verhandlung sein werde. Mit
dem, was ich früher sagte, wollte ich Sie nur bitten, in meinem Prozess
nichts für mich zu unternehmen. Aber auch das muss Sie nicht kränken, wenn
Sie bedenken, dass mir am Ausgang des Prozesses gar nichts liegt und
dass
ich über eine Verurteilung nur lachen werde. Vorausgesetzt, dass es
überhaupt zu einem wirklichen Abschluss des Prozesses kommt, was ich sehr
bezweifle. Ich glaube vielmehr, dass das
Verfahren infolge Faulheit oder
Vergesslichkeit oder vielleicht sogar infolge Angst der Beamtenschaft schon
abgebrochen ist oder in der nächsten Zeit abgebrochen werden wird. Möglich
ist allerdings auch, dass man in Hoffnung auf irgendeine größere
Bestechung
den Prozess scheinbar weiterführen wird, ganz vergeblich, wie ich heute
schon sagen kann, denn ich besteche niemanden. Es wäre immerhin eine
Gefälligkeit, die Sie mir leisten könnten, wenn Sie dem Untersuchungsrichter
oder irgend jemandem sonst, der wichtige Nachrichten gern verbreitet,
mitteilten, dass ich niemals und durch keine Kunststücke, an denen die
Herren wohl reich sind, zu einer Bestechung zu bewegen sein werde. Es wäre
ganz aussichtslos, das können Sie ihnen offen sagen. Übrigens wird man es
vielleicht selbst schon bemerkt haben, und selbst wenn dies nicht sein
sollte, liegt mir gar nicht so viel daran, dass man es jetzt schon erfährt.
Es würde ja dadurch den Herren nur Arbeit erspart werden, allerdings auch
mir einige Unannehmlichkeiten, die ich aber gern auf mich nehme, wenn ich
weiß, dass jede gleichzeitig ein Hieb für die anderen ist. Und dass es so
wird, dafür will ich sorgen.
Kennen Sie eigentlich den
Untersuchungsrichter?« »Natürlich«, sagte die Frau, »an den dachte ich sogar
zuerst, als ich Ihnen Hilfe anbot.
Ich wusste nicht, dass er nur ein
niedriger Beamter ist, aber da Sie es sagen, wird es wahrscheinlich richtig
sein. Trotzdem glaube ich, dass der Bericht, den er nach oben liefert,
immerhin einigen Einfluss hat. Und er schreibt soviel Berichte. Sie sagen,
dass die Beamten faul sind, alle gewiss nicht, besonders dieser
Untersuchungsrichter nicht, er schreibt sehr viel.
Letzten Sonntag zum
Beispiel dauerte die Sitzung bis gegen Abend. Alle Leute gingen weg, der
Untersuchungsrichter aber blieb im Saal, ich musste ihm eine Lampe bringen,
ich hatte nur eine kleine Küchenlampe, aber er war mit ihr zufrieden und
fing gleich zu schreiben an. Inzwischen war auch mein Mann gekommen, der an
jenem Sonntag gerade [→HL 44] Urlaub hatte, wir holten die Möbel, richteten wieder
unser Zimmer ein, es kamen dann noch Nachbarn, wir unterhielten uns noch bei
einer Kerze, kurz, wir vergaßen den Untersuchungsrichter und gingen
schlafen. Plötzlich in der Nacht, es muss schon tief in der Nacht gewesen
sein, wache ich auf, neben dem Bett steht der Untersuchungsrichter und
blendet die Lampe mit der Hand ab, so dass auf meinen Mann kein Licht fällt,
es war unnötige Vorsicht, mein Mann hat einen solchen Schlaf, dass ihn auch
das Licht nicht geweckt hätte. Ich war so erschrocken, dass ich fast
geschrien hätte, aber der Untersuchungsrichter war sehr freundlich, ermahnte
mich zur Vorsicht, flüsterte mir zu, dass er bis jetzt geschrieben habe,
dass er mir jetzt die Lampe zurückbringe und dass er niemals den Anblick
vergessen werde, wie er mich schlafend gefunden habe. Mit dem allem wollte
ich Ihnen nur sagen, dass der Untersuchungsrichter tatsächlich viele
Berichte schreibt, insbesondere über Sie, denn Ihre Einvernahme war
gewiss
einer der Hauptgegenstände der sonntäglichen Sitzung. Solche langen Berichte
können aber doch nicht ganz bedeutungslos sein.
Außerdem aber können Sie
doch auch aus dem Vorfall sehen, dass sich der Untersuchungsrichter um mich
bewirbt und dass ich gerade jetzt in der ersten Zeit, er muss mich überhaupt
erst jetzt bemerkt haben, großen Einfluss auf ihn haben kann. dass ihm viel
an mir liegt, dafür habe ich jetzt auch noch andere Beweise. Er hat mir
gestern durch den Studenten, zu dem er viel Vertrauen hat und der sein
Mitarbeiter ist, seidene Strümpfe zum Geschenk geschickt, angeblich dafür,
dass ich das Sitzungszimmer aufräume, aber das ist nur ein Vorwand, denn
diese Arbeit ist doch nur meine Pflicht und für sie wird mein Mann bezahlt.
Es sind schöne Strümpfe, sehen Sie« -
sie streckte die Beine, zog die Röcke
bis zum Knie hinauf und sah auch selbst die Strümpfe an -, »es sind schöne
Strümpfe, aber doch eigentlich zu fein und für mich nicht geeignet.«
Plötzlich unterbrach sie sich,
legte ihre Hand auf K.s Hand, als wolle sie ihn beruhigen, und flüsterte:
»Still, Berthold sieht uns zu.« K. hob langsam den Blick. In der Tür des
Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er war klein, hatte nicht ganz gerade
Beine und suchte sich durch einen kurzen, schütteren, rötlichen Vollbart, in
dem er die Finger fortwährend herumführte, Würde zu geben. K. sah ihn
neugierig an, es war ja der erste
Student der unbekannten
Rechtswissenschaft, dem er gewissermaßen menschlich begegnete, ein Mann, der
wahrscheinlich auch einmal zu höheren Beamtenstellen gelangen würde. Der
Student dagegen kümmerte sich um K. scheinbar gar nicht, er winkte nur mit
einem Finger, den er für einen Augenblick aus seinem Barte zog, der
[→HL45] Frau und
ging zum Fenster, die Frau beugte sich zu K. und flüsterte: »Seien Sie mir
nicht böse, ich bitte Sie vielmals, denken Sie auch nicht schlecht von mir,
ich muss jetzt zu ihm gehen, zu diesem scheußlichen Menschen, sehen Sie nur
seine krummen Beine an. Aber ich komme gleich zurück, und
dann gehe ich mit
Ihnen, wenn Sie mich mitnehmen,
ich gehe, wohin Sie wollen, Sie können mit
mir tun, was Sie wollen, ich werde glücklich sein, wenn ich von hier für
möglichst lange Zeit fort bin, am liebsten allerdings für immer.« Sie
streichelte noch K.s Hand, sprang auf und lief zum Fenster.
Unwillkürlich haschte noch K.
nach ihrer Hand ins Leere. Die Frau verlockte ihn wirklich, er fand trotz
allem Nachdenken keinen haltbaren Grund dafür, warum er der Verlockung nicht
nachgeben sollte. Den flüchtigen Einwand, dass ihn die Frau für das Gericht
einfange, wehrte er ohne Mühe ab. Auf welche Weise konnte sie ihn einfangen?
Blieb er nicht immer so frei,
dass er das ganze Gericht, wenigstens soweit
es ihn betraf, sofort zerschlagen konnte? Konnte er nicht dieses geringe
Vertrauen zu sich haben? Und ihr Anerbieten einer Hilfe klang aufrichtig und
war vielleicht nicht wertlos. Und es gab
vielleicht keine bessere Rache an
dem Untersuchungsrichter und seinem Anhang, als dass er ihnen diese Frau
entzog und an sich nahm. Es könnte sich dann einmal der Fall ereignen, dass
der Untersuchungsrichter nach mühevoller Arbeit an Lügenberichten über K. in
später Nacht das Bett der Frau leer fand. Und leer deshalb,
weil sie K.
gehörte, weil diese Frau am Fenster,
dieser üppige, gelenkige, warme Körper
im dunklen Kleid aus grobem, schwerem Stoff, durchaus
nur K. gehörte.
Nachdem er auf diese Weise die
Bedenken gegen die Frau beseitigt hatte, wurde ihm das
leise Zwiegespräch am
Fenster zu lang, er klopfte mit den Knöcheln auf das Podium und dann auch
mit der Faust. Der Student sah kurz über die Schulter der Frau hinweg nach
K. hin, ließ sich aber nicht stören, ja drückte sich sogar eng an die Frau
und umfasste sie. Sie senkte tief den Kopf, als höre sie ihm aufmerksam zu,
er küsste sie, als sie sich bückte, laut auf den Hals, ohne sich im Reden
wesentlich zu unterbrechen. K. sah darin die Tyrannei bestätigt, die der
Student nach den Klagen der Frau über sie ausübte, stand auf und ging im
Zimmer auf und ab. Er überlegte unter Seitenblicken nach dem Studenten, wie
er ihn möglichst schnell wegschaffen könnte, und es war ihm daher nicht
unwillkommen, als der Student,
offenbar gestört durch K.s Herumgehen, das
schon zeitweilig zu einem Trampeln ausgeartet war, bemerkte: »Wenn Sie
ungeduldig sind, können Sie weggehen. Sie hätten auch schon früher weggehen
können, es hätte Sie niemand vermisst. Ja, Sie hätten sogar weggehen sollen,
und zwar [→HL 46]
schon bei meinem Eintritt, und zwar schleunigst.« Es mochte in
dieser Bemerkung alle mögliche Wut zum Ausbruch kommen, jedenfalls lag darin
aber auch der Hochmut des künftigen Gerichtsbeamten, der zu einem
missliebigen Angeklagten sprach. K. blieb ganz nahe bei ihm stehen und sagte
lächelnd: »Ich bin ungeduldig, das ist richtig, aber diese Ungeduld wird am
leichtesten dadurch zu beseitigen sein, dass Sie uns verlassen. Wenn Sie
aber vielleicht hergekommen sind, um zu studieren - ich hörte, dass Sie
Student sind -, so will ich Ihnen gerne Platz machen und mit der Frau
weggehen. Sie werden übrigens noch viel studieren müssen, ehe Sie Richter
werden. Ich kenne zwar Ihr
Gerichtswesen noch nicht sehr genau, nehme aber an, dass es mit groben Reden
allein, die Sie allerdings schon unverschämt gut zu führen wissen, noch
lange nicht getan ist.« »Man hätte ihn nicht so frei herumlaufen lassen
sollen«, sagte der Student, als wolle er der Frau eine Erklärung für K.s
beleidigende Rede geben, »es war ein Missgriff. Ich habe es dem
Untersuchungsrichter gesagt. Man hätte ihn zwischen den Verhören zumindest
in seinem Zimmer halten sollen. Der Untersuchungsrichter ist manchmal
unbegreiflich.« »Unnütze Reden«, sagte K. und streckte die Hand nach der
Frau aus, »kommen Sie.« »Ach so«, sagte der Student, »nein, nein, die
bekommen Sie nicht«, und mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte,
hob er sie auf einen Arm und lief mit gebeugtem Rücken, zärtlich zu ihr
aufsehend, zur Tür. Eine gewisse Angst vor K. war hierbei nicht zu
verkennen, trotzdem wagte er es, K. noch zu reizen, indem er mit der freien
Hand den Arm der Frau streichelte und drückte. K. lief ein paar Schritte
neben ihm her, bereit, ihn zu fassen und,
wenn es sein musste, zu würgen, da
sagte die Frau: »Es hilft nichts,
der Untersuchungsrichter lässt mich holen,
ich darf nicht mit Ihnen gehen, dieses kleine Scheusal«, sie fuhr hierbei
dem Studenten mit der Hand übers Gesicht, »dieses kleine Scheusal lässt mich
nicht.« »Und Sie wollen nicht befreit werden!« schrie K. und legte die Hand
auf die Schulter des Studenten, der mit den Zähnen nach ihr schnappte.
»Nein!« rief die Frau und wehrte K. mit beiden Händen ab, »nein, nein, nur
das nicht, woran denken Sie denn! Das wäre mein Verderben. Lassen Sie ihn
doch, o bitte, lassen Sie ihn doch.
Er führt ja nur den Befehl des
Untersuchungsrichters aus und trägt mich zu ihm.« »Dann mag er laufen und
Sie will ich nie mehr sehen«, sagte K. wütend vor Enttäuschung und
gab dem
Studenten einen Stoß in den Rücken, dass er kurz stolperte, um gleich
darauf, vor Vergnügen darüber, dass er nicht gefallen war, mit seiner Last
desto höher zu springen. K. ging ihnen langsam nach, er sah ein, dass das
die erste zweifellose Niederlage war, die
[→HL 47] er von diesen Leuten erfahren
hatte. Es war natürlich kein Grund, sich deshalb zu ängstigen, er
erhielt
die Niederlage nur deshalb, weil er den Kampf aufsuchte.
Wenn er zu Hause
bliebe und sein gewohntes Leben führte, war er jedem dieser Leute
tausendfach überlegen und konnte jeden mit einem Fußtritt von seinem Wege
räumen. Und er stellte sich die allerlächerlichste Szene vor, die es zum
Beispiel geben würde, wenn dieser
klägliche Student, dieses aufgeblasene
Kind, dieser krumme Bartträger vor Elsas Bett knien und
mit gefalteten
Händen um Gnade bitten würde. K. gefiel diese Vorstellung so, dass er
beschloss, wenn sich nur irgendeine Gelegenheit dafür ergeben sollte, den
Studenten einmal zu Elsa mitzunehmen.
Aus Neugierde eilte K. noch zur
Tür, er wollte sehen, wohin die Frau getragen wurde, der Student würde sie
doch nicht etwa über die Straßen auf dem Arm tragen. Es zeigte sich, dass
der Weg viel kürzer war. Gleich gegenüber der Wohnung führte eine schmale
hölzerne Treppe wahrscheinlich zum Dachboden, sie machte eine Wendung, so
dass man ihr Ende nicht sah. Über diese Treppe trug der Student die Frau
hinauf, schon sehr langsam und stöhnend, denn er war durch das bisherige
Laufen geschwächt. Die Frau grüßte mit der Hand zu K. hinunter und suchte
durch Auf- und Abziehen der Schultern zu zeigen, dass sie an der Entführung
unschuldig sei, viel Bedauern lag aber in dieser Bewegung nicht. K. sah sie
ausdruckslos wie eine Fremde an, er wollte weder verraten, dass er
enttäuscht war, noch auch, dass er die Enttäuschung leicht überwinden könne.
Die zwei waren schon
verschwunden, K. aber stand noch immer in der Tür. Er musste annehmen, dass
ihn die Frau nicht nur betrogen, sondern mit der Angabe, dass sie zum
Untersuchungsrichter getragen werde, auch belogen habe. Der
Untersuchungsrichter würde doch nicht auf dem Dachboden sitzen und warten.
Die Holztreppe erklärte nichts, so lange man sie auch ansah. Da bemerkte K.
einen kleinen Zettel neben dem Aufgang, ging hinüber und las in einer
kindlichen, ungeübten Schrift: »Aufgang zu den Gerichtskanzleien.« Hier auf
dem Dachboden dieses Miethauses waren also die Gerichtskanzleien? Das war
keine Einrichtung, die viel Achtung einzuflößen imstande war, und es war für
einen Angeklagten beruhigend, sich vorzustellen, wie wenig Geldmittel diesem
Gericht zur Verfügung standen, wenn es seine Kanzleien dort unterbrachte, wo
die Mietsparteien, die schon selbst zu den Ärmsten gehörten, ihren unnützen
Kram hinwarfen. Allerdings war es nicht ausgeschlossen, dass man Geld genug
hatte, dass aber die Beamtenschaft sich darüber warf, ehe es für
Ge-[→HL 48]richtszwecke verwendet wurde. Das war nach den bisherigen Erfahrungen K.s
sogar sehr wahrscheinlich, nur war dann eine solche
Verlotterung des
Gerichtes für einen Angeklagten zwar entwürdigend, aber im Grunde noch
beruhigender, als es die Armut des Gerichtes gewesen wäre. Nun war es K.
auch begreiflich, dass man sich beim ersten Verhör schämte, den Angeklagten
auf den Dachboden vorzuladen und es vorzog, ihn in seiner Wohnung zu
belästigen. In welcher Stellung befand sich doch K. gegenüber dem Richter,
der auf dem Dachboden saß, während er selbst in der Bank ein großes Zimmer
mit einem Vorzimmer hatte und durch eine riesige Fensterscheibe auf den
belebten Stadtplatz hinuntersehen konnte! Allerdings hatte er keine
Nebeneinkünfte aus Bestechungen oder Unterschlagungen und konnte sich auch
vom Diener keine Frau auf dem Arm ins Bureau tragen lassen. Darauf wollte K.
aber, wenigstens in diesem Leben, gerne verzichten.
K. stand noch vor dem
Anschlagzettel, als ein Mann die Treppe heraufkam, durch die offene Tür ins
Wohnzimmer sah, aus dem man auch das Sitzungszimmer sehen konnte, und
schließlich K. fragte, ob er hier nicht vor kurzem eine Frau gesehen habe.
»Sie sind der Gerichtsdiener, nicht?« fragte K. »Ja«, sagte der Mann, »ach
so, Sie sind der Angeklagte K., jetzt erkenne ich Sie auch, seien Sie
willkommen.« Und er reichte K., der es gar nicht erwartet hatte, die Hand.
»Heute ist aber keine Sitzung angezeigt«, sagte dann der Gerichtsdiener, als
K. schwieg. »Ich weiß«, sagte K. und betrachtete den Zivilrock des
Gerichtsdieners, der als einziges amtliches Abzeichen neben einigen
gewöhnlichen Knöpfen auch zwei vergoldete Knöpfe aufwies, die von einem
alten Offiziersmantel abgetrennt zu sein schienen. »Ich habe vor einem
Weilchen mit Ihrer Frau gesprochen. Sie ist nicht mehr hier. Der Student hat
sie zum Untersuchungsrichter getragen.« »Sehen Sie«, sagte der
Gerichtsdiener, »immer trägt man sie mir weg. Heute ist doch Sonntag, und
ich bin zu keiner Arbeit verpflichtet, aber nur, um mich von hier zu
entfernen, schickt man mich mit einer jedenfalls unnützen Meldung weg. Und
zwar schickt man mich nicht weit weg, so dass ich die Hoffnung habe, wenn
ich mich sehr beeile, vielleicht noch rechtzeitig zurückzukommen. Ich laufe
also, so sehr ich kann, schreie dem Amt, zu dem ich geschickt wurde, meine
Meldung durch den Türspalt so atemlos zu, dass man sie kaum verstanden haben
wird, laufe wieder zurück, aber der Student hat sich noch mehr beeilt als
ich, er hatte allerdings auch einen kürzeren Weg, er musste nur die
Bodentreppe hinunterlaufen. Wäre ich nicht so abhängig, ich hätte den
Studenten schon längst hier an der Wand zerdrückt. Hier neben dem
Anschlagzettel. Davon [→HL 49] träume ich immer. Hier, ein wenig über dem Fußboden,
ist er festgedrückt, die Arme gestreckt, die Finger gespreizt, die krummen
Beine zum Kreis gedreht, und ringsherum Blutspritzer. Bisher war es aber nur
Traum.«
»Eine andere Hilfe gibt es
nicht?« fragte K. lächelnd. »Ich wüsste keine«, sagte der Gerichtsdiener.
»Und jetzt wird es ja noch ärger, bisher hat er sie nur zu sich getragen,
jetzt trägt er sie, was ich allerdings längst erwartet habe, auch zum
Untersuchungsrichter.« »Hat denn Ihre Frau gar keine Schuld dabei«, fragte
K., er musste sich bei dieser Frage bezwingen,
so sehr fühlte auch er jetzt
die Eifersucht.
»Aber gewiss«, sagte der
Gerichtsdiener, »sie hat sogar die größte Schuld. Sie hat sich ja an ihn
gehängt. Was ihn betrifft, er läuft allen Weibern nach. In diesem Hause
allein ist er schon aus fünf Wohnungen, in die er sich eingeschlichen hat,
hinausgeworfen worden. Meine Frau ist allerdings die Schönste im ganzen
Haus, und gerade ich darf mich nicht wehren.« »Wenn es sich so verhält, dann
gibt es allerdings keine Hilfe«, sagte K. »Warum denn nicht?« fragte der
Gerichtsdiener. »Man müsste den Studenten, der ein Feigling ist, einmal,
wenn er meine Frau anrühren will, so durchprügeln, dass er es niemals mehr
wagt. Aber ich darf es nicht, und andere machen mir den Gefallen nicht, denn
alle fürchten seine Macht. Nur ein Mann wie Sie könnte es tun.« »Wieso denn
ich?« fragte K. erstaunt. »Sie sind doch angeklagt«, sagte der
Gerichtsdiener.
»Ja«, sagte K. »aber desto mehr
müsste ich doch fürchten, dass er, wenn auch vielleicht nicht Einfluss auf
den Ausgang des Prozesses, so doch wahrscheinlich auf die Voruntersuchung
hat.« »Ja, gewiss«, sagte der Gerichtsdiener, als sei die Ansicht K.s genau
so richtig wie seine eigene. »Es werden aber bei uns in der Regel keine
aussichtslosen Prozesse geführt.« »Ich bin nicht Ihrer Meinung«, sagte K.,
»das soll mich aber nicht hindern, gelegentlich den Studenten in Behandlung
zu nehmen.« »Ich wäre Ihnen sehr dankbar«, sagte der Gerichtsdiener etwas
förmlich, er schien eigentlich doch nicht an die Erfüllbarkeit seines
höchsten Wunsches zu glauben. »Es würden vielleicht«, fuhr K. fort, »auch
noch andere Ihrer Beamten und vielleicht sogar alle das gleiche verdienen.«
»Ja, ja«, sagte der Gerichtsdiener, als handle es sich um etwas
Selbstverständliches. Dann sah er K. mit einem zutraulichen Blick an, wie er
es bisher trotz aller Freundlichkeit nicht getan hatte, und fügte hinzu:
»Man rebelliert eben immer.« Aber das Gespräch schien ihm doch ein wenig
unbehaglich geworden zu sein, denn er brach es ab, indem er sagte: »Jetzt
muss ich mich in der Kanzlei melden. Wollen Sie mitkommen?« »Ich habe dort
nichts zu tun«, sagte K. »Sie können die Kanzleien ansehen. Es wird sich
niemand um Sie küm-[→HL 50]mern.« »Ist es denn sehenswert?« fragte K. zögernd, hatte
aber große Lust, mitzugehen. »Nun«, sagte der Gerichtsdiener, »ich dachte,
es würde Sie interessieren.« »Gut«, sagte K. schließlich, »ich gehe mit.«
Und er lief schneller als der Gerichtsdiener die Treppe hinauf. Beim
Eintritt wäre er fast hingefallen, denn hinter der Tür war noch eine Stufe.
»Auf das Publikum nimmt man nicht viel Rücksicht«, sagte er. »Man nimmt
überhaupt keine Rücksicht«, sagte der Gerichtsdiener, »sehen Sie nur hier
das Wartezimmer.« Es war ein langer Gang, von dem aus roh gezimmerte Türen
zu den einzelnen Abteilungen des Dachbodens führten. Obwohl
kein
unmittelbarer Lichtzutritt bestand, war es doch nicht vollständig dunkel,
denn manche Abteilungen hatten gegen den Gang zu statt einheitlicher
Bretterwände bloße, allerdings bis zur Decke reichende
Holzgitter, durch die
einiges Licht drang und durch die man auch einzelne Beamte sehen konnte, wie
sie an Tischen schrieben oder geradezu am Gitter standen und durch die
Lücken die Leute auf dem Gang beobachteten. Es waren, wahrscheinlich weil
Sonntag war, nur wenig Leute auf dem Gang. Sie machten einen sehr
bescheidenen Eindruck. In fast regelmäßigen Entfernungen voneinander saßen
sie auf den zwei Reihen langer Holzbänke, die zu beiden Seiten des Ganges
angebracht waren. Alle waren vernachlässigt angezogen, obwohl die meisten
nach dem Gesichtsausdruck, der Haltung, der Barttracht und vielen, kaum
sicherzustellenden kleinen Einzelheiten
den höheren Klassen angehörten. Da
keine Kleiderhaken vorhanden waren,
hatten sie die Hüte, wahrscheinlich
einer dem Beispiel des anderen folgend, unter die Bank gestellt. Als die,
welche zunächst der Tür saßen, K. und den Gerichtsdiener erblickten, erhoben
sie sich zum Gruß, da das die Folgenden sahen, glaubten sie auch grüßen zu
müssen, so dass alle beim Vorbeigehen der beiden sich erhoben.
Sie standen
niemals vollständig aufrecht, der Rücken war geneigt, die Knie geknickt, sie
standen wie Straßenbettler. K. wartete auf den ein wenig hinter ihm gehenden
Gerichtsdiener und sagte: »Wie gedemütigt die sein müssen.« »Ja«, sagte der
Gerichtsdiener, »es sind Angeklagte, alle, die Sie hier sehn, sind
Angeklagte.« »Wirklich!« sagte K. »Dann sind es ja meine Kollegen.« Und er
wandte sich an den nächsten, einen großen, schlanken, schon
fast
grauhaarigen Mann. »Worauf warten Sie hier?« fragte K. höflich. Die
unerwartete Ansprache aber machte den Mann verwirrt, was um so peinlicher
aussah, da es sich offenbar um einen
welterfahrenen Menschen handelte, der
anderswo gewiss sich zu beherrschen verstand und die Überlegenheit, die er
sich über viele erworben
[→HL
51] hatte, nicht leicht aufgab. Hier aber wusste er auf
eine so einfache Frage nicht zu antworten und sah auf die anderen hin, als
seien sie verpflichtet, ihm zu helfen, und als könne niemand von ihm eine
Antwort verlangen, wenn diese Hilfe ausbliebe. Da trat der Gerichtsdiener
hinzu und sagte, um den Mann zu beruhigen und aufzumuntern: »Der Herr hier
fragt ja nur, worauf Sie warten. Antworten Sie doch.« Die ihm wahrscheinlich
bekannte Stimme des Gerichtsdieners wirkte besser: »Ich warte -« begann er
und stockte. Offenbar hatte er diesen Anfang gewählt, um ganz genau auf die
Fragestellung zu antworten, fand aber jetzt die Fortsetzung nicht. Einige
der Wartenden hatten sich genähert und umstanden die Gruppe, der
Gerichtsdiener sagte zu ihnen: »Weg, weg, macht den Gang frei.« Sie wichen
ein wenig zurück, aber nicht bis zu ihren früheren Sitzen. Inzwischen hatte
sich der Gefragte gesammelt und antwortete sogar mit einem kleinen Lächeln:
»Ich habe vor einem Monat einige Beweisanträge in meiner Sache gemacht und
warte auf die Erledigung.« »Sie scheinen sich ja viele Mühe zu geben«, sagte
K. »Ja«, sagte der Mann, »es ist ja meine Sache.« »Jeder denkt nicht so wie
Sie«, sagte K., »ich zum Beispiel bin auch angeklagt, habe aber, so wahr ich
selig werden will, weder einen Beweisantrag gestellt, noch auch sonst irgend
etwas Derartiges unternommen. Halten Sie denn das für nötig?« »Ich weiß
nicht genau«, sagte der Mann wieder in vollständiger Unsicherheit; er
glaubte offenbar, K. mache mit ihm einen Scherz, deshalb hätte er
wahrscheinlich am liebsten, aus Furcht, irgendeinen neuen Fehler zu machen,
seine frühere Antwort ganz wiederholt, vor K.s ungeduldigem Blick aber sagte
er nur: »Was mich betrifft, ich habe Beweisanträge gestellt.« »Sie glauben
wohl nicht, dass ich angeklagt bin?« fragte K. »O bitte, gewiss«, sagte der
Mann, und trat ein wenig zur Seite, aber in der Antwort war nicht Glaube,
sondern nur Angst.
»Sie glauben mir also nicht?«
fragte K. und fasste ihn, unbewusst durch das
demütige Wesen des Mannes
aufgefordert, beim Arm, als wolle er ihn zum Glauben zwingen. Aber er wollte
ihm nicht Schmerz bereiten, hatte ihn auch nur ganz leicht angegriffen,
trotzdem schrie der Mann auf, als habe K. ihn nicht mit zwei Fingern,
sondern mit einer glühenden Zange erfasst. Dieses
lächerliche Schreien
machte ihn K. endgültig überdrüssig; glaubte man ihm nicht, dass er
angeklagt war, so war es desto besser; vielleicht hielt er ihn sogar für
einen Richter. Und er fasste ihn nun zum Abschied wirklich fester, stieß ihn
auf die Bank zurück und ging weiter. »Die meisten Angeklagten sind so
empfindlich«, sagte der Gerichtsdiener. Hinter ihnen sammelten sich jetzt
fast alle Wartenden um den Mann, der schon zu schreien
[→HL 52] aufgehört hatte, und
schienen ihn über den Zwischenfall genau auszufragen. K. entgegen kam jetzt
ein Wächter, der hauptsächlich an einem Säbel kenntlich war, dessen Scheide,
wenigstens der Farbe nach, aus Aluminium bestand. K. staunte darüber und
griff sogar mit der Hand hin. Der Wächter, der wegen des Schreiens gekommen
war, fragte nach dem Vorgefallenen. Der Gerichtsdiener suchte ihn mit
einigen Worten zu beruhigen, aber der Wächter erklärte, doch noch selbst
nachsehen zu müssen, salutierte und ging weiter mit sehr eiligen, aber sehr
kurzen, wahrscheinlich durch Gicht abgemessenen Schritten.
K. kümmerte sich nicht lange um
ihn und die Gesellschaft auf dem Gang, besonders da er etwa in der Hälfte
des Ganges die Möglichkeit sah, rechts durch eine türlose Öffnung
einzubiegen. Er verständigte sich mit dem Gerichtsdiener darüber, ob das der
richtige Weg sei, der Gerichtsdiener nickte, und K. bog nun wirklich dort
ein. Es war ihm lästig, dass er immer einen oder zwei Schritte vor dem
Gerichtsdiener gehen musste, es konnte wenigstens an diesem Ort den Anschein
haben, als ob er verhaftet vorgeführt werde. Er wartete also öfters auf den
Gerichtsdiener, aber dieser blieb gleich wieder zurück.
Schließlich sagte K., um seinem
Unbehagen ein Ende zu machen: »Nun habe ich gesehen, wie es hier aussieht,
ich will jetzt weggehen.« »Sie haben noch nicht alles gesehen«, sagte der
Gerichtsdiener vollständig unverfänglich. »Ich will nicht alles sehen«,
sagte K., der sich übrigens wirklich müde fühlte, »ich will gehen, wie kommt
man zum Ausgang?« »Sie haben sich doch nicht schon verirrt?« fragte der
Gerichtsdiener erstaunt, »Sie gehen hier bis zur Ecke und dann rechts den
Gang hinunter geradeaus zur Tür.« »Kommen Sie mit«, sagte K., »zeigen Sie
mir den Weg, ich werde ihn verfehlen, es sind hier so viele Wege.« »Es ist
der einzige Weg«, sagte der Gerichtsdiener nun schon vorwurfsvoll, »ich kann
nicht wieder mit Ihnen zurückgehen, ich muss doch meine Meldung vorbringen
und habe schon viel Zeit durch Sie versäumt.« »Kommen Sie mit!« wiederholte
K. jetzt schärfer, als habe er endlich den Gerichtsdiener auf einer
Unwahrheit ertappt. »Schreien Sie doch nicht so«, flüsterte der
Gerichtsdiener, »es sind ja hier überall Bureaus. Wenn Sie nicht allein
zurückgehen wollen, so gehen Sie noch ein Stückchen mit mir oder warten Sie
hier, bis ich meine Meldung erledigt habe, dann will ich ja gern mit Ihnen
wieder zurückgehen.« »Nein, nein«, sagte K., »ich werde nicht warten, und
Sie müssen jetzt mit mir gehen.« K. hatte sich noch gar nicht in dem Raum
umgesehen, in dem er sich befand, erst als jetzt eine der vielen Holztüren,
die ringsherum standen, sich öffnete, blickte er hin.
Ein Mädchen, das
wohl
[→HL 53]
durch K.s lautes Sprechen herbeigerufen war, trat ein und fragte: »Was
wünscht der Herr?« Hinter ihr in der Ferne sah man im Halbdunkel noch einen
Mann sich nähern. K. blickte den Gerichtsdiener an. Dieser hatte doch
gesagt, dass sich niemand um K. kümmern werde, und nun kamen schon zwei, es
brauchte nur wenig und die Beamtenschaft wurde auf ihn aufmerksam, würde
eine Erklärung seiner Anwesenheit haben wollen. Die einzig verständliche und
annehmbare war die, dass er Angeklagter war und das Datum des nächsten
Verhörs erfahren wollte, gerade diese Erklärung aber wollte er nicht geben,
besonders da sie auch nicht wahrheitsgemäß war, denn er war nur aus
Neugierde gekommen oder, was als Erklärung noch unmöglicher war, aus dem
Verlangen, festzustellen, dass das Innere dieses Gerichtswesens ebenso
widerlich war wie sein Äußeres. Und es schien ja, dass er mit dieser Annahme
recht hatte, er wollte nicht weiter eindringen, er war beengt genug von dem,
was er bisher gesehen hatte, er war gerade jetzt nicht in der Verfassung,
einem höheren Beamten gegenüberzutreten, wie er hinter jeder Tür auftauchen
konnte, er wollte weggehen, und zwar mit dem Gerichtsdiener oder allein,
wenn es sein musste.
Aber sein stummes Dastehen
musste auffallend sein, und wirklich sahen ihn das Mädchen und der
Gerichtsdiener derartig an, als ob in der nächsten Minute irgendeine große
Verwandlung mit ihm geschehen müsse, die sie zu beobachten nicht versäumen
wollten. Und in der Türöffnung stand der Mann, den K. früher in der Ferne
bemerkt hatte, er hielt sich am Deckbalken der niedrigen Tür fest und
schaukelte ein wenig auf den Fußspitzen, wie ein ungeduldiger Zuschauer. Das
Mädchen aber erkannte doch zuerst, dass das Benehmen K.s in einem
leichten
Unwohlsein seinen Grund hatte, sie brachte einen Sessel und fragte: »Wollen
Sie sich nicht setzen?« K. setzte sich sofort und stützte, um noch besseren
Halt zu bekommen, die Ellbogen auf die Lehnen. »Sie haben ein wenig
Schwindel, nicht?« fragte sie ihn. Er hatte nun ihr Gesicht nahe vor sich,
es hatte den strengen Ausdruck, wie ihn manche Frauen gerade in ihrer
schönsten Jugend haben. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte sie,
»das ist hier nichts Außergewöhnliches,
fast jeder bekommt einen solchen
Anfall, wenn er zum ersten Mal herkommt. Sie sind zum ersten Mal hier? Nun
ja, das ist also nichts Außergewöhnliches. Die Sonne brennt hier auf das
Dachgerüst, und das heiße Holz macht die Luft so dumpf und schwer. Der Ort
ist deshalb für Bureauräumlichkeiten nicht sehr geeignet, so große Vorteile er
allerdings sonst bietet. Aber was die Luft betrifft, so ist sie an Tagen
großen Parteienverkehrs, und das
[→HL 54] ist fast jeder Tag, kaum mehr atembar. Wenn
Sie dann noch bedenken, dass hier auch vielfach Wäsche zum Trocknen
ausgehängt wird - man kann es den Mietern nicht gänzlich untersagen -, so
werden Sie sich nicht mehr wundern, dass Ihnen ein wenig übel wurde. Aber
man gewöhnt sich schließlich an die Luft sehr gut.
Wenn Sie zum zweiten-
oder dritten Mal herkommen, werden Sie das Drückende hier kaum mehr spüren.
Fühlen Sie sich schon besser?« K. antwortete nicht, es war ihm zu peinlich,
durch diese plötzliche Schwäche den Leuten hier ausgeliefert zu sein,
überdies war ihm, da er jetzt die Ursachen seiner Übelkeit erfahren hatte,
nicht besser, sondern noch ein wenig schlechter. Das Mädchen merkte es
gleich, nahm, um K. eine Erfrischung zu bereiten, eine Hakenstange, die an
der Wand lehnte, und stieß damit eine kleine Luke auf, die gerade über K.
angebracht war und ins Freie führte. Aber es fiel so viel Ruß herein, dass
das Mädchen die Luke gleich wieder zuziehen und mit ihrem Taschentuch die
Hände K.s vom Ruß reinigen musste, denn K. war zu müde, um das selbst zu
besorgen. Er wäre gern hier ruhig sitzen geblieben,
bis er sich zum Weggehen
genügend gekräftigt hatte, das musste aber um so früher geschehen, je
weniger man sich um ihn kümmern würde. Nun sagte aber überdies das Mädchen:
»Hier können Sie nicht bleiben, hier stören wir den Verkehr -« K. fragte mit
den Blicken, welchen Verkehr er denn hier störe - »Ich werde Sie, wenn Sie
wollen, ins Krankenzimmer führen. Helfen Sie mir, bitte«, sagte sie zu dem
Mann in der Tür, der auch gleich näher kam. Aber K. wollte nicht ins
Krankenzimmer, gerade das wollte er ja vermeiden, weiter geführt zu werden,
je weiter er kam, desto ärger musste es werden. Ich kann schon gehen«, sagte
er deshalb und stand, durch das bequeme Sitzen verwöhnt,
zitternd auf. Dann
aber konnte er sich nicht aufrecht halten.
»Es geht doch nicht«, sagte er
kopfschüttelnd und setzte sich seufzend wieder nieder. Er erinnerte sich an
den Gerichtsdiener, der ihn trotz allem leicht hinausführen könnte, aber der
schien schon längst weg zu sein, K. sah zwischen dem Mädchen und dem Mann,
die vor ihm standen, hindurch, konnte aber den Gerichtsdiener nicht finden.
»Ich glaube«, sagte der Mann, der übrigens elegant gekleidet war und
besonders durch eine graue Weste auffiel, die in zwei langen, scharf
geschnittenen Spitzen endigte, »das Unwohlsein des Herrn geht auf die
Atmosphäre hier zurück, es wird daher am besten und auch ihm am liebsten
sein, wenn wir ihn nicht erst ins Krankenzimmer, sondern überhaupt aus den
Kanzleien hinausführen.« »Das ist es«, rief K. und fuhr vor lauter Freude
fast noch in die Rede des Mannes hinein, »mir wird gewiss sofort besser
[→HL 55]
werden,
ich bin auch gar nicht so schwach, nur ein wenig Unterstützung unter
den Achseln brauche ich, ich werde Ihnen nicht viel Mühe machen, es ist ja
auch kein langer Weg, führen Sie mich nur zur Tür, ich setze mich dann noch
ein wenig auf die Stufen und werde gleich erholt sein, ich leide nämlich gar
nicht unter solchen Anfällen, es kommt mir selbst überraschend. Ich bin doch
auch Beamter und an Bureauluft gewöhnt, aber hier scheint es doch zu arg, Sie
sagen es selbst. Wollen Sie also die Freundlichkeit haben, mich ein wenig zu
führen, ich habe nämlich Schwindel, und es wird mir schlecht, wenn ich
allein aufstehe.« Und er hob die Schultern, um es den beiden zu erleichtern,
ihm unter die Arme zu greifen.
Aber der Mann folgte der
Aufforderung nicht, sondern hielt die Hände ruhig in den Hosentaschen und
lachte laut. »Sehen Sie«, sagte er zu dem Mädchen, »ich habe also doch das
Richtige getroffen. Dem Herrn ist nur hier nicht wohl, nicht im
allgemeinen.«
Das Mädchen lächelte auch,
schlug aber dem Mann leicht mit den Fingerspitzen auf den Arm, als hätte er
sich mit K. einen zu starken Spaß erlaubt. »Aber was denken Sie denn«, sagte
der Mann noch immer lachend, »ich will ja den Herrn wirklich hinausführen.«
»Dann ist es gut«, sagte das Mädchen, indem sie ihren zierlichen Kopf für
einen Augenblick neigte. »Messen Sie dem Lachen nicht zuviel Bedeutung zu«,
sagte das Mädchen zu K., der, wieder traurig geworden, vor sich hinstarrte
und keine Erklärung zu brauchen schien, »dieser Herr - ich darf Sie doch
vorstellen?« (der Herr gab mit einer Handbewegung die Erlaubnis) - »dieser
Herr also ist der Auskunftgeber.
Er gibt den wartenden Parteien alle
Auskunft, die sie brauchen, und da unser Gerichtswesen in der Bevölkerung
nicht sehr bekannt ist, werden viele Auskünfte verlangt.
Er weiß auf alle
Fragen eine Antwort, Sie können ihn, wenn Sie einmal Lust dazu haben,
daraufhin erproben. Das ist aber nicht sein einziger Vorzug, sein zweiter
Vorzug ist die elegante Kleidung. Wir, das heißt die Beamtenschaft, meinten
einmal, man müsse den Auskunftgeber, der immerfort, und zwar als erster, mit
Parteien verhandelt, des würdigen ersten Eindrucks halber, auch elegant
anziehen. Wir anderen sind, wie Sie gleich an mir sehen können, leider sehr
schlecht und altmodisch angezogen; es hat auch nicht viel Sinn, für die
Kleidung etwas zu verwenden, da wir fast unaufhörlich in den Kanzleien sind,
wir schlafen ja auch hier. Aber, wie gesagt, für den Auskunftgeber hielten
wir einmal schöne Kleidung für nötig. Da sie aber von unserer Verwaltung,
die in dieser Hinsicht etwas sonderbar ist, nicht erhältlich war, machten
wir eine Sammlung - auch Parteien steuerten bei - und
[→HL 56] wir kauften ihm dieses
schöne Kleid und noch andere. Alles wäre jetzt vorbereitet, einen guten
Eindruck zu machen, aber durch sein Lachen verdirbt er es wieder und
erschreckt die Leute.« »So ist es«, sagte der Herr spöttisch, »aber ich
verstehe nicht, Fräulein, warum Sie dem Herrn alle unsere Intimitäten
erzählen oder besser, aufdrängen, denn er will sie ja gar nicht erfahren.
Sehen Sie nur, wie er, offenbar mit seinen eigenen Angelegenheiten
beschäftigt, dasitzt.« K. hatte nicht einmal Lust, zu widersprechen, die
Absicht des Mädchens mochte eine gute sein, sie war vielleicht darauf
gerichtet, ihn zu zerstreuen oder ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu
sammeln, aber das Mittel war verfehlt. »Ich musste ihm Ihr Lachen erklären«,
sagte das Mädchen. »Es war ja beleidigend.« »Ich glaube, er würde noch
ärgere Beleidigungen verzeihen, wenn ich ihn schließlich hinausführe.« K.
sagte nichts, sah nicht einmal auf, er duldete es, dass die zwei über ihn
wie über eine Sache verhandelten, es war ihm sogar am liebsten. Aber
plötzlich fühlte er die Hand des Auskunftgebers an einem Arm und die Hand
des Mädchens am anderen. »Also auf, Sie schwacher Mann«, sagte der
Auskunftgeber. »Ich danke Ihnen beiden vielmals«, sagte K., freudig
überrascht, erhob sich langsam und führte selbst die fremden Hände an die
Stellen, an denen er die Stütze am meisten brauchte. »Es sieht so aus«,
sagte das Mädchen leise in K.s Ohr, während sie sich dem Gang näherten, »als
ob mir besonders viel daran gelegen wäre, den Auskunftgeber in ein gutes
Licht zu stellen, aber man mag es glauben, ich will doch die Wahrheit sagen.
Er hat kein hartes Herz. Er ist nicht verpflichtet, kranke Parteien
hinauszuführen, und tut es doch, wie Sie sehen. Vielleicht ist niemand von
uns hartherzig, wir wollten vielleicht alle gern helfen, aber als
Gerichtsbeamte bekommen wir leicht den Anschein, als ob wir hartherzig wären
und niemandem helfen wollten. Ich leide geradezu darunter.« »Wollen Sie sich
nicht hier ein wenig setzen?« fragte der Auskunftgeber, sie waren schon im
Gang und gerade vor dem Angeklagten, den K. früher angesprochen hatte. K.
schämte sich fast vor ihm, früher war er so aufrecht vor ihm gestanden,
jetzt mussten ihn zwei stützen, seinen Hut balancierte der Auskunftgeber auf
den gespreizten Fingern, die Frisur war zerstört, die Haare hingen ihm in
die schweißbedeckte Stirn. Aber der Angeklagte schien nichts davon zu
bemerken, demütig stand er vor dem Auskunftgeber, der über ihn hinwegsah,
und suchte nur seine Anwesenheit zu entschuldigen. »Ich weiß«, sagte er,
»dass die Erledigung meiner Anträge heute noch nicht gegeben werden kann.
Ich bin aber doch gekommen, ich dachte, ich könnte doch hier warten, es ist
Sonntag, ich habe ja Zeit und hier störe ich
[→HL 57] nicht.« »Sie müssen das nicht
so sehr entschuldigen«, sagte der Auskunftgeber, »Ihre Sorgsamkeit ist ja
ganz lobenswert, Sie nehmen hier zwar unnötigerweise den Platz weg, aber ich
will Sie trotzdem, solange es mir nicht lästig wird, durchaus nicht hindern,
den Gang Ihrer Angelegenheit genau zu verfolgen. Wenn man Leute gesehen hat,
die ihre Pflicht schändlich vernachlässigten, lernt man es, mit Leuten, wie
Sie sind, Geduld zu haben. Setzen Sie sich.« »Wie er mit den Parteien zu
reden versteht«, flüsterte das Mädchen. K. nickte, fuhr aber gleich auf, als
ihn der Auskunftgeber wieder fragte: »Wollen Sie sich nicht hier
niedersetzen?« »Nein«, sagte K., »ich will mich nicht ausruhen.« Er hatte
das mit möglichster Bestimmtheit gesagt, in Wirklichkeit hätte es ihm sehr
wohlgetan, sich niederzusetzen. Er war wie seekrank. Er
glaubte auf einem
Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand. Es war ihm, als stürze
das Wasser gegen die Holzwände, als komme aus der Tiefe des Ganges ein
Brausen her, wie von überschlagendem Wasser, als schaukle der Gang in der
Quere und als würden die wartenden Parteien zu beiden Seiten gesenkt und
gehoben. Desto unbegreiflicher war die Ruhe des Mädchens und des Mannes, die
ihn führten. Er war ihnen ausgeliefert, ließen sie ihn los, so musste er
hinfallen wie ein Brett. Aus ihren kleinen Augen gingen scharfe Blicke hin
und her, ihre gleichmäßigen Schritte fühlte K., ohne sie mitzumachen, denn
er wurde fast von Schritt zu Schritt getragen. Endlich merkte er, dass sie
zu ihm sprachen, aber er verstand sie nicht, er hörte nur den Lärm, der
alles erfüllte und durch den hindurch ein unveränderlicher hoher Ton, wie
von einer Sirene, zu klingen schien. »Lauter«, flüsterte er mit gesenktem
Kopf und schämte sich, denn er wusste, dass sie laut genug, wenn auch für
ihn unverständlich, gesprochen hatten. Da kam endlich, als wäre die Wand vor
ihm durchrissen, ein frischer Luftzug ihm entgegen, und er hörte neben sich
sagen: »Zuerst will er weg, dann aber kann man ihm hundertmal sagen, dass
hier der Ausgang ist, und er rührt sich nicht.« K. merkte, dass er vor der
Ausgangstür stand, die das Mädchen geöffnet hatte. Ihm war, als wären alle
seine Kräfte mit einemmal zurückgekehrt, um einen Vorgeschmack der Freiheit
zu gewinnen, trat er gleich auf eine Treppenstufe und verabschiedete sich
von dort aus von seinen Begleitern, die sich zu ihm hinabbeugten. »Vielen
Dank«, wiederholte er, drückte beiden wiederholt die Hände und ließ erst ab,
als er zu sehen glaubte, dass sie, an die Kanzleiluft gewöhnt, die
verhältnismäßig frische Luft, die von der Treppe kam, schlecht ertrugen. Sie
konnten kaum antworten, und das Mädchen wäre vielleicht abgestürzt, wenn
nicht K. äußerst schnell die Tür geschlos-[→HL
58]sen hätte. K. stand dann noch einen
Augenblick still, strich sich mit Hilfe eines Taschenspiegels das Haar
zurecht, hob seinen Hut auf, der auf dem nächsten Treppenabsatz lag - der Auskunftgeber hatte ihn wohl hingeworfen - und lief dann die Treppe
hinunter, so frisch und in so langen Sprüngen, dass er vor diesem Umschwung
fast Angst bekam.
Solche Überraschungen hatte ihm sein sonst ganz
gefestigter Gesundheitszustand noch nie bereitet. Wollte etwa sein Körper
revolutionieren und ihm einen neuen Prozess bereiten, da er den alten so
mühelos ertrug? Er lehnte den Gedanken nicht ganz ab, bei nächster
Gelegenheit zu einem Arzt zu gehen, jedenfalls aber wollte er - darin konnte
er sich selbst beraten - alle künftigen Sonntagvormittage besser als diesen
verwenden.
DER PRÜGLER
Als K. an
einem der nächsten
Abende den Korridor passierte, der sein Bureau von der Haupttreppe trennte -
er ging diesmal fast als der letzte nach Hause, nur in der Expedition
arbeiteten noch zwei Diener im kleinen Lichtfeld einer Glühlampe -,
hörte er
hinter einer Tür, hinter der er immer nur eine Rumpelkammer vermutet hatte,
ohne sie jemals selbst gesehen zu haben, Seufzer ausstoßen. Er blieb
erstaunt stehen und horchte noch einmal auf, um festzustellen, ob er sich
nicht irrte - es wurde ein Weilchen still, dann waren es aber doch wieder
Seufzer. - Zuerst wollte er einen der Diener holen, man konnte vielleicht
einen Zeugen brauchen, dann aber
fasste ihn eine derart unbezähmbare
Neugierde, dass er die Tür förmlich aufriss. Es war, wie er richtig vermutet
hatte, eine Rumpelkammer. Unbrauchbare, alte Drucksorten, umgeworfene leere
irdene Tintenflaschen lagen hinter der Schwelle. In der Kammer selbst aber
standen drei Männer, gebückt in dem niedrigen Raum. Eine auf einem Regal
festgemachte Kerze gab ihnen Licht. »Was treibt ihr hier?« fragte K., sich
vor Aufregung überstürzend, aber nicht laut.
Der eine Mann, der die anderen
offenbar beherrschte und zuerst den Blick auf sich lenkte, stak in einer Art
dunkler Lederkleidung, die den Hals bis tief zur Brust und die ganzen Arme
nackt ließ. Er antwortete nicht. Aber die zwei anderen riefen: »Herr! Wir
sollen geprügelt werden, weil du dich beim Untersuchungsrichter über uns
beklagt hast.« Und nun erst erkannte K., dass es wirklich
die Wächter Franz
und Willem waren, und dass der dritte eine Rute in der Hand hielt, um sie zu
prügeln. »Nun«, sagte K. und starrte sie an, »ich habe mich nicht be-[→HL
59]klagt,
ich habe nur gesagt, wie es sich in meiner Wohnung zugetragen hat. Und
einwandfrei habt ihr euch ja nicht benommen.« »Herr«, sagte Willem, während
Franz sich hinter ihm vor dem dritten offenbar zu sichern suchte, »wenn Ihr
wüsstet, wie schlecht wir bezahlt sind, Ihr würdet besser über uns urteilen.
Ich habe eine Familie zu ernähren, und Franz hier wollte heiraten,
man sucht
sich zu bereichern, wie es geht, durch bloße Arbeit gelingt es nicht, selbst
durch die angestrengteste.
Euere feine Wäsche hat mich verlockt, es ist
natürlich den Wächtern verboten, so zu handeln, es war unrecht, aber
Tradition ist es, dass die Wäsche den Wächtern gehört, es ist immer so
gewesen, glaubt es mir; es ist ja auch verständlich, was bedeuten denn noch
solche Dinge für den, welcher so unglücklich ist, verhaftet zu werden?
Bringt er es dann allerdings öffentlich zur Sprache, dann muss die Strafe
erfolgen.« »Was ihr jetzt sagt, wusste ich nicht, ich habe auch keineswegs
eure Bestrafung verlangt, mir ging es um ein Prinzip.« »Franz«, wandte sich
Willem zum anderen Wächter, »sagte ich dir nicht, dass der Herr unsere
Bestrafung nicht verlangt hat? Jetzt hörst du, dass er nicht einmal gewusst
hat, dass wir bestraft werden müssen.« »lass dich nicht durch solche Reden
rühren«, sagte der dritte zu K., »die Strafe ist ebenso gerecht als
unvermeidlich.« »Höre nicht auf ihn«, sagte Willem und unterbrach sich nur,
um die Hand, über die er einen Rutenhieb bekommen hatte, schnell an den Mund
zu führen, »wir werden nur gestraft, weil du uns angezeigt hast. Sonst wäre
uns nichts geschehen, selbst wenn man erfahren hätte, was wir getan haben.
Kann man das Gerechtigkeit nennen? Wir zwei, insbesondere aber ich, hatten
uns als Wächter durch lange Zeit sehr bewährt - du selbst musst eingestehen,
dass wir, vom Gesichtspunkt der Behörde gesehen, gut gewacht haben - wir
hatten Aussicht, vorwärtszukommen und
wären gewiss bald auch Prügler
geworden wie dieser, der eben das Glück hatte, von niemandem angezeigt
worden zu sein, denn eine solche Anzeige kommt wirklich nur sehr selten vor.
Und jetzt, Herr, ist alles verloren, unsere Laufbahn beendet, wir werden
noch viel untergeordnetere Arbeiten leisten müssen, als es der Wachdienst
ist, und überdies bekommen wir jetzt diese schrecklich schmerzhaften
Prügel.« »Kann denn die Rute solche Schmerzen machen?« fragte K. und prüfte
die Rute, die der Prügler vor ihm schwang. »Wir werden uns ja ganz nackt
ausziehen müssen«, sagte Willem. »Ach so«, sagte K. und
sah den Prügler
genau an, er war braun gebrannt wie ein Matrose und hatte ein wildes,
frisches Gesicht. »Gibt es keine Möglichkeit, den beiden die Prügel zu
ersparen?« fragte er ihn. »Nein«, sagte der Prügler und schüttelte lächelnd
[→HL 60]
den Kopf. »Zieht euch aus!« befahl er den
Wächtern. Und zu K. sagte er: »Du musst ihnen nicht alles glauben, sie sind
durch die Angst vor den Prügeln schon ein wenig schwachsinnig geworden. Was
dieser hier, zum Beispiel« - er zeigte auf Willem - »über seine mögliche
Laufbahn erzählt hat, ist geradezu lächerlich. Sieh an, wie fett er ist -
die ersten Rutenstreiche werden überhaupt im Fett verloren gehen. -
Weißt
du, wodurch er so fett geworden ist? Er hat die Gewohnheit, allen
Verhafteten das Frühstück aufzuessen. Hat er nicht auch dein Frühstück
aufgegessen? Nun, ich sagte es ja. Aber ein Mann mit einem solchen Bauch
kann nie und nimmermehr Prügler werden, das ist ganz ausgeschlossen.« »Es
gibt auch solche Prügler«, behauptete Willem, der gerade seinen Hosengürtel
löste. »Nein«, sagte der Prügler und strich ihm mit der Rute derartig über
den Hals, dass er zusammenzuckte, »du sollst nicht zuhören, sondern dich
ausziehen.« »Ich würde dich gut belohnen, wenn du sie laufen lässt«, sagte
K. und zog, ohne den Prügler nochmals anzusehen - solche Geschäfte werden
beiderseits mit niedergeschlagenen Augen am besten abgewickelt - seine
Brieftasche hervor. »Du willst wohl dann auch mich anzeigen«, sagte der
Prügler, »und auch noch mir Prügel verschaffen. Nein, nein!« »Sei doch
vernünftig«, sagte K., »wenn ich gewollt hätte, dass diese beiden bestraft
werden, würde ich sie doch jetzt nicht loskaufen wollen. Ich könnte einfach
die Tür hier zuschlagen, nichts weiter sehen und hören wollen und nach Hause
gehen. Nun tue ich das aber nicht, vielmehr
liegt mir ernstlich daran, sie
zu befreien; hätte ich geahnt, dass sie bestraft werden sollen oder auch nur
bestraft werden können, hätte ich ihre Namen nie genannt. Ich halte sie
nämlich gar nicht für schuldig, schuldig ist die Organisation, schuldig sind
die hohen Beamten.« »So ist es!« riefen die Wächter und bekamen sofort einen
Hieb über ihren schon entkleideten Rücken.
»Hättest du hier unter deiner
Rute einen hohen Richter«, sagte K. und drückte, während er sprach, die
Rute, die sich schon wieder erheben wollte, nieder, »ich würde dich
wahrhaftig nicht hindern, loszuschlagen, im Gegenteil, ich würde dir noch
Geld geben, damit du dich für die gute Sache kräftigst.« »Was du sagst,
klingt ja glaubwürdig«, sagte der Prügler, »aber
ich lasse mich nicht
bestechen. Ich bin zum Prügeln angestellt, also prügle ich.« Der Wächter
Franz, der vielleicht in Erwartung eines guten Ausgangs des Eingreifens von
K. bisher ziemlich zurückhaltend gewesen war, trat jetzt, nur noch mit den
Hosen bekleidet, zur Tür, hing sich niederkniend an K.s Arm und flüsterte:
»Wenn du für uns beide Schonung nicht durchsetzen kannst, so
versuche
wenigstens, mich zu befreien. Willem ist älter als ich, in jeder Hinsicht
[→HL 61]
weniger empfindlich, auch hat er schon einmal vor ein paar Jahren eine
leichte Prügelstrafe bekommen,
ich aber bin noch nicht entehrt und bin doch
zu meiner Handlungsweise nur durch Willem gebracht worden, der im Guten und
Schlechten mein Lehrer ist.
Unten vor der Bank wartet meine arme Braut auf
den Ausgang, ich schäme mich ja so erbärmlich.« Er trocknete mit K.s Rock
sein von Tränen ganz überlaufenes Gesicht. »Ich warte nicht mehr«, sagte der Prügler, fasste die Rute mit beiden Händen und
hieb auf Franz ein, während
Willem in einem Winkel kauerte und heimlich zusah, ohne eine Kopfwendung zu
wagen. Da erhob sich der
Schrei, den Franz ausstieß, ungeteilt und
unveränderlich, er schien nicht von einem Menschen, sondern von einem
gemarterten Instrument zu stammen, der ganze Korridor tönte von ihm, das
ganze Haus musste es hören. »Schrei nicht«, rief K. er konnte sich nicht
zurückhalten, und während er gespannt in die Richtung sah, aus der die
Diener kommen mussten,
stieß er an Franz, nicht stark, aber doch stark
genug, dass der Besinnungslose niederfiel und im Krampf mit den Händen den
Boden absuchte; den Schlägen entging er aber nicht, die Rute fand ihn auch
auf der Erde; während er sich unter ihr wälzte, schwang sich ihre Spitze
regelmäßig auf und ab. Und schon erschien in der Ferne ein Diener und ein
paar Schritte hinter ihm ein zweiter.
K. hatte schnell die Tür zugeworfen,
war zu einem der Hoffenster getreten und öffnete es. Das Schreien hatte
vollständig aufgehört.
Um die Diener nicht herankommen zu lassen, rief er:
»Ich bin es!« »Guten Abend, Herr Prokurist!« rief es zurück. »Ist etwas
geschehen?« »Nein, nein«, antwortete K., »es schreit nur ein Hund auf dem
Hof.« Als die Diener sich doch nicht rührten, fügte er hinzu: »Sie können
bei Ihrer Arbeit bleiben.« Um sich in kein Gespräch mit den Dienern
einlassen zu müssen, beugte er sich aus dem Fenster. Als er nach einem
Weilchen wieder in den Korridor sah, waren sie schon weg. K. aber blieb nun
beim Fenster, in die Rumpelkammer wagte er nicht zu gehen und nach Hause
gehen wollte er auch nicht. Es war ein
kleiner viereckiger
Hof, in den er hinuntersah, ringsherum waren Bureauräume untergebracht,
alle
Fenster waren jetzt schon dunkel, nur die obersten fingen einen Widerschein
des Mondes auf. K. suchte angestrengt mit den Blicken in das Dunkel eines
Hofwinkels einzudringen, in dem einige Handkarren ineinander gefahren waren.
Es quälte ihn, dass es ihm
nicht gelungen war, das Prügeln zu verhindern, aber es war nicht seine
Schuld, dass es nicht gelungen war,
hätte Franz nicht geschrien -
gewiss, es
musste sehr weh getan haben,
aber in einem entscheidenden Augenblick muss
man sich beherrschen - hätte er nicht geschrien, so hät-[→HL
62]te K., wenigstens
sehr wahrscheinlich, noch ein Mittel gefunden, den Prügler zu überreden.
Wenn die ganze unterste Beamtenschaft Gesindel war, warum hätte gerade der
Prügler, der das unmenschlichste Amt hatte, eine Ausnahme machen sollen, K.
hatte auch
gut beobachtet, wie ihm beim Anblick der Banknote die Augen
geleuchtet hatten, er hatte mit dem Prügeln offenbar nur deshalb Ernst
gemacht, um die Bestechungssumme noch ein wenig zu erhöhen. Und K. hätte
nicht gespart, es lag ihm wirklich daran, die Wächter zu befreien;
wenn er
nun schon angefangen hatte, die Verderbnis dieses Gerichtswesens zu
bekämpfen, so war es selbstverständlich, dass er auch von dieser Seite
eingriff. Aber in dem Augenblick, wo Franz zu schreien angefangen hatte, war
natürlich alles zu Ende.
K. konnte nicht zulassen, dass die Diener und
vielleicht noch alle möglichen Leute kämen und ihn in Unterhandlungen mit
der Gesellschaft in der Rumpelkammer überraschten. Diese
Aufopferung konnte
wirklich niemand von K. verlangen. Wenn er das zu tun beabsichtigt hätte, so
wäre es ja fast einfacher gewesen,
K. hätte sich selbst ausgezogen und dem
Prügler als Ersatz für die Wächter angeboten. Übrigens hätte der Prügler
diese Vertretung gewiss nicht angenommen, da er dadurch, ohne einen Vorteil
zu gewinnen, dennoch seine Pflicht schwer verletzt hätte, und wahrscheinlich
doppelt verletzt hätte, denn K. musste
wohl, solange er im Verfahren stand,
für alle Angestellten des Gerichts unverletzlich sein. Allerdings konnten
hier auch besondere Bestimmungen gelten.
Jedenfalls hatte K. nichts anderes
tun können, als die Tür zuschlagen, obwohl dadurch auch jetzt noch für K.
durchaus nicht jede Gefahr beseitigt blieb.
dass er noch zuletzt Franz einen
Stoß gegeben hatte, war bedauerlich und nur durch seine Aufregung zu
entschuldigen.
In der Ferne hörte er die
Schritte der Diener; um ihnen nicht auffällig zu werden,
schloss er das
Fenster und ging in der Richtung zur Haupttreppe.
Bei der Tür zur
Rumpelkammer blieb er ein wenig stehen und horchte. Es war ganz still. Der
Mann konnte die Wächter totgeprügelt haben, sie waren ja ganz in seine Macht
gegeben. K. hatte schon die Hand nach der Klinke ausgestreckt, zog sie dann
aber wieder zurück.
Helfen konnte er niemandem
mehr, und die Diener mussten gleich kommen;
er gelobte sich aber, die Sache
noch zur Sprache zu bringen und die wirklich Schuldigen, die hohen Beamten,
von denen sich ihm noch keiner zu zeigen gewagt hatte, soweit es in seinen
Kräften war, gebührend zu bestrafen.
Als er die Freitreppe der Bank
hinunterging, beobachtete er sorgfältig alle Passanten, aber
selbst in der
weiteren Umgebung war kein Mädchen zu sehen, das auf jemanden
[→HL 63] gewartet
hätte. Die
Bemerkung Franzens, dass seine Braut auf ihn warte, erwies sich
als eine allerdings verzeihliche Lüge, die nur den Zweck gehabt hatte,
größeres Mitleid zu erwecken.
Auch noch am nächsten Tage kamen K. die
Wächter nicht aus dem Sinn; er war bei der Arbeit zerstreut und musste, um
sie zu bewältigen, noch ein wenig länger im Bureau bleiben als am Tag vorher.
Als er auf dem Nachhausewege wieder an der Rumpelkammer vorbeikam, öffnete
er sie wie aus Gewohnheit. Vor dem, was er statt des erwarteten Dunkels
erblickte, wusste er sich nicht zu fassen.
Alles war unverändert, so wie er
es am Abend vorher beim Öffnen der Tür gefunden hatte. Die Drucksorten und
Tintenflaschen gleich hinter der Schwelle, der Prügler mit der Rute,
die noch vollständig ausgezogenen Wächter, die Kerze auf dem Regal, und die
Wächter begannen zu klagen und riefen: »Herr!«
Sofort warf K. die Tür zu und
schlug mit den Fäusten gegen sie, als sei sie dann fester verschlossen.
Fast
weinend lief er zu den Dienern, die ruhig an den Kopiermaschinen arbeiteten
und erstaunt in ihrer Arbeit innehielten. »Räumt doch endlich die
Rumpelkammer aus!« rief er. »Wir versinken ja im Schmutz!« Die Diener waren
bereit, es am nächsten Tag zu tun, K. nickte, jetzt spät am Abend konnte er
sie nicht mehr zu der Arbeit zwingen, wie er es eigentlich beabsichtigt
hatte. Er setzte sich ein wenig, um die Diener ein Weilchen lang in der Nähe
zu behalten, warf einige Kopien durcheinander, wodurch er den Anschein zu
erwecken glaubte, dass er sie überprüfe, und ging dann, da er einsah, dass
die Diener nicht wagen würden, gleichzeitig mit ihm wegzugehen,
müde und
gedankenlos nach Hause.
DER ONKEL - LENI
Eines Nachmittags - K. war
gerade vor dem Postabschluss sehr beschäftigt - drängte sich zwischen zwei
Dienern, die Schriftstücke hineintrugen, K.s Onkel Karl, ein kleiner
Grundbesitzer vom Lande, ins Zimmer. K. erschrak bei dem Anblick weniger,
als er schon vor längerer Zeit bei der Vorstellung vom Kommen des Onkels
erschrocken war. Der Onkel musste kommen, das stand bei K. schon etwa einen
Monat lang fest. Schon damals hatte er ihn zu sehen geglaubt, wie er, ein
wenig gebückt, den eingedrückten Panamahut in der Linken, die Rechte schon
von weitem ihm entgegenstreckte und sie mit rücksichtsloser Eile über den
Schreib-[→HL 64]tisch hinreichte, alles umstoßend, was ihm im Wege war. Der Onkel
befand sich immer in Eile, denn er war von dem unglücklichen Gedanken
verfolgt, bei seinem immer nur eintägigen Aufenthalt in der Hauptstadt müsse
er alles erledigen können, was er sich vorgenommen hatte, und dürfte
überdies auch kein gelegentlich sich darbietendes Gespräch oder Geschäft
oder Vergnügen sich entgehen lassen. Dabei musste ihm K., der ihm als seinem
gewesenen Vormund besonders verpflichtet war, in allem möglichen behilflich
sein und ihn außerdem bei sich übernachten lassen. »Das Gespenst vom Lande«
pflegte er ihn zu nennen.
Gleich nach der Begrüßung - sich in den Fauteuil zu setzen, wozu ihn K.
einlud, hatte er keine Zeit - bat er K. um ein kurzes Gespräch unter vier
Augen. »Es ist notwendig«, sagte er, mühselig schluckend, »zu meiner
Beruhigung ist es notwendig.« K. schickte sofort die Diener aus dem Zimmer,
mit der Weisung, niemand einzulassen. »Was habe ich gehört, Josef?« rief der
Onkel, als sie allein waren, setzte sich auf den Tisch und stopfte unter
sich, ohne hinzusehen, verschiedene Papiere, um besser zu sitzen. K.
schwieg, er wusste, was kommen würde, aber, plötzlich von der anstrengenden
Arbeit entspannt, wie er war, gab er sich zunächst einer angenehmen
Mattigkeit hin und sah durch das Fenster auf die gegenüberliegende
Straßenseite, von der von seinem Sitz aus nur ein kleiner, dreieckiger
Ausschnitt zu sehen war, ein Stück leerer Häusermauer zwischen zwei
Geschäftsauslagen. »Du schaust aus dem Fenster!« rief der Onkel mit
erhobenen Armen, »um Himmels willen, Josef, antworte mir doch! Ist es wahr,
kann es denn wahr sein?« »Lieber Onkel«, sagte K. und riss sich von seiner
Zerstreutheit los, »ich weiß ja gar nicht, was du von mir willst.« »Josef«,
sagte der Onkel warnend, »die Wahrheit hast du immer gesagt, soviel ich
weiß. Soll ich deine letzten Worte als schlimmes Zeichen auffassen?« »Ich
ahne ja, was du willst«, sagte K. folgsam, »du hast wahrscheinlich von
meinem Prozess gehört.« »So ist es«. antwortete der Onkel, langsam nickend,
»ich habe von deinem Prozess gehört.« »Von wem denn?« fragte K.
»Erna hat es mir geschrieben«,
sagte der Onkel, »sie hat ja keinen Verkehr mit dir, du kümmerst dich leider
nicht viel um sie, trotzdem hat sie es erfahren. Heute habe ich den Brief
bekommen und bin natürlich sofort hergefahren. Aus keinem anderen Grund,
aber es scheint ein genügender Grund zu sein. Ich kann dir die Briefstelle,
die dich betrifft, vorlesen.« Er zog den Brief aus der Brieftasche. »Hier
ist es. Sie schreibt: «Josef habe ich schon lange nicht gesehen, vorige
Woche war ich einmal in der Bank, aber Josef war so beschäftigt, dass ich
nicht vorgelassen wurde; ich habe fast eine
[→HL 65] Stunde gewartet, musste dann
aber nach Hause, weil ich Klavierstunde hatte. Ich hätte gern mit ihm
gesprochen, vielleicht wird sich nächstens eine Gelegenheit finden. Zu
meinem Namenstag hat er mir eine große Schachtel Schokolade geschickt, es
war sehr lieb und aufmerksam. Ich hatte vergessen, es Euch damals zu
schreiben, erst jetzt, da Ihr mich fragt, erinnere ich mich daran.
Schokolade, müsst Ihr wissen, verschwindet nämlich in der Pension sofort,
kaum ist man zum Bewusstsein dessen gekommen, dass man mit Schokolade
beschenkt worden ist, ist sie auch schon weg. Aber was Josef betrifft,
wollte ich Euch noch etwas sagen. Wie erwähnt, wurde ich in der Bank nicht
zu ihm vorgelassen, weil er gerade mit einem Herrn verhandelte. Nachdem ich
eine Zeitlang ruhig gewartet hatte, fragte ich einen Diener, ob die
Verhandlung noch lange dauern werde. Er sagte, das dürfte wohl sein, denn es
handle sich wahrscheinlich um den Prozess, der gegen den Herrn Prokuristen
geführt werde. Ich fragte, was denn das für ein Prozess sei, ob er sich
nicht irre, er aber sagte, er irre sich nicht, es sei ein Prozess, und zwar
ein schwerer Prozess, mehr aber wisse er nicht. Er selbst möchte dem Herrn
Prokuristen gerne helfen, denn dieser sei ein guter und gerechter Herr, aber
er wisse nicht, wie er es anfangen sollte, und er möchte nur wünschen, dass
sich einflussreiche Herren seiner annehmen würden. Dies werde auch sicher
geschehen, und es werde schließlich ein gutes Ende nehmen, vorläufig aber
stehe es, wie er aus der Laune des Herrn Prokuristen entnehmen könne, gar
nicht gut. Ich legte diesen Reden natürlich nicht viel Bedeutung bei, suchte
auch den einfältigen Diener zu beruhigen, verbot ihm, anderen gegenüber
davon zu sprechen, und halte das Ganze für ein Geschwätz.
Trotzdem wäre es vielleicht
gut, wenn Du, liebster Vater, bei Deinem nächsten Besuch der Sache nachgehen
wolltest, es wird Dir leicht sein, Genaueres zu erfahren und, wenn es
wirklich nötig sein sollte, durch Deine großen, einflussreichen
Bekanntschaften einzugreifen. Sollte es aber nicht nötig sein, was ja das
wahrscheinlichste ist, so wird es wenigstens Deiner Tochter bald Gelegenheit
geben, Dich zu umarmen, was sie freuen würde.» - Ein gutes Kind«, sagte der
Onkel, als er die Vorlesung beendet hatte, und wischte einige Tränen aus den
Augen fort. K. nickte, er hatte infolge der verschiedenen Störungen der
letzten Zeit vollständig Erna vergessen, sogar ihren Geburtstag hatte er
vergessen, und die Geschichte von der Schokolade war offenbar nur zu dem
Zweck erfunden, um ihn vor Onkel und Tante in Schutz zu nehmen. Es war sehr
rührend, und mit den Theaterkarten, die er ihr von jetzt ab regelmäßig
schicken wollte, gewiss nicht genügend belohnt, aber zu Besuchen in der
[→HL 66]
Pension und zu Unterhaltungen mit einer kleinen achtzehnjährigen
Gymnasiastin fühlte er sich jetzt nicht geeignet. »Und was sagst du jetzt?«
fragte der Onkel, der durch den Brief alle Eile und Aufregung vergessen
hatte und ihn noch einmal zu lesen schien. »Ja, Onkel«, sagte K., »es ist
wahr.« »Wahr?« rief der Onkel. »Was ist wahr? Wie kann es denn wahr sein?
Was für ein Prozess? Doch nicht ein Strafprozess?« »Ein Strafprozess«,
antwortete K. »Und du sitzt ruhig hier und hast einen Strafprozess auf dem
Halse?« rief der Onkel, der immer lauter wurde. »Je ruhiger ich bin, desto
besser ist es für den Ausgang«, sagte K. müde, »fürchte nichts.« »Das kann
mich nicht beruhigen!« rief der Onkel, »Josef, lieber Josef, denke an dich,
an deine Verwandten, an unsern guten Namen! Du warst bisher unsere Ehre, du
darfst nicht unsere Schande werden. Deine Haltung«, er sah K. mit schief
geneigtem Kopfe an, »gefallt mir nicht, so verhält sich kein unschuldig
Angeklagter, der noch bei Kräften ist. Sag mir nur schnell, worum es sich
handelt, damit ich dir helfen kann. Es handelt sich natürlich um die Bank?«
»Nein«, sagte K. und stand auf, »du sprichst aber zu laut, lieber Onkel, der
Diener steht wahrscheinlich an der Tür und horcht. Das ist mir unangenehm.
Wir wollen lieber weggehen. Ich werde dir dann alle Fragen, so gut es geht,
beantworten. Ich weiß sehr gut, dass ich der Familie Rechenschaft schuldig
bin.« »Richtig!« schrie der Onkel, »sehr richtig, beeile dich nur, Josef,
beeile dich!« »Ich muss nur noch einige Aufträge geben«, sagte K. und berief
telephonisch seinen Vertreter zu sich, der in wenigen Augenblicken eintrat.
Der Onkel, in seiner Aufregung, zeigte ihm mit der Hand, dass K. ihn habe
rufen lassen, woran auch sonst kein Zweifel gewesen wäre. K., der vor dem
Schreibtisch stand, erklärte dem jungen Mann, der kühl, aber aufmerksam
zuhörte, mit leiser Stimme unter Zuhilfenahme verschiedener Schriftstücke,
was in seiner Abwesenheit heute noch erledigt werden müsse. Der Onkel
störte, indem er zuerst mit großen Augen und nervösem Lippenbeißen
dabeistand, ohne allerdings zuzuhören, aber der Anschein dessen war schon
störend genug. Dann aber ging er im Zimmer auf und ab und blieb hie und da
vor dem Fenster oder vor einem Bild stehen, wobei er immer in verschiedene
Ausrufe ausbrach, wie: »Mir ist es vollständig unbegreiflich!« oder »Jetzt
sagt mir nur, was soll denn daraus werden!« Der junge Mann tat, als bemerke
er nichts davon, hörte ruhig K.s Aufträge bis zu Ende an, notierte sich auch
einiges und ging, nachdem er sich vor K. wie auch vor dem Onkel verneigt
hatte, der ihm aber gerade den Rücken zukehrte, aus dem Fenster sah und mit
ausgestreckten Händen die Vorhänge zusammenknüllte. Die Tür hatte sich noch
[→HL 67]
kaum geschlossen, als der Onkel ausrief: »Endlich ist der Hampelmann
weggegangen, jetzt können doch auch wir gehen. Endlich!« Es gab leider kein
Mittel, den Onkel zu bewegen, in der Vorhalle, wo einige Beamte und Diener
herumstanden und die gerade auch der Direktor-Stellvertreter kreuzte, die
Fragen wegen des Prozesses zu unterlassen. »Also, Josef«, begann der Onkel,
während er die Verbeugungen der Umstehenden durch leichtes Salutieren
beantwortete, »jetzt sag mir offen, was es für ein Prozess ist.« K. machte
einige nichts sagende Bemerkungen, lachte auch ein wenig, und erst auf der
Treppe erklärte er dem Onkel, dass er vor den Leuten nicht habe offen reden
wollen. »Richtig«, sagte der Onkel, »aber jetzt rede.« Mit geneigtem Kopf,
eine Zigarre in kurzen, eiligen Zügen rauchend, hörte er zu. »Vor allem,
Onkel«, sagte K., »handelt es sich gar nicht um einen Prozess vor dem
gewöhnlichen Gericht.« »Das ist schlimm«, sagte der Onkel. »Wie?« sagte K.
und sah den Onkel an. »dass das schlimm ist, meine ich«, wiederholte der
Onkel. Sie standen auf der Freitreppe, die zur Straße führte; da der Portier
zu horchen schien, zog K. den Onkel hinunter; der lebhafte Straßenverkehr
nahm sie auf. Der Onkel, der sich in K. eingehängt hatte, fragte nicht mehr
so dringend nach dem Prozess, sie gingen sogar eine Zeitlang schweigend
weiter. »Wie ist es aber geschehen?« fragte endlich der Onkel, so plötzlich
stehen bleibend, dass die hinter ihm gehenden Leute erschreckt auswichen.
»Solche Dinge kommen doch nicht plötzlich, sie bereiten sich seit langem
vor, es müssen Anzeichen dessen gewesen sein, warum hast du mir nicht
geschrieben? Du weißt, dass ich für dich alles tue, ich bin ja
gewissermaßen
noch dein Vormund und war bis heute stolz darauf. Ich werde dir natürlich
auch jetzt noch helfen, nur ist es jetzt, wenn der Prozess schon im Gange
ist, sehr schwer. Am besten wäre es jedenfalls, wenn du dir jetzt einen
kleinen Urlaub nimmst und zu uns aufs Land kommst. Du bist auch ein wenig
abgemagert, jetzt merke ich es. Auf dem Land wirst du dich kräftigen, das
wird gut sein, es stehen dir ja gewiss Anstrengungen bevor. Außerdem aber
wirst du dadurch dem Gericht gewissermaßen entzogen sein. Hier haben sie
alle möglichen Machtmittel, die sie notwendigerweise automatisch auch dir
gegenüber anwenden; auf das Land müssten sie aber erst Organe delegieren
oder nur brieflich, telegraphisch, telephonisch auf dich einzuwirken suchen.
Das schwächt natürlich die Wirkung ab, befreit dich zwar nicht, aber lässt
dich aufatmen.« »Sie könnten mir ja verbieten, wegzufahren«, sagte K., den
die Rede des Onkels ein wenig in ihren Gedankengang gezogen hatte. »Ich
glaube nicht, dass sie das tun werden«, sagte der
[→HL 68] Onkel nachdenklich, »so
groß ist der Verlust an Macht nicht, den sie durch deine Abreise erleiden.«
»Ich dachte«, sagte K. und fasste den Onkel unterm Arm, um ihn am Stehen
bleiben hindern zu können, »dass du dem Ganzen noch weniger Bedeutung
beimessen würdest als ich, und jetzt nimmst du es selbst so schwer.«
»Josef«, rief der Onkel und wollte sich ihm entwinden, um Stehen bleiben zu
können, aber K. ließ ihn nicht, »du bist verwandelt, du hattest doch immer
ein so richtiges Auffassungsvermögen, und gerade jetzt verlässt es dich?
Willst du denn den Prozess verlieren? Weißt du, was das bedeutet? Das
bedeutet, dass du einfach gestrichen wirst. Und dass die ganze
Verwandtschaft mitgerissen oder wenigstens bis auf den Boden gedemütigt
wird. Josef, nimm dich doch zusammen. Deine Gleichgültigkeit bringt mich um
den Verstand. Wenn man dich ansieht, möchte man fast dem Sprichwort glauben:
«Einen solchen Prozess haben, heißt ihn schon verloren haben».«
»Lieber Onkel«, sagte K., »die
Aufregung ist so unnütz, sie ist es auf deiner Seite und wäre es auch auf
meiner. Mit Aufregung gewinnt man die Prozesse nicht, lass auch meine
praktischen Erfahrungen ein wenig gelten, so wie ich deine, selbst wenn sie
mich überraschen, immer und auch jetzt sehr achte. Da du sagst, dass auch
die Familie durch den Prozess in Mitleidenschaft gezogen würde - was ich für
meinen Teil durchaus nicht begreifen kann, das ist aber Nebensache -, so
will dir gerne in allem folgen. Nur den Landaufenthalt halte ich selbst in
deinem Sinne nicht für vorteilhaft, denn das würde Flucht und
Schuldbewusstsein bedeuten. Überdies bin ich hier zwar mehr verfolgt, kann
aber auch selbst die Sache mehr betreiben.« »Richtig«, sagte der Onkel in
einem Ton, als kämen sie jetzt endlich einander näher, »ich machte den
Vorschlag nur, weil ich, wenn du hier bliebst, die Sache von deiner
Gleichgültigkeit gefährdet sah und es für besser hielt, wenn ich statt
deiner für dich arbeitete. Willst du es aber mit aller Kraft selbst
betreiben, so ist es natürlich weit besser.« »Darin wären wir also einig«,
sagte K. »Und hast du jetzt einen Vorschlag dafür, was ich zunächst machen
soll?« »Ich muss mir natürlich die Sache noch überlegen«, sagte der Onkel,
»du musst bedenken, dass ich jetzt schon zwanzig Jahre fast ununterbrochen
auf dem Lande bin, dabei lässt der Spürsinn in diesen Richtungen nach.
Verschiedene wichtige Verbindungen mit Persönlichkeiten, die sich hier
vielleicht besser auskennen, haben sich von selbst gelockert. Ich bin auf
dem Land ein wenig verlassen, das weißt du ja. Selbst merkt man es
eigentlich erst bei solchen Gelegenheiten. Zum Teil kam mir deine Sache auch
unerwartet, wenn ich auch merkwürdigerweise nach Ernas Brief schon etwas
Derartiges ahnte und es heute
[→HL
69] bei deinem Anblick fast mit Bestimmtheit
wusste. Aber das ist gleichgültig, das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu
verlieren.« Schon während seiner Rede hatte er, auf den Fußspitzen stehend,
einem Automobil gewinkt und zog jetzt, während er gleichzeitig dem
Wagenlenker eine Adresse zurief, K. hinter sich in den Wagen. »Wir fahren
jetzt zum Advokaten Huld«, sagte er, »er war mein Schulkollege. Du kennst
den Namen gewiss auch? Nicht? Das ist aber merkwürdig. Er hat doch als
Verteidiger und Armenadvokat einen bedeutenden Ruf. Ich aber habe besonders
zu ihm als Menschen großes Vertrauen.« »Mir ist alles recht, was du
unternimmst«, sagte K., obwohl ihm die eilige und dringliche Art, mit der
der Onkel die Angelegenheit behandelte, Unbehagen verursachte. Es war nicht
sehr erfreulich, als Angeklagter zu einem Armenadvokaten zu fahren. »Ich
wusste nicht«, sagte er, »dass man in einer solchen Sache auch einen
Advokaten zuziehen könne.« »Aber natürlich«, sagte der Onkel, »das ist ja
selbstverständlich. Warum denn nicht? Und nun erzähle mir, damit ich über
die Sache genau unterrichtet bin, alles, was bisher geschehen ist.« K.
begann sofort zu erzählen, ohne irgend etwas zu verschweigen, seine
vollständige Offenheit war der einzige Protest, den er sich gegen des Onkels
Ansicht, der Prozess sei eine große Schande, erlauben konnte. Fräulein
Bürstners Namen erwähnte er nur einmal und flüchtig, aber das
beeinträchtigte nicht die Offenheit, denn Fräulein Bürstner stand mit dem
Prozess in keiner Verbindung. Während er erzählte, sah er aus dem Fenster
und beobachtete, wie sie sich gerade jener Vorstadt näherten, in der die
Gerichtskanzleien waren, er machte den Onkel darauf aufmerksam, der aber das
Zusammentreffen nicht besonders auffallend fand. Der Wagen hielt vor einem
dunklen Haus. Der Onkel läutete gleich im Parterre bei der ersten Tür;
während sie warteten, fletschte er lächelnd seine großen Zähne und
flüsterte: »Acht Uhr, eine ungewöhnliche Zeit für Parteienbesuche. Huld
nimmt es mir aber nicht übel.« Im Guckfenster der Tür erschienen
zwei große,
schwarze Augen, sahen ein Weilchen die zwei Gäste an und verschwanden; die
Tür öffnete sich aber nicht. Der Onkel und K. bestätigten einander
gegenseitig die Tatsache, die zwei Augen gesehen zu haben. »Ein neues
Stubenmädchen, das sich vor Fremden fürchtet«, sagte der Onkel und klopfte
nochmals.
Wieder erschienen die Augen, man konnte sie jetzt fast für traurig
halten, vielleicht war das aber auch nur eine Täuschung, hervorgerufen durch
die offene Gasflamme, die nahe über den Köpfen stark zischend brannte, aber
wenig Licht gab.
»Öffnen Sie«, rief der Onkel
und hieb mit der Faust gegen die Tür, »es sind Freunde des Herrn Ad-[→HL
70]vokaten!«
»Der Herr Advokat ist krank«, flüsterte es hinter ihnen. In einer Tür am
andern Ende des kleinen Ganges stand ein Herr im Schlafrock und machte mit
äußerst leiser Stimme diese Mitteilung. Der Onkel, der schon wegen des
langen Wartens wütend war, wandte sich mit einem Ruck um, rief: »Krank? Sie
sagen, er ist krank?« und ging fast drohend, als sei der Herr die Krankheit,
auf ihn zu. »Man hat schon geöffnet«, sagte der Herr, zeigte auf die Tür des
Advokaten, raffte seinen Schlafrock zusammen und verschwand. Die Tür war
wirklich geöffnet worden, ein junges Mädchen
- K. erkannte
die dunklen, ein
wenig hervorgewälzten Augen wieder - stand in langer, weißer Schürze im
Vorzimmer und hielt eine Kerze in der Hand.
»Nächstens öffnen Sie früher!«
sagte der Onkel statt einer Begrüßung, während das Mädchen einen
kleinen
Knicks machte. »Komm, Josef«, sagte er dann zu K., der sich langsam an dem
Mädchen vorüberschob. »Der Herr Advokat ist krank«, sagte das Mädchen, da
der Onkel, ohne sich aufzuhalten, auf eine Tür zueilte.
K. staunte das
Mädchen noch an, während es sich schon umgedreht hatte, um die Wohnungstür
wieder zu versperren, es hatte
ein puppenförmiges gerundetes Gesicht, nicht
nur
die bleichen Wangen und das Kinn verliefen rund, auch die Schläfen und
die Stirnränder.
»Josef!« rief der Onkel wieder,
und das Mädchen fragte er: »Es ist das Herzleiden?« »Ich glaube wohl«, sagte
das Mädchen, es hatte Zeit gefunden, mit der Kerze voranzugehen und die
Zimmertür zu öffnen. In einem Winkel des Zimmers, wohin das Kerzenlicht noch
nicht drang, erhob sich im Bett ein Gesicht mit langem Bart. »Leni, wer
kommt denn?« fragte der Advokat, der, durch die Kerze geblendet, die Gäste
nicht erkannte. »Albert, dein alter Freund ist es«, sagte der Onkel. »Ach,
Albert«, sagte der Advokat und ließ sich auf die Kissen zurückfallen, als
bedürfe es diesem Besuch gegenüber keiner Verstellung. »Steht es wirklich so
schlecht?« fragte der Onkel und setzte sich auf den Bettrand. »Ich glaube es
nicht. Es ist ein Anfall deines Herzleidens und wird vorübergehen wie die
früheren.« »Möglich«, sagte der Advokat leise, »es ist aber ärger, als es
jemals gewesen ist. Ich atme schwer, schlafe gar nicht und verliere täglich
an Kraft.« »So«, sagte der Onkel und drückte den Panamahut mit seiner großen
Hand fest aufs Knie. »Das sind schlechte Nachrichten. Hast du übrigens die
richtige Pflege? Es ist auch so traurig hier, so dunkel. Es ist schon lange
her, seit ich zum letzten Mal hier war, damals schien es mir freundlicher.
Auch dein kleines Fräulein hier scheint nicht sehr lustig, oder sie
verstellt sich.« Das Mädchen stand noch immer mit der Kerze nahe bei der
Tür; soweit ihr unbestimmter Blick erkennen ließ,
sah sie eher K.
[→HL 71] an als den
Onkel, selbst als dieser jetzt von ihr sprach. K. lehnte an einem Sessel,
den er in die Nähe des Mädchens geschoben hatte. »Wenn man so krank ist wie
ich«, sagte der Advokat, »muss man Ruhe haben. Mir ist es nicht traurig.«
Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Und Leni pflegt mich gut, sie ist
brav.« Den Onkel konnte das aber nicht überzeugen, er war
sichtlich gegen
die Pflegerin voreingenommen, und wenn er auch dem Kranken nichts
entgegnete, so verfolgte er doch die Pflegerin mit strengen Blicken, als sie
jetzt zum Bett hinging, die Kerze auf das Nachttischchen stellte, sich über
den Kranken hinbeugte und beim Ordnen der Kissen mit ihm flüsterte. Er
vergaß fast die Rücksicht auf den Kranken, stand auf, ging hinter der
Pflegerin hin und her, und K. hätte es nicht gewundert, wenn er sie hinten
an den Röcken erfasst und vom Bett fortgezogen hätte. K. selbst sah allem
ruhig zu, die Krankheit des Advokaten war ihm sogar nicht ganz unwillkommen,
dem Eifer, den der Onkel für seine Sache entwickelt hatte, hatte er sich
nicht entgegenstellen können, die Ablenkung, die dieser Eifer jetzt ohne
sein Zutun erfuhr, nahm er gerne hin. Da sagte der Onkel, vielleicht nur in
der Absicht, die Pflegerin zu beleidigen: »Fräulein, bitte, lassen Sie uns
ein Weilchen allein, ich habe mit meinem Freund eine persönliche
Angelegenheit zu besprechen.«
Die Pflegerin, die noch
weit
über den Kranken hingebeugt war und gerade das Leintuch an der Wand
glättete, wendete nur den Kopf und sagte sehr ruhig, was einen auffallenden
Unterschied zu den vor Wut stockenden und dann wieder überfließenden Reden
des Onkels bildete: »Sie sehen, der Herr ist so krank, er kann keine
Angelegenheiten besprechen.« Sie hatte die Worte des Onkels wahrscheinlich
nur aus Bequemlichkeit wiederholt, immerhin konnte es selbst von einem
Unbeteiligten als spöttisch aufgefasst werden, der Onkel aber fuhr natürlich
wie ein Gestochener auf. »Du Verdammte«, sagte er im ersten Gurgeln der
Aufregung noch ziemlich unverständlich, K. erschrak, obwohl er etwas
Ähnliches erwartet hatte, und lief auf den Onkel zu, mit der bestimmten
Absicht, ihm mit beiden Händen den Mund zu schließen.
Glücklicherweise erhob sich
aber hinter dem Mädchen der Kranke, der Onkel machte ein finsteres Gesicht,
als schlucke er etwas Abscheuliches hinunter, und sagte dann ruhiger: »Wir
haben natürlich auch noch den Verstand nicht verloren; wäre das, was ich
verlange, nicht möglich, würde ich es nicht verlangen. Bitte, gehen Sie
jetzt!« Die Pflegerin stand aufgerichtet am Bett, dem Onkel voll zugewendet,
mit der einen Hand streichelte sie, wie K. zu bemerken glaubte, die Hand des
Advokaten. »Du kannst vor Leni alles sagen«, sagte der Kranke, zweifellos im
Ton [→HL 72] einer dringenden Bitte. »Es betrifft mich nicht«, sagte der Onkel, »es
ist nicht mein Geheimnis.« Und er drehte sich um, als gedenke er in keine
Verhandlungen mehr einzugehen, gebe aber noch eine kleine Bedenkzeit. »Wen
betrifft es denn?« fragte der Advokat mit erlöschender Stimme und legte sich
wieder zurück. »Meinen Neffen«, sagte der Onkel, »ich habe ihn auch
mitgebracht.« Und er stellte vor: »Prokurist Josef K.« »Oh«, sagte der
Kranke viel lebhafter und streckte K. die Hand entgegen, »verzeihen Sie, ich
habe Sie gar nicht bemerkt. Geh, Leni«, sagte er dann zu der Pflegerin, die
sich auch gar nicht mehr wehrte, und reichte ihr die Hand, als gelte es
einen Abschied für lange Zeit. »Du bist also«, sagte er endlich zum Onkel,
der, auch versöhnt, näher getreten war, »nicht gekommen, mir einen
Krankenbesuch zu machen, sondern du kommst in Geschäften.«
Es war, als hätte die
Vorstellung eines Krankenbesuchs den Advokaten bisher gelähmt, so gekräftigt
sah er jetzt aus, blieb ständig auf einem Ellbogen aufgestützt, was ziemlich
anstrengend sein musste, und zog immer wieder an einem Bartstrahn in der
Mitte seines Bartes. »Du siehst schon viel gesünder aus«, sagte der Onkel,
»seit diese Hexe draußen ist.« Er unterbrach sich, flüsterte: »Ich wette,
dass sie horcht!« und er sprang zur Tür. Aber hinter der Tür war niemand,
der Onkel kam zurück, nicht enttäuscht, denn ihr Nichthorchen erschien ihm
als eine noch größere Bosheit, wohl aber verbittert: »Du verkennst sie«,
sagte der Advokat, ohne die Pflegerin weiter in Schutz zu nehmen; vielleicht
wollte er damit ausdrücken, dass sie nicht schutzbedürftig sei. Aber in viel teilnehmenderem Tone fuhr er fort: »Was die Angelegenheit deines Herrn
Neffen betrifft, so würde ich mich allerdings glücklich schätzen, wenn meine
Kraft für diese äußerst schwierige Aufgabe ausreichen könnte; ich fürchte
sehr, dass sie nicht ausreichen wird, jedenfalls will ich nichts unversucht
lassen; wenn ich nicht ausreiche, könnte man ja noch jemanden anderen
beiziehen. Um aufrichtig zu sein, interessiert mich die Sache zu sehr, als
dass ich es über mich bringen könnte, auf jede Beteiligung zu verzichten.
Hält es mein Herz nicht aus, so wird es doch wenigstens hier eine würdige
Gelegenheit finden, gänzlich zu versagen.« K.
glaubte, kein Wort dieser
ganzen Rede zu verstehen, er sah den Onkel an, um dort eine Erklärung zu
finden, aber dieser saß, mit der Kerze in der Hand, auf dem Nachttischchen,
von dem bereits eine Arzneimittelflasche auf den Teppich gerollt war, nickte
zu allem, was der Advokat sagte, war mit allem einverstanden und sah hie und
da auf K. mit der Aufforderung zu gleichem Einverständnis hin. Hatte
vielleicht der Onkel schon früher dem Advokaten von dem Prozess erzählt?
Aber [→HL 73]
das war unmöglich, alles, was vorhergegangen war, sprach dagegen. »Ich
verstehe nicht -«, sagte er deshalb. »Ja, habe vielleicht ich Sie
missverstanden?« fragte der Advokat ebenso erstaunt und verlegen wie K. »Ich
war vielleicht voreilig. Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen? Ich
dachte, es handle sich um Ihren Prozess?« »Natürlich«, sagte der Onkel und
fragte dann K.: »Was willst du denn?« »Ja, aber woher wissen Sie denn etwas
über mich und meinen Prozess?« fragte K. »Ach so«, sagte der Advokat
lächelnd, »Ich bin doch Advokat, ich verkehre in Gerichtskreisen, man
spricht über verschiedene Prozesse, und auffallendere, besonders wenn es den
Neffen eines Freundes betrifft, behält man im Gedächtnis. Das ist doch
nichts Merkwürdiges.« »Was willst du denn?« fragte der Onkel K. nochmals.
»Du bist so unruhig.« »Sie
verkehren in diesen Gerichtskreisen?« fragte K. »Ja«, sagte der Advokat. »Du
fragst wie ein Kind«, sagte der Onkel. »Mit wem sollte ich denn verkehren,
wenn nicht mit Leuten meines Faches?« fügte der Advokat hinzu. Es klang so
unwiderleglich, dass K. gar nicht antwortete. »Sie arbeiten doch bei dem
Gericht im Justizpalast, und nicht bei dem auf dem Dachboden«, hatte er
sagen wollen, konnte sich aber nicht überwinden, es wirklich zu sagen. »Sie
müssen doch bedenken«, fuhr der Advokat fort, in einem Tone, als erkläre er
etwas Selbstverständliches überflüssigerweise und nebenbei, »Sie müssen doch
bedenken, dass ich aus einem solchen Verkehr auch große Vorteile für meine
Klientel ziehe, und zwar in vielfacher Hinsicht, man darf nicht einmal immer
davon reden. Natürlich bin ich jetzt infolge meiner Krankheit ein wenig
behindert, aber ich bekomme trotzdem Besuch von guten Freunden vom Gericht
und erfahre doch einiges. Erfahre vielleicht mehr als manche, die in bester
Gesundheit den ganzen Tag bei Gericht verbringen. So habe ich zum Beispiel
gerade jetzt einen lieben Besuch.« Und er zeigte in eine dunkle Zimmerecke.
»Wo denn?« fragte K. in der ersten Überraschung fast grob. Er sah unsicher
herum; das Licht der kleinen Kerze drang bis zur gegenüberliegenden Wand bei
weitem nicht. Und wirklich begann sich dort in der Ecke etwas zu rühren. Im
Licht der Kerze, die der Onkel jetzt hochhielt, sah man dort, bei einem
kleinen Tischchen, einen älteren Herrn sitzen. Er hatte wohl gar nicht
geatmet, dass er so lange unbemerkt geblieben war. Jetzt stand er
umständlich auf, offenbar unzufrieden damit, dass man auf ihn aufmerksam
gemacht hatte. Es war, als wolle er mit den Händen, die er wie kurze Flügel
bewegte, alle Vorstellungen und Begrüßungen abwehren, als wolle er auf
keinen Fall die anderen durch seine Anwesenheit stören und als bitte er
dringend wieder um die Versetzung ins
[→HL 74] Dunkel und um das Vergessen seiner
Anwesenheit. Das konnte man ihm nun aber nicht mehr zugestehen. »Ihr habt
uns nämlich überrascht«, sagte der Advokat zur Erklärung und winkte dabei
dem Herrn aufmunternd zu, näher zu kommen, was dieser langsam, zögernd
herumblickend und doch mit einer gewissen Würde tat, »der Herr
Kanzleidirektor - ach so, Verzeihung, ich habe nicht vorgestellt - hier mein
Freund Albert K., hier sein Neffe, Prokurist Josef K., und hier der Herr
Kanzleidirektor - der Herr Kanzleidirektor also war so freundlich, mich zu
besuchen. Den Wert eines solchen Besuches kann eigentlich nur der
Eingeweihte würdigen, welcher weiß, wie der Herr Kanzleidirektor mit Arbeit
überhäuft ist. Nun, er kam aber trotzdem, wir unterhielten uns friedlich,
soweit meine Schwäche es erlaubte, wir hatten zwar Leni nicht verboten,
Besuche einzulassen, denn es waren keine zu erwarten, aber unsere Meinung
war doch, dass wir allein bleiben sollten, dann aber kamen deine Fausthiebe,
Albert, der Herr Kanzleidirektor rückte mit Sessel und Tisch in den Winkel,
nun aber zeigt sich, dass wir möglicherweise, das heißt, wenn der Wunsch
danach besteht, eine gemeinsame Angelegenheit zu besprechen haben und sehr
gut wieder zusammenrücken können. - Herr Kanzleidirektor«, sagte er mit
Kopfneigen und unterwürfigem Lächeln und zeigte auf einen Lehnstuhl in der
Nähe des Bettes. »Ich kann leider nur noch ein paar Minuten bleiben«, sagte
der Kanzleidirektor freundlich, setzte sich breit in den Lehnstuhl und sah
auf die Uhr, »die Geschäfte rufen mich.
Jedenfalls will ich nicht die
Gelegenheit vorübergehen lassen, einen Freund meines Freundes kennen zu
lernen.« Er neigte den Kopf leicht gegen den Onkel, der von der neuen
Bekanntschaft sehr befriedigt schien, aber infolge seiner Natur Gefühle der
Ergebenheit nicht ausdrücken konnte und die Worte des Kanzleidirektors mit
verlegenem, aber lautem Lachen begleitete. Ein hässlicher Anblick! K. konnte
ruhig alles beobachten, denn um ihn kümmerte sich niemand, der
Kanzleidirektor nahm, wie es seine Gewohnheit schien, da er nun schon einmal
hervorgezogen war, die Herrschaft über das Gespräch an sich, der Advokat,
dessen erste Schwäche vielleicht nur dazu hatte dienen sollen, den neuen
Besuch zu vertreiben, hörte aufmerksam, die Hand am Ohre zu, der Onkel als
Kerzenträger - er balancierte die Kerze auf seinem Schenkel, der Advokat sah
öfter besorgt hin - war bald frei von Verlegenheit und nur noch entzückt,
sowohl von der Art der Rede des Kanzleidirektors als auch von den sanften,
wellenförmigen Handbewegungen, mit denen er sie begleitete. K., der am
Bettpfosten lehnte, wurde vom Kanzleidirektor vielleicht sogar mit Absicht
vollständig vernachlässigt und diente den alten
[→HL 75] Herren nur als Zuhörer.
Übrigens wusste er kaum, wovon die Rede war und dachte bald an die Pflegerin
und an die schlechte Behandlung, die sie vom Onkel erfahren hatte, bald
daran, ob er den Kanzleidirektor nicht schon einmal gesehen hatte,
vielleicht sogar in der Versammlung bei seiner ersten Untersuchung. Wenn er
sich auch vielleicht täuschte, so hätte sich doch der Kanzleidirektor den
Versammlungsteilnehmern in der ersten Reihe, den alten Herren mit den
schütteren Bärten, vorzüglich eingefügt.
Da ließ ein
Lärm aus dem
Vorzimmer, wie von zerbrechendem Porzellan, alle aufhorchen. »Ich will
nachsehen, was geschehen ist«, sagte K. und ging langsam hinaus, als gebe er
den anderen noch Gelegenheit, ihn zurückzuhalten. Kaum war er ins Vorzimmer
getreten und wollte sich im Dunkel zurechtfinden, als sich auf die Hand, mit
der er die Tür noch festhielt,
eine kleine Hand legte, viel kleiner als K.s
Hand, und die Tür leise schloss. Es war die Pflegerin, die hier gewartet
hatte. »Es ist nichts geschehen«, flüsterte sie, »ich habe nur einen Teller
gegen die Mauer geworfen, um Sie herauszuholen.« In seiner Befangenheit
sagte K.: »Ich habe auch an Sie gedacht.«
»Desto besser«, sagte die
Pflegerin, »kommen Sie.« Nach ein paar Schritten kamen sie zu einer Tür aus
mattem Glas, welche die Pflegerin vor K. öffnete. »Treten Sie doch ein«,
sagte sie. Es war jedenfalls das Arbeitszimmer des Advokaten; soweit man im
Mondlicht sehen konnte, das jetzt nur einen kleinen, viereckigen Teil des
Fußbodens an jedem der drei großen Fenster erhellte, war es mit schweren,
alten Möbelstücken ausgestattet. »Hierher«, sagte die Pflegerin und zeigte
auf eine dunkle Truhe mit holzgeschnitzter Lehne. Noch als er sich gesetzt
hatte, sah sich K. im Zimmer um, es war ein hohes, großes Zimmer, die
Kundschaft des Armenadvokaten musste sich hier verloren vorkommen. K.
glaubte, die kleinen Schritte zu sehen, mit denen die Besucher zu dem
gewaltigen Schreibtisch vorrückten. Dann aber vergaß er dies und
hatte nur
noch Augen für die Pflegerin, die ganz nahe neben ihm saß und ihn fast an
die Seitenlehne drückte. »Ich dachte«, sagte sie, »Sie würden von selbst zu
mir herauskommen, ohne dass ich Sie erst rufen müsste. Es war doch
merkwürdig.
Zuerst sahen Sie mich gleich beim Eintritt ununterbrochen an und
dann ließen Sie mich warten. Nennen Sie mich übrigens Leni«, fügte sie noch
rasch und unvermittelt zu, als solle kein Augenblick dieser Aussprache
versäumt werden. »Gern«, sagte K., »Was aber die Merkwürdigkeit betrifft,
Leni, so ist sie leicht zu erklären. Erstens musste ich doch das
Geschwätz
der alten Herren anhören und konnte nicht grundlos weglaufen, zweitens aber
bin ich nicht frech, sondern eher schüchtern, und auch Sie, Leni, sahen
wahr-[→HL 76]haftig nicht so aus, als ob Sie in einem Sprung zu gewinnen wären.« »Das
ist es nicht«, sagte Leni, legte den Arm über die Lehne und sah K. an, »aber
ich gefiel Ihnen nicht und gefalle Ihnen auch wahrscheinlich jetzt nicht.«
»Gefallen wäre ja nicht viel«, sagte K. ausweichend. »Oh!« sagte sie
lächelnd und gewann durch K.s Bemerkung und diesen kleinen Ausruf eine
gewisse Überlegenheit. Deshalb schwieg K. ein Weilchen. Da er sich an das
Dunkel im Zimmer schon gewöhnt hatte, konnte er verschiedene Einzelheiten
der Einrichtung unterscheiden.
Besonders fiel ihm ein großes Bild auf,
das
rechts von der Tür hing, er beugte sich vor, um es besser zu sehen. Es
stellte einen Mann im Richtertalar dar; er saß auf einem hohen Thronsessel,
dessen Vergoldung vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war,
dass dieser Richter nicht in Ruhe und Würde dort saß, sondern den linken Arm
fest an Rücken- und Seitenlehne drückte, den rechten Arm aber völlig frei
hatte und nur mit der Hand die Seitenlehne umfasste, als wolle er im
nächsten Augenblick mit einer heftigen und vielleicht empörten Wendung
aufspringen, um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu
verkünden. Der Angeklagte war wohl zu Füßen der Treppe zu denken, deren
oberste, mit einem gelben Teppich bedeckte Stufen noch auf dem Bilde zu
sehen waren.
»Vielleicht ist das mein
Richter«, sagte K. und zeigte mit einem Finger auf das Bild. »Ich kenne
ihn«, sagte Leni und sah auch zum Bilde auf, »er kommt öfters hierher. Das
Bild stammt aus seiner Jugend, er kann aber niemals dem Bilde auch nur
ähnlich gewesen sein, denn er ist fast winzig klein. Trotzdem hat er sich
auf dem Bild so in die Länge ziehen lassen, denn er ist unsinnig eitel, wie
alle hier. Aber auch ich bin eitel und sehr unzufrieden damit, dass ich
Ihnen gar nicht gefalle.« Auf die letzte Bemerkung antwortete K. nur damit,
dass er
Leni umfasste und an sich zog, sie lehnte still den Kopf an seine
Schulter. Zu dem Übrigen aber sagte er: »Was für einen Rang hat er?« »Er ist
Untersuchungsrichter«, sagte sie,
ergriff K.s Hand, mit der er sie umfasst
hielt, und spielte mit seinen Fingern. »Wieder nur Untersuchungsrichter«,
sagte K. enttäuscht, »die hohen Beamten verstecken sich. Aber er sitzt doch
auf einem Thronsessel.« »Das ist alles Erfindung«, sagte Leni, das Gesicht
über K.s Hand gebeugt, »in Wirklichkeit sitzt er auf einem Küchensessel, auf
dem eine alte Pferdedecke zusammengelegt ist.
Aber müssen Sie denn immerfort
an Ihren Prozess denken?« fügte sie langsam hinzu. »Nein, durchaus nicht«,
sagte K., »ich denke wahrscheinlich sogar zu wenig an ihn.« »Das ist nicht
der Fehler, den Sie machen«, sagte Leni, »Sie sind zu unnachgiebig, so habe
ich es gehört.« »Wer hat das ge-[→HL
77]sagt?« fragte K., erfühlte ihren Körper an
seiner Brust und
sah auf ihr reiches, dunkles, fest gedrehtes Harr hinab.
»Ich würde zuviel verraten, wenn ich das sagte«, antwortete Leni. »Fragen
Sie, bitte, nicht nach Namen, stellen Sie aber Ihren Fehler ab, seien Sie
nicht mehr so unnachgiebig, gegen dieses Gericht kann man sich ja nicht
wehren, man muss das Geständnis machen.
Machen Sie doch bei nächster
Gelegenheit das Geständnis. Erst dann ist die
Möglichkeit zu entschlüpfen
gegeben, erst dann. Jedoch selbst das ist ohne fremde Hilfe nicht möglich,
wegen dieser Hilfe aber müssen Sie sich nicht ängstigen,
die will ich Ihnen
selbst leisten.« »Sie verstehen viel von diesem Gericht und von den
Betrügereien, die hier nötig sind«, sagte K. und
hob sie, da sie sich allzu
stark an ihn drängte, auf seinen Schoß. »So ist es gut«, sagte sie und
richtete sich auf seinem Schoß ein, indem sie den Rock glättete und die
Bluse zurechtzog. Dann hing sie sich mit beiden Händen an seinen Hals,
lehnte sich zurück und sah ihn lange an. »Und wenn ich das Geständnis nicht
mache, dann können Sir mir nicht helfen?« fragte K. versuchsweise. Ich werbe
Helferinnen, dachte er fast verwundert, zuerst Fräulein Bürstner, dann die
Frau des Gerichtsdieners und endlich diese kleine Pflegerin, die
ein
unbegreifliches Bedürfnis nach mir zu haben scheint.
Wie sie auf meinem
Schoß sitzt, als sei es ihr einzig richtiger Platz! »Nein«, antwortete Leni
und schüttelte langsam den Kopf, »dann kann ich Ihnen nicht helfen. Aber
Sie
wollen ja meine Hilfe gar nicht, es liegt Ihnen nichts daran, Sie sind
eigensinnig und lassen sich nicht überzeugen.« »Haben Sie eine Geliebte?«
fragte sie nach einem Weilchen. »Nein«, sagte K. »O doch«, sagte sie. »Ja
wirklich«, sagte K., »denken Sie nur,
ich habe sie verleugnet und trage doch
sogar ihre Photographie bei mir.« Auf ihre Bitten zeigte er ihr eine
Photographie Elsas,
zusammengekrümmt auf seinem Schoß, studierte sie das
Bild. Es war eine Momentphotographie,
Elsa war nach einem Wirbeltanz
aufgenommen, wie sie ihn in dem Weinlokal gern tanzte, ihr Rock flog noch im
Faltenwurf der Drehung um sie her, die Hände hatte sie auf die festen Hüften
gelegt und sah mit straffem Hals lachend zur Seite; wem ihr Lachen galt,
konnte man aus dem Bild nicht erkennen. »Sie ist stark geschnürt«, sagte
Leni und zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer Meinung nach zu sehen war.
»Sie gefällt mir nicht, sie ist unbeholfen und roh. Vielleicht ist sie aber
Ihnen gegenüber sanft und freundlich, darauf könnte man nach dem Bilde
schließen. So große, starke Mädchen wissen oft nichts anderes, als sanft und
freundlich zu sein. Würde sie sich aber für Sie opfern können?« »Nein«,
sagte K., »sie ist weder
sanft und freundlich,
noch würde sie sich für mich
opfern können. Auch habe ich
[→HL 78]
bisher weder das eine noch das andere von ihr
verlangt. Ja, ich habe noch nicht einmal das Bild so genau angesehen wie
Sie.« »Es liegt Ihnen also gar nicht viel an ihr«, sagte Leni, »sie ist also
gar nicht Ihre Geliebte.« »Doch«, sagte K. »Ich nehme mein Wort nicht
zurück.« »Mag sie also jetzt Ihre Geliebte sein«, sagte Leni, »Sie würden
sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie sie verlören oder für jemand
anderen, zum Beispiel für mich, eintauschten.« »Gewiss«, sagte K. lächelnd,
»das wäre denkbar, aber sie hat
einen großen Vorteil Ihnen gegenüber, sie
weiß nichts von meinem Prozess, und selbst wenn sie etwas davon wüsste,
würde sie nicht daran denken. Sie würde mich nicht zur Nachgiebigkeit zu
überreden suchen.« »Das ist kein Vorteil«, sagte Leni. »Wenn sie keine
sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht den Mut. Hat sie irgendeinen
körperlichen Fehler?« »Einen körperlichen Fehler?« fragte K. »Ja«, sagte
Leni, »ich habe nämlich einen solchen kleinen Fehler, sehen Sie.« Sie
spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen
denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger
reichte. K. merkte im Dunkel nicht gleich, was sie ihm zeigen wollte, sie
führte deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste. »Was für ein
Naturspiel«, sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt hatte,
hinzu: »Was für eine hübsche Kralle!« Mit einer Art Stolz sah Leni zu, wie
K. staunend immer wieder ihre zwei Finger auseinander zog und zusammenlegte,
bis er sie schließlich flüchtig küsste und losließ. »Oh!« rief sie aber
sofort, »Sie haben mich geküsst!«
Eilig, mit offenem Mund erkletterte sie
mit den Knien seinen Schoß.
K. sah fast bestürzt zu ihr auf,
jetzt, da sie
ihm so nahe war, ging
ein bitterer, aufreizender Geruch wie von Pfeffer von
ihr aus, sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn hinweg und biss
und küsste seinen Hals, biss selbst in seine Haare. »Sie haben mich
eingetauscht!« rief sie von Zeit zu Zeit, »sehen Sie, nun haben Sie mich
eingetauscht!« Da glitt ihr Knie aus, mit einem kleinen Schrei fiel sie fast
auf den Teppich, K. umfasste sie, um sie noch zu halten, und
wurde zu ihr
hinabgezogen. »Jetzt gehörst du mir«, sagte sie.
»Hier hast du den
Hausschlüssel, komm, wann du willst«, waren ihre letzten Worte, und ein
zielloser Kuss traf ihn noch im Weggehen auf den Rücken. Als er aus dem
Haustor trat, fiel ein leichter Regen, er wollte in die Mitte der Straße
gehen, um vielleicht Leni noch beim Fenster erblicken zu können, da stürzte
aus einem Automobil, das vor dem Hause wartete und das K. in seiner
Zerstreutheit gar nicht bemerkt hatte, der Onkel, fasste ihn bei den Armen
und stieß ihn gegen das Haustor, als wolle er ihn dort festnageln. »Junge«,
rief er, »wie konntest du nur das tun! Du hast
[→HL 79] deiner Sache, die auf gutem
Wege war, schrecklich geschadet. Verkriechst dich mit einem
kleinen,
schmutzigen Ding, das überdies offensichtlich die
Geliebte des Advokaten
ist, und bleibst stundenlang weg.
Suchst nicht einmal einen Vorwand,
verheimlichst nichts, nein, bist ganz offen, läufst zu ihr und bleibst bei
ihr. Und unterdessen sitzen wir beisammen, der
Onkel, der sich für dich
abmüht, der Advokat, der für dich gewonnen werden soll, der Kanzleidirektor
vor allem, dieser große Herr, der deine Sache in ihrem jetzigen Stadium
geradezu beherrscht. Wir wollen beraten, wie dir zu helfen wäre, ich muss
den Advokaten vorsichtig behandeln, dieser wieder den Kanzleidirektor, und
du hättest doch allen Grund, mich wenigstens zu unterstützen. Statt dessen
bleibst du fort. Schließlich lässt es sich nicht verheimlichen, nun, es sind
höfliche, gewandte Männer, sie sprechen nicht davon, sie schonen mich,
schließlich können aber auch sie sich nicht mehr überwinden, und da sie von
der Sache nicht reden können, verstummen sie. Wir sind minutenlang
schweigend dagesessen und haben gehorcht, ob du nicht doch endlich kämest.
Alles vergebens. Endlich steht der Kanzleidirektor, der viel länger
geblieben ist, als er ursprünglich wollte, auf, verabschiedet sich, bedauert
mich sichtlich, ohne mir helfen zu können, wartet in unbegreiflicher
Liebenswürdigkeit noch eine Zeitlang in der Tür, dann geht er. Ich war
natürlich glücklich, dass er weg war, mir war schon die Luft zum Atmen
ausgegangen. Auf den kranken Advokaten hat alles noch stärker eingewirkt, er
konnte, der gute Mann, gar nicht sprechen, als ich mich von ihm
verabschiedete. Du hast wahrscheinlich zu seinem vollständigen
Zusammenbrechen beigetragen und beschleunigst so den Tod eines Mannes, auf
den du angewiesen bist. Und mich, deinen Onkel, lässt du hier im Regen -
fühle nur, ich bin ganz durchnässt - stundenlang warten und mich in Sorgen
abquälen.«
ADVOKAT - FABRIKANT -
MALER
An einem Wintervormittag -
draußen fiel Schnee im trüben Licht - saß K., trotz der frühen Stunde schon
äußerst müde,
in seinem Bureau. Um sich wenigstens vor den unteren Beamten zu
schützen, hatte er dem Diener den Auftrag gegeben, niemanden von ihnen
einzulassen, da er mit einer größeren Arbeit beschäftigt sei. Aber statt zu
arbeiten, drehte er sich in seinem Sessel, verschob
[→HL 80] langsam einige
Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen, den ganzen Arm
ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb
mit gesenktem Kopf
unbeweglich sitzen.
Der Gedanke an den Prozess verließ ihn nicht mehr. Öfters schon hatte er
überlegt, ob es nicht gut wäre, eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten und
bei Gericht einzureichen. Er wollte darin
eine kurze Lebensbeschreibung
vorlegen und bei jedem irgendwie wichtigeren Ereignis erklären, aus welchen
Gründen er so gehandelt hatte, ob diese Handlungsweise nach seinem
gegenwärtigen Urteil zu verwerfen oder zu billigen war und welche Gründe er
für dieses oder jenes anführen konnte. Die Vorteile einer solchen
Verteidigungsschrift gegenüber der bloßen Verteidigung durch den übrigens
auch sonst nicht einwandfreien Advokaten waren zweifellos. K. wusste ja gar
nicht, was der Advokat unternahm; viel war es jedenfalls nicht,
schon einen
Monat lang hatte er ihn nicht mehr zu sich berufen, und auch bei keiner der
früheren Besprechungen hatte K. den Eindruck gehabt, dass dieser Mann viel
für ihn erreichen könne. Vor allem hatte er ihn fast gar nicht ausgefragt.
Und hier war doch so viel zu fragen. Fragen war die Hauptsache. K. hatte das
Gefühl, als ob er selbst alle hier nötigen Fragen stellen könnte. Der
Advokat dagegen, statt zu fragen, erzählte selbst oder saß ihm stumm
gegenüber, beugte sich, wahrscheinlich wegen seines schwachen Gehörs, ein
wenig über den Schreibtisch vor, zog an einem Bartstrahn innerhalb seines
Bartes und blickte auf den Teppich nieder,
vielleicht gerade auf die Stelle,
wo K. mit Leni gelegen war. Hier und da gab er K. einige leere Ermahnungen,
wie man sie Kindern gibt. Ebenso nutzlose wie langweilige Reden, die K. in
der Schlussabrechnung mit keinem Heller zu bezahlen gedachte. Nachdem der
Advokat ihn genügend gedemütigt zu haben glaubte, fing er gewöhnlich an, ihn
wieder ein wenig aufzumuntern. Er habe schon, erzählte er dann, viele
ähnliche Prozesse ganz oder teilweise gewonnen. Prozesse, die, wenn auch in
Wirklichkeit vielleicht nicht so schwierig wie dieser, äußerlich noch
hoffnungsloser waren. Ein Verzeichnis dieser Prozesse habe er hier in der
Schublade - hierbei klopfte er an irgendeine Lade des Tisches -, die
Schriften könne er leider nicht zeigen, da es sich um Amtsgeheimnisse
handle. Trotzdem komme jetzt natürlich die große Erfahrung, die er durch
alle diese Prozesse erworben habe, K. zugute. Er habe natürlich sofort zu
arbeiten begonnen, und die erste Eingabe sei schon fast fertig gestellt. Sie
sei sehr wichtig, weil der erste Eindruck, den die Verteidigung mache, oft
die ganze Richtung des Verfahrens bestimme. Leider, darauf müsse er K.
allerdings aufmerksam machen, geschehe es
[→HL 81] manchmal, dass die ersten Eingaben
bei Gericht gar nicht gelesen würden. Man lege sie einfach zu den Akten und
weise darauf hin, dass vorläufig die Einvernahme und Beobachtung des
Angeklagten wichtiger sei als alles Geschriebene. Man fügt, wenn der Petent
dringlich wird, hinzu, dass man vor der Entscheidung, sobald alles Material
gesammelt ist, im Zusammenhang natürlich, alle Akten, also auch diese erste
Eingabe, überprüfen wird. Leider sei aber auch dies meistens nicht richtig,
die erste Eingabe werde gewöhnlich verlegt oder gehe gänzlich verloren, und
selbst wenn sie bis zum Ende erhalten bleibt, werde sie, wie der Advokat
allerdings nur gerüchtweise erfahren hat, kaum gelesen. Das alles sei
bedauerlich, aber nicht ganz ohne Berechtigung. K. möge doch nicht außer
acht lassen, dass das Verfahren nicht öffentlich sei, es kann, wenn das
Gericht es für nötig hält, öffentlich werden, das Gesetz aber schreibt
Öffentlichkeit nicht vor. Infolgedessen sind auch die Schriften des
Gerichts, vor allem die Anklageschrift, dem Angeklagten und seiner
Verteidigung unzugänglich, man weiß daher im allgemeinen nicht oder
wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste Eingabe zu richten hat, sie
kann daher eigentlich nur zufälligerweise etwas enthalten, was für die Sache
von Bedeutung ist. Wirklich zutreffende und beweisführende Eingaben kann man
erst später ausarbeiten, wenn im Laufe der Einvernahmen des Angeklagten die
einzelnen Anklagepunkte und ihre Begründung deutlicher hervortreten oder
erraten werden können. Unter diesen Verhältnissen ist natürlich die
Verteidigung in einer sehr ungünstigen und schwierigen Lage. Aber auch das
ist beabsichtigt. Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz nicht
eigentlich gestattet, sondern nur geduldet, und selbst darüber, ob aus der
betreffenden Gesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen werden soll,
besteht Streit. Es gibt daher streng genommen gar keine vom Gericht
anerkannten Advokaten, alle, die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten,
sind im Grunde nur Winkeladvokaten. Das wirkt natürlich auf den ganzen Stand
sehr entwürdigend ein, und wenn K. nächstens einmal in die Gerichtskanzleien
gehen werde, könne er sich ja, um auch das einmal gesehen zu haben, das
Advokatenzimmer ansehen. Er werde vor der Gesellschaft, die dort beisammen
sei, vermutlich erschrecken. Schon die ihnen zugewiesene enge, niedrige
Kammer zeige die Verachtung, die das Gericht für diese Leute hat. Licht
bekommt die Kammer nur durch eine kleine Luke, die so hochgelegen ist, dass
man, wenn man hinausschauen will, wo einem übrigens der Rauch eines knapp
davor gelegenen Kamins in die Nase fährt und das Gesicht schwärzt, erst
einen Kollegen suchen muss, der ihn auf den
[→HL 82] Rücken nimmt. Im Fußboden
dieser Kammer - um nur noch ein Beispiel für diese Zustände anzuführen - ist
nun schon seit mehr als einem Jahr ein Loch, nicht so groß, dass ein Mensch
durchfallen könnte, aber groß genug, dass man mit einem Bein ganz einsinkt.
Das Advokatenzimmer liegt auf dem zweiten Dachboden; sinkt also einer ein,
so hängt das Bein in den ersten Dachboden hinunter, und zwar gerade in den
Gang, wo die Parteien warten. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man in
Advokatenkreisen solche Verhältnisse schändlich nennt. Beschwerden an die
Verwaltung haben nicht den geringsten Erfolg, wohl aber ist es den Advokaten
auf das strengste verboten, irgend etwas in dem Zimmer auf eigene Kosten
ändern zu lassen. Aber auch diese Behandlung der Advokaten hat ihre
Begründung. Man will die Verteidigung möglichst ausschalten, alles soll auf
den Angeklagten selbst gestellt sein. Kein schlechter Standpunkt im Grunde,
nichts wäre aber verfehlter, als daraus zu folgern, dass bei diesem Gericht
die Advokaten für den Angeklagten unnötig sind. Im Gegenteil, bei keinem
anderen Gericht sind sie so notwendig wie bei diesem. Das Verfahren ist
nämlich im allgemeinen nicht nur vor der Öffentlichkeit geheim, sondern auch
vor dem Angeklagten. Natürlich nur soweit dies möglich ist, es ist aber in
sehr weitem Ausmaß möglich. Auch der Angeklagte hat nämlich keinen Einblick
in die Gerichtsschriften, und aus den Verhören auf die ihnen zugrunde
liegenden Schriften zu schließen, ist sehr schwierig, insbesondere aber für
den Angeklagten, der doch befangen ist und alle möglichen Sorgen hat, die
ihn zerstreuen. Hier greift nun die Verteidigung ein. Bei den Verhören
dürfen im allgemeinen Verteidiger nicht anwesend sein, sie müssen daher nach
den Verhören, und zwar möglichst noch an der Tür des Untersuchungszimmers,
den Angeklagten über das Verhör ausforschen und diesen oft schon sehr
verwischten Berichten das für die Verteidigung Taugliche entnehmen. Aber das
Wichtigste ist dies nicht, denn viel kann man auf diese Weise nicht
erfahren, wenn natürlich auch hier wie überall ein tüchtiger Mann mehr
erfährt als andere. Das Wichtigste bleiben trotzdem die persönlichen
Beziehungen des Advokaten, in ihnen liegt der Hauptwert der Verteidigung.
Nun habe ja wohl K. schon seinen eigenen Erlebnissen entnommen, dass die allerunterste Organisation des Gerichtes nicht ganz vollkommen ist,
pflichtvergessene und bestechliche Angestellte aufweist, wodurch
gewissermaßen die strenge Abschließung des Gerichtes Lücken bekommt. Hier
nun drängt sich die Mehrzahl der Advokaten ein, hier wird bestochen und
ausgehorcht, ja es kamen, wenigstens in früherer Zeit, sogar Fälle von
Aktendiebstählen vor. Es
[→HL
83] ist nicht zu leugnen, dass auf diese Weise für den
Augenblick einige sogar überraschend günstige Resultate für den Angeklagten
sich erzielen lassen, damit stolzieren auch diese kleinen Advokaten herum
und locken neue Kundschaft an, aber für den weiteren Fortgang des Prozesses
bedeutet es entweder nichts oder nichts Gutes. Wirklichen Wert aber haben
nur ehrliche persönliche Beziehungen, und zwar mit höheren Beamten, womit
natürlich nur höhere Beamten der unteren Grade gemeint sind. Nur dadurch
kann der Fortgang des Prozesses, wenn auch zunächst nur unmerklich, später
aber immer deutlicher beeinflusst werden. Das können natürlich nur wenige
Advokaten, und hier sei die Wahl K.s sehr günstig gewesen. Nur noch
vielleicht ein oder zwei Advokaten könnten sich mit ähnlichen Beziehungen
ausweisen wie Dr. Huld. Diese kümmern sich allerdings um die Gesellschaft im
Advokatenzimmer nicht und haben auch nichts mit ihr zu tun. Um so enger sei
aber die Verbindung mit den Gerichtsbeamten. Es sei nicht einmal immer
nötig, dass Dr. Huld zu Gericht gehe, in den Vorzimmern der
Untersuchungsrichter auf ihr zufälliges Erscheinen warte und je nach ihrer
Laune einen meist nur scheinbaren Erfolg erziele oder auch nicht einmal
diesen. Nein, K. habe es ja selbst gesehen, die Beamten, und darunter recht
hohe, kommen selbst, geben bereitwillig Auskunft, offene oder wenigstens
leicht deutbare, besprechen den nächsten Fortgang der Prozesse, ja sie
lassen sich sogar in einzelnen Fällen überzeugen und nehmen die fremde
Ansicht gern an. Allerdings dürfe man ihnen gerade in dieser letzten
Hinsicht nicht allzu sehr vertrauen, so bestimmt sie ihre neue, für die
Verteidigung günstige Absicht auch aussprechen, gehen sie doch vielleicht
geradewegs in ihre Kanzlei und geben für den nächsten Tag einen
Gerichtsbeschluss, der gerade das Entgegengesetzte enthält und vielleicht
für den Angeklagten noch viel strenger ist als ihre erste Absicht, von der
sie gänzlich abgekommen zu sein behaupteten. Dagegen könne man sich
natürlich nicht wehren, denn das, was sie zwischen vier Augen gesagt haben,
ist eben auch nur zwischen vier Augen gesagt und lasse keine öffentliche
Folgerung zu, selbst wenn die Verteidigung nicht auch sonst bestrebt sein
müsste, sich die Gunst der Herren zu erhalten. Andererseits sei es
allerdings auch richtig, dass die Herren nicht etwa nur aus Menschenliebe
oder aus freundschaftlichen Gefühlen sich mit der Verteidigung, natürlich
nur mit einer sachverständigen Verteidigung, in Verbindung setzen, sie sind
vielmehr in gewisser Hinsicht auch auf sie angewiesen. Hier mache sich eben
der Nachteil einer Gerichtsorganisation geltend, die selbst in ihren
Anfängen das geheime Gericht festsetzt. Den Beamten fehlt der Zusam-[→HL
84]menhang
mit der Bevölkerung, für die gewöhnlichen, mittleren Prozesse sind sie gut
ausgerüstet, ein solcher Prozess rollt fast von selbst auf seiner Bahn ab
und braucht nur hier und da einen Anstoß, gegenüber den ganz einfachen
Fällen aber, wie auch gegenüber den besonders schwierigen sind sie oft
ratlos, sie haben, weil sie fortwährend, Tag und Nacht, in ihr Gesetz
eingezwängt sind, nicht den richtigen Sinn für menschliche Beziehungen, und
das entbehren sie in solchen Fällen schwer. Dann kommen sie zum Advokaten um
Rat, und hinter ihnen trägt ein Diener die Akten, die sonst so geheim sind.
An diesem Fenster hätte man manche Herren, von denen man es am wenigsten
erwarten würde, antreffen können, wie sie geradezu trostlos auf die Gasse
hinaussahen, während der Advokat an seinem Tisch die Akten studierte, um
ihnen einen guten Rat geben zu können. Übrigens könne man gerade bei solchen
Gelegenheiten sehen, wie ungemein ernst die Herren ihren Beruf nehmen und
wie sie über Hindernisse, die sie ihrer Natur nach nicht bewältigen können,
in große Verzweiflung geraten. Ihre Stellung sei auch sonst nicht leicht,
man dürfe ihnen nicht Unrecht tun und ihre Stellung nicht für leicht
ansehen. Die Rangordnung und Steigerung des Gerichtes sei unendlich und
selbst für den Eingeweihten nicht absehbar. Das Verfahren vor den
Gerichtshöfen sei aber im allgemeinen auch für die unteren Beamten geheim,
sie können daher die Angelegenheiten, die sie bearbeiten, in ihrem ferneren
Weitergang kaum jemals vollständig verfolgen, die Gerichtssache erscheint
also in ihrem Gesichtskreis, ohne dass sie oft wissen, woher sie kommt, und
sie geht weiter, ohne dass sie erfahren, wohin. Die Belehrung also, die man
aus dem Studium der einzelnen Prozess-Stadien, der schließlichen
Entscheidung und ihrer Gründe schöpfen kann, entgeht diesen Beamten.
Sie dürfen sich nur mit jenem
Teil des Prozesses befassen, der vom Gesetz für sie abgegrenzt ist, und
wissen von dem Weiteren, also von den Ergebnissen ihrer eigenen Arbeit,
meist weniger als die Verteidigung, die doch in der Regel fast bis zum
Schluss des Prozesses mit dem Angeklagten in Verbindung bleibt. Auch in
dieser Richtung also können sie von der Verteidigung manches Wertvolle
erfahren. Wundere sich K. noch, wenn er alles dieses im Auge behalte, über
die Gereiztheit der Beamten, die sich manchmal den Parteien gegenüber in -
jeder mache diese Erfahrung - beleidigender Weise äußert. Alle Beamten seien
gereizt, selbst wenn sie ruhig scheinen. Natürlich haben die kleinen
Advokaten besonders viel darunter zu leiden. Man erzählt zum Beispiel
folgende Geschichte, die sehr den Anschein der Wahrheit hat. Ein alter
Beamter, ein guter, stiller Herr, hatte eine schwierige Gerichtssache,
welche besonders [→HL 85]
durch die Eingaben des Advokaten verwickelt worden war,
einen Tag und eine Nacht ununterbrochen studiert - diese Beamten sind
tatsächlich fleißig, wie niemand sonst. -
Gegen Morgen nun, nach
vierundzwanzigstündiger, wahrscheinlich nicht sehr ergiebiger Arbeit, ging
er zur Eingangstür, stellte sich dort in Hinterhalt und warf jeden
Advokaten, der eintreten wollte, die Treppe hinunter. Die Advokaten
sammelten sich unten auf dem Treppenabsatz und berieten, was sie tun
sollten; einerseits haben sie keinen eigentlichen Anspruch darauf,
eingelassen zu werden, können daher rechtlich gegen den Beamten kaum etwas
unternehmen und müssen sich, wie schon erwähnt, auch hüten, die
Beamtenschaft gegen sich aufzubringen. Andererseits aber ist jeder nicht bei
Gericht verbrachte Tag für sie verloren, und es lag ihnen also viel daran
einzudringen. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sie den alten Herrn
ermüden wollten. Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt, der die Treppe
hinauflief und sich dann unter möglichstem, allerdings passivem Widerstand
hinunterwerfen ließ, wo er dann von den Kollegen aufgefangen wurde. Das
dauerte etwa eine Stunde, dann wurde der alte Herr, er war ja auch von der
Nachtarbeit schon erschöpft, wirklich müde und ging in seine Kanzlei zurück.
Die unten wollten es erst gar nicht glauben und schickten zuerst einen aus,
der hinter der Tür nachsehen sollte, ob dort wirklich leer war. Dann erst
zogen sie ein und wagten wahrscheinlich nicht einmal zu murren. Denn den
Advokaten - und selbst der Kleinste kann doch die Verhältnisse wenigstens
zum Teil übersehen - liegt es vollständig ferne, bei Gericht irgendwelche
Verbesserungen einführen oder durchsetzen zu wollen, während - und dies ist
sehr bezeichnend - fast jeder Angeklagte, selbst ganz einfältige Leute,
gleich beim allerersten Eintritt in den Prozess an Verbesserungsvorschläge
zu denken anfangen und damit oft Zeit und Kraft verschwenden, die anders
viel besser verwendet werden könnten. Das einzig Richtige sei es, sich mit
den vorhandenen Verhältnissen abzufinden. Selbst wenn es möglich wäre,
Einzelheiten zu verbessern - es ist aber ein unsinniger Aberglaube -, hätte
man bestenfalls für künftige Fälle etwas erreicht, sich selbst aber
unermesslich dadurch geschadet, dass man die besondere Aufmerksamkeit der
immer rachsüchtigen Beamtenschaft erregt hat. Nur keine Aufmerksamkeit
erregen! Sich ruhig verhalten, selbst wenn es einem noch so sehr gegen den
Sinn geht! Einzusehen versuchen, dass dieser große Gerichtsorganismus
gewissermaßen ewig in der Schwebe bleibt und dass man zwar, wenn man auf
seinem Platz selbständig etwas ändert, den Boden unter den Füßen sich
wegnimmt und selbst abstürzen kann, während
[→HL 86] der große Organismus sich selbst
für die kleine Störung leicht an einer anderen Stelle - alles ist doch in
Verbindung - Ersatz schafft und unverändert bleibt, wenn er nicht etwa, was
sogar wahrscheinlich ist, noch geschlossener, noch aufmerksamer, noch
strenger, noch böser wird. Man überlasse doch die Arbeit dem Advokaten,
statt sie zu stören. Vorwürfe nützen ja nicht viel, besonders wenn man ihre
Ursachen in ihrer ganzen Bedeutung nicht begreiflich machen kann, aber
gesagt müsse es doch werden, wie viel K. seiner Sache durch das Verhalten
gegenüber dem Kanzleidirektor geschadet habe. Dieser einflussreiche Mann sei
aus der Liste jener, bei denen man für K. etwas unternehmen könne, schon
fast zu streichen. Selbst flüchtige Erwähnungen des Prozesses überhöre er
mit deutlicher Absicht. In manchem seien ja die Beamten wie Kinder. Oft
können sie durch Harmlosigkeiten, unter die allerdings K.s Verhalten leider
nicht gehöre, derartig verletzt werden, dass sie selbst mit guten Freunden
zu reden aufhören, sich von ihnen abwenden, wenn sie ihnen begegnen, und
ihnen in allem möglichen entgegenarbeiten.
Dann aber einmal,
überraschenderweise ohne besonderen Grund, lassen sie sich durch einen
kleinen Scherz, den man nur deshalb wagt, weil alles aussichtslos scheint,
zum Lachen bringen und sind versöhnt. Es sei eben gleichzeitig schwer und
leicht, sich mit ihnen zu verhalten, Grundsätze dafür gibt es kaum. Manchmal
sei es zum Verwundern, dass ein einziges Durchschnittsleben dafür hinreiche,
um so viel zu erfassen, dass man hier mit einigem Erfolg arbeiten könne. Es
kommen allerdings trübe Stunden, wie sie ja jeder hat, wo man glaubt, nicht
das geringste erzielt zu haben, wo es einem scheint, als hätten nur die von
Anfang an für einen guten Ausgang bestimmten Prozesse ein gutes Ende
genommen, wie es auch ohne Mithilfe geschehen wäre, während alle anderen
verloren gegangen sind, trotz allem Nebenherlaufen, aller Mühe, allen
kleinen, scheinbaren Erfolgen, über die man solche Freude hatte. Dann
scheint einem allerdings nichts mehr sicher, und man würde auf bestimmte
Fragen hin nicht einmal zu leugnen wagen, dass man ihrem Wesen nach gut
verlaufende Prozesse gerade durch die Mithilfe auf Abwege gebracht hat. Auch
das ist ja eine Art Selbstvertrauen, aber es ist das einzige, das dann übrig
bleibt. Solchen Anfällen - es sind natürlich nur Anfälle, nichts weiter -
sind Advokaten besonders dann ausgesetzt, wenn ihnen ein Prozess, den sie
weit genug und zufrieden stellend geführt haben, plötzlich aus der Hand
genommen wird. Das ist wohl das Ärgste, das einem Advokaten geschehen kann.
Nicht etwa durch den Angeklagten wird ihnen der Prozess entzogen, das
geschieht wohl niemals, ein An-[→HL
87]geklagter, der einmal einen bestimmten
Advokaten genommen hat, muss bei ihm bleiben, geschehe was immer. Wie könnte
er sich überhaupt, wenn er einmal Hilfe in Anspruch genommen hat, allein
noch erhalten? Das geschieht also nicht, wohl aber geschieht es manchmal,
dass der Prozess eine Richtung nimmt, wo der Advokat nicht mehr mitkommen
darf. Der Prozess und der Angeklagte und alles wird dem Advokaten einfach
entzogen; dann können auch die besten Beziehungen zu den Beamten nicht mehr
helfen, denn sie selbst wissen nichts. Der Prozess ist eben in ein Stadium
getreten, wo keine Hilfe mehr geleistet werden darf, wo ihn unzugängliche
Gerichtshöfe bearbeiten, wo auch der Angeklagte für den Advokaten nicht mehr
erreichbar ist. Man kommt dann eines Tages nach Hause und findet auf seinem
Tisch alle die vielen Eingaben, die man mit allem Fleiß und mit den
schönsten Hoffnungen in dieser Sache gemacht hat, sie sind zurückgestellt
worden, da sie in das neue Prozess-Stadium nicht übertragen werden dürfen,
es sind wertlose Fetzen. Dabei muss der Prozess noch nicht verloren sein,
durchaus nicht, wenigstens liegt kein entscheidender Grund für diese Annahme
vor, man weiß bloß nichts mehr von dem Prozess und wird auch nichts mehr von
ihm erfahren. Nun sind ja solche Fälle glücklicherweise Ausnahmen, und
selbst wenn K.s Prozess ein solcher Fall sein sollte, sei er doch vorläufig
noch weit von solchem Stadium entfernt. Hier sei aber noch reichliche
Gelegenheit für Advokatenarbeit gegeben, und dass sie ausgenützt werde,
dessen dürfe K. sicher sein. Die Eingabe sei, wie erwähnt, noch nicht
überreicht, das eile aber auch nicht, viel wichtiger seien die einleitenden
Besprechungen mit maßgebenden Beamten, und die hätten schon stattgefunden.
Mit verschiedenem Erfolg, wie offen zugestanden werden soll. Es sei viel
besser, vorläufig Einzelheiten nicht zu verraten, durch die K. nur ungünstig
beeinflusst und allzu hoffnungsfreudig oder allzu ängstlich gemacht werden
könnte, nur so viel sei gesagt, dass sich einzelne sehr günstig
ausgesprochen und sich auch sehr bereitwillig gezeigt haben, während andere
sich weniger günstig geäußert, aber doch ihre Mithilfe keineswegs verweigert
haben. Das Ergebnis sei also im ganzen sehr erfreulich, nur dürfe man daraus
keine besonderen Schlüsse ziehen, da alle Vorverhandlungen ähnlich beginnen
und durchaus erst die weitere Entwicklung den Wert dieser Vorverhandlungen
zeigt.
Jedenfalls sei noch nichts
verloren, und wenn es noch gelingen sollte, den Kanzleidirektor trotz allem
zu gewinnen - es sei schon verschiedenes zu diesem Zweck eingeleitet -, dann
sei das Ganze - wie die Chirurgen sagen - eine reine Wunde, und man könne
getrost das Folgende erwarten.
[→HL
88]
In solchen und ähnlichen Reden
war der Advokat unerschöpflich. Sie wiederholten sich bei jedem Besuch.
Immer gab es Fortschritte, niemals aber konnte die Art dieser Fortschritte
mitgeteilt werden. Immerfort wurde an der ersten Eingabe gearbeitet, aber
sie wurde nicht fertig, was sich meistens beim nächsten Besuch als großer
Vorteil herausstellte, da die letzte Zeit, was man nicht hätte voraussehen
können, für die Übergabe sehr ungünstig gewesen wäre. Bemerkte K. manchmal,
ganz ermattet von den Reden, dass es doch, selbst unter Berücksichtigung
aller Schwierigkeiten, sehr langsam vorwärts gehe, wurde ihm entgegnet, es
gehe gar nicht langsam vorwärts, wohl aber wäre man schon viel weiter, wenn
K. sich rechtzeitig an den Advokaten gewendet hätte. Das hatte er aber
leider versäumt, und diese Versäumnis werde auch noch weitere Nachteile
bringen, nicht nur zeitliche.
Die einzige wohltätige
Unterbrechung dieser Besuche war Leni, die es immer so einzurichten wusste,
dass sie dem Advokaten in Anwesenheit K.s den Tee brachte. Dann stand sie
hinter K., sah scheinbar zu, wie der Advokat, mit einer Art Gier tief zur
Tasse hinabgebeugt, den Tee eingoss und trank, und
ließ im Geheimen ihre
Hand von K. erfassen. Es herrschte völliges Schweigen. Der Advokat trank.
K.
drückte Lenis Hand, und
Leni wagte es manchmal, K.s Haare sanft zu
streicheln. »Du bist noch hier?« fragte der Advokat, nachdem er fertig war.
»Ich wollte das Geschirr wegnehmen«, sagte Leni, es gab noch einen letzten
Händedruck, der Advokat wischte sich den Mund und begann mit neuer Kraft auf
K. einzureden.
War es Trost oder Verzweiflung,
was der Advokat erreichen wollte? K. wusste es nicht,
wohl aber hielt er es
für feststehend, dass seine Verteidigung nicht in guten Händen war. Es
mochte ja alles richtig sein, was der Advokat erzählte, wenn es auch
durchsichtig war, dass er sich möglichst in den Vordergrund stellen wollte
und wahrscheinlich noch niemals einen so großen Prozess geführt hatte, wie
es K.s Prozess seiner Meinung nach war. Verdächtig aber blieben die
unaufhörlich hervorgehobenen persönlichen Beziehungen zu den Beamten.
mussten sie denn ausschließlich zu K.s Nutzen ausgebeutet werden? Der
Advokat vergaß nie zu bemerken, dass es sich nur um niedrige Beamte
handelte, also um Beamte in sehr abhängiger Stellung, für deren Fortkommen
gewisse Wendungen der Prozesse wahrscheinlich von Bedeutung sein konnten.
Benützten sie vielleicht den Advokaten dazu, um solche für den Angeklagten
natürlich immer ungünstige Wendungen zu erzielen? Vielleicht taten sie das
nicht in jedem Prozess, gewiss, das war nicht wahrscheinlich, es gab dann
wohl [→HL 89] wieder Prozesse, in deren Verlauf sie dem Advokaten für seine Dienste
Vorteile einräumten, denn es musste ihnen ja auch daran gelegen sein, seinen
Ruf ungeschädigt zu erhalten.
Verhielt es sich aber wirklich
so, in welcher Weise würden sie bei K.s Prozess eingreifen, der, wie der
Advokat erklärte, ein
sehr schwieriger, also wichtiger Prozess war und
gleich anfangs bei Gericht große Aufmerksamkeit erregt hatte? Es konnte
nicht sehr zweifelhaft sein, was sie tun würden. Anzeichen dessen konnte man
ja schon darin sehen, dass die erste Eingabe noch immer nicht überreicht
war, obwohl der Prozess schon Monate dauerte und dass sich alles, den
Angaben des Advokaten nach, in den Anfängen befand, was natürlich sehr
geeignet war, den Angeklagten einzuschläfern und hilflos zu erhalten, um ihn
dann plötzlich mit der Entscheidung zu überfallen oder wenigstens mit der
Bekanntmachung, dass die zu seinen Ungunsten abgeschlossene Untersuchung an
die höheren Behörden weitergegeben werde.
Es war unbedingt nötig, dass K.
selbst eingriff. Gerade in Zuständen großer Müdigkeit, wie
an diesem
Wintervormittag, wo ihm alles willenlos durch den Kopf zog, war diese
Überzeugung unabweisbar.
Die Verachtung, die er früher für den Prozess
gehabt hatte, galt nicht mehr. Wäre er allein in der Welt gewesen, hätte er
den Prozess leicht missachten können, wenn es allerdings auch sicher war,
dass dann der Prozess überhaupt nicht entstanden wäre. Jetzt aber hatte ihn
der Onkel schon zum Advokaten gezogen,
Familienrücksichten sprachen mit;
seine
Stellung war nicht mehr vollständig unabhängig von dem Verlauf des
Prozesses, er selbst hatte
unvorsichtigerweise mit einer gewissen
unerklärlichen Genugtuung vor Bekannten den Prozess erwähnt,
andere hatten
auf unbekannte Weise davon erfahren, das
Verhältnis zu Fräulein Bürstner
schien entsprechend dem Prozess zu schwanken -
kurz, er hatte kaum mehr die
Wahl, den Prozess anzunehmen oder abzulehnen, er stand mitten darin und
musste sich wehren. War er müde, dann war es schlimm.
Zu übertriebener Sorge war
allerdings vorläufig kein Grund. Er hatte es verstanden, sich
in der Bank in
verhältnismäßig kurzer Zeit zu seiner hohen Stellung emporzuarbeiten und
sich, von allen anerkannt, in dieser Stellung zu erhalten,
er musste jetzt
nur diese Fähigkeiten, die ihm das ermöglicht hatten, ein wenig dem Prozess
zuwenden, und es war kein Zweifel, dass es gut ausgehen müsste. Vor allem
war es, wenn etwas erreicht werden sollte, notwendig, jeden Gedanken an eine
mögliche Schuld von vornherein abzulehnen.
Es gab keine Schuld.
Der Prozess
war nichts anderes als ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil
für die [→HL 90] Bank abgeschlossen hatte, ein Geschäft, innerhalb dessen, wie das
die Regel war, verschiedene Gefahren lauerten, die eben abgewehrt werden
mussten. Zu diesem Zwecke durfte man allerdings nicht mit Gedanken an
irgendeine Schuld spielen, sondern den
Gedanken an den eigenen Vorteil
möglichst festhalten. Von diesem Gesichtspunkt aus war es auch
unvermeidlich,
dem Advokaten die Vertretung sehr bald, am besten noch an
diesem Abend, zu entziehen. Es war zwar nach seinen Erzählungen etwas
Unerhörtes und wahrscheinlich sehr Beleidigendes, aber K. konnte nicht
dulden, dass seinen Anstrengungen in dem Prozess Hindernisse begegneten, die
vielleicht von seinem eigenen Advokaten veranlasst waren. War aber einmal
der Advokat abgeschüttelt, dann musste die Eingabe sofort überreicht und
womöglich jeden Tag darauf gedrängt werden, dass man sie berücksichtige. Zu
diesem Zwecke
würde es natürlich nicht genügen, dass K. wie die anderen im
Gang saß und den Hut unter die Bank stellte. Er selbst oder die Frauen oder
andere Boten mussten Tag für Tag die Beamten überlaufen und sie zwingen,
statt durch das Gitter auf den Gang zu schauen, sich zu ihrem Tisch zu
setzen und K.s Eingabe zu studieren.
Von diesen Anstrengungen dürfte man
nicht ablassen, alles müsste organisiert und überwacht werden, das Gericht
sollte einmal auf einen Angeklagten stoßen, der sein Recht zu wahren
verstand.
Wenn sich aber auch K. dies
alles durchzuführen getraute, die Schwierigkeit der Abfassung der Eingabe
war überwältigend.
Früher, etwa noch vor einer
Woche, hatte er nur mit einem Gefühl der Scham daran denken können, dass er
einmal genötigt sein könnte, eine solche Eingabe selbst zu machen; dass dies
auch schwierig sein konnte, daran hatte er gar nicht gedacht. Er erinnerte
sich, wie er einmal an einem Vormittag, als er gerade mit Arbeit überhäuft
war, plötzlich alles zur Seite geschoben und den Schreibblock vorgenommen
hatte, um versuchsweise den Gedankengang einer derartigen Eingabe zu
entwerfen und ihn vielleicht dem schwerfälligen Advokaten zur Verfügung zu
stellen, und wie gerade in diesem Augenblick die Tür des Direktionszimmers
sich öffnete und der Direktor-Stellvertreter mit großem Gelächter eintrat.
Es war für K. damals sehr peinlich gewesen, obwohl der
Direktor-Stellvertreter natürlich nicht über die Eingabe gelacht hatte, von
der er nichts wusste, sondern über einen Börsenwitz, den er eben gehört
hatte, einen Witz, der zum Verständnis eine Zeichnung erforderte, die nun
der Direktor-Stellvertreter, über K.s Tisch gebeugt, mit K.s Bleistift, den
er ihm aus der Hand nahm, auf dem Schreibblock ausführte, der für die
Eingabe bestimmt gewesen war.
[→HL
91]
Heute wusste K. nichts mehr von
Scham, die Eingabe musste gemacht werden. Wenn er im Bureau keine Zeit für sie
fand, was sehr wahrscheinlich war, dann musste er sie zu Hause in den
Nächten machen. Würden auch die Nächte nicht genügen, dann musste er einen
Urlaub nehmen. Nur nicht auf halbem Wege stehen bleiben, das war nicht nur
in Geschäften, sondern immer und überall das Unsinnigste. Die Eingabe
bedeutete freilich eine fast endlose Arbeit. Man musste keinen sehr
ängstlichen Charakter haben und konnte doch leicht zu dem Glauben kommen,
dass es unmöglich war, die Eingabe jemals fertig zu stellen. Nicht aus
Faulheit oder Hinterlist, die den Advokaten allein an der Fertigstellung
hindern konnten, sondern weil in Unkenntnis der vorhandenen Anklage und gar
ihrer möglichen Erweiterungen
das ganze Leben in den kleinsten Handlungen
und Ereignissen in die Erinnerung zurückgebracht, dargestellt und von allen
Seiten überprüft werden musste. Und wie traurig war eine solche Arbeit
überdies.
Sie war vielleicht geeignet,
einmal nach der Pensionierung den kindisch gewordenen Geist zu beschäftigen
und ihm zu helfen, die langen Tage hinzubringen. Aber jetzt, wo K. alle
Gedanken zu seiner Arbeit brauchte, wo jede Stunde,
da er noch im Aufstieg
war und schon für den Direktor-Stellvertreter eine Drohung bedeutete, mit
größter Schnelligkeit verging und wo er die kurzen Abende und Nächte als
junger Mensch genießen wollte, jetzt sollte er mit der Verfassung dieser
Eingabe beginnen. Wieder ging sein Denken in Klagen aus. Fast
unwillkürlich,
nur um dem ein Ende zu machen, tastete er mit dem Finger nach dem Knopf der
elektrischen Glocke, die ins Vorzimmer führte. Während er ihn niederdrückte,
blickte er zur Uhr auf.
Es war elf Uhr, zwei Stunden, eine lange, kostbare
Zeit, hatte er verträumt und war natürlich noch matter als vorher. Immerhin
war die Zeit nicht verloren, er hatte Entschlüsse gefasst, die wertvoll sein
konnten. Die Diener brachten außer verschiedener Post zwei Visitenkarten von
Herren, die schon längere Zeit auf K. warteten. Es waren gerade
sehr
wichtige Kundschaften der Bank, die man eigentlich auf keinen Fall hätte
warten lassen sollen.
Warum kamen sie zu so
ungelegener Zeit, und warum, so schienen wieder die Herren hinter der
geschlossenen Tür zu fragen, verwendete der fleißige K. für
Privatangelegenheiten die beste Geschäftszeit? Müde von dem Vorhergegangenen
und müde das Folgende erwartend, stand K. auf, um den ersten zu empfangen.
Es war ein kleiner, munterer Herr, ein Fabrikant, den K. gut kannte. Er
bedauerte, K. in wichtiger Arbeit gestört zu haben, und K. bedauerte
seinerseits, dass er den Fabrikanten so lange hatte
[→HL 92] warten lassen. Schon
dieses Bedauern aber sprach er in derartig mechanischer Weise und mit fast
falscher Betonung aus, dass der Fabrikant, wenn er nicht ganz von der
Geschäftssache eingenommen gewesen wäre, es hätte bemerken müssen. Statt
dessen zog er eilig Rechnungen und Tabellen aus allen Taschen, breitete sie
vor K. aus, erklärte verschiedene Posten, verbesserte einen kleinen
Rechenfehler, der ihm sogar bei diesem flüchtigen Überblick aufgefallen war,
erinnerte K. an ein ähnliches Geschäft, das er mit ihm vor etwa einem Jahr
abgeschlossen hatte, erwähnte nebenbei, dass sich diesmal eine andere Bank
unter größten Opfern um das Geschäft bewerbe, und verstummte schließlich, um
nun K.s Meinung zu erfahren. K. hatte auch tatsächlich im Anfang die Rede
des Fabrikanten gut verfolgt, der Gedanke an das wichtige Geschäft hatte
dann auch ihn ergriffen, nur leider nicht für die Dauer, er war bald vom
Zuhören abgekommen, hatte dann noch ein Weilchen zu den lauteren Ausrufen
des Fabrikanten mit dem Kopf genickt, hatte aber schließlich auch das
unterlassen und sich darauf eingeschränkt, den kahlen, auf die Papiere hinabgebeugten Kopf anzusehen und sich zu fragen, wann der Fabrikant endlich
erkennen werde, dass seine ganze Rede nutzlos sei. Als er nun verstummte,
glaubte K. zuerst wirklich, es geschehe dies deshalb, um ihm Gelegenheit zu
dem Eingeständnis zu geben, dass er nicht fähig sei, zuzuhören. Nur mit
Bedauern merkte er aber an dem gespannten Blick des offenbar auf alle
Entgegnungen gefassten Fabrikanten, dass die geschäftliche Besprechung
fortgesetzt werden müsse. Er neigte also den Kopf wie vor einem Befehl und
begann mit dem Bleistift langsam über den Papieren hin- und herzufahren,
hier und da hielt er inne und starrte eine Ziffer an. Der Fabrikant
vermutete Einwände, vielleicht waren die Ziffern wirklich nicht feststehend,
vielleicht waren sie nicht das Entscheidende, jedenfalls bedeckte der
Fabrikant die Papiere mit der Hand und begann von neuem, ganz nahe an K.
heranrückend, eine allgemeine Darstellung des Geschäftes. »Es ist
schwierig«, sagte K., rümpfte die Lippen und sank, da die Papiere, das
einzig Fassbare, verdeckt waren, haltlos gegen die Seitenlehne. Er blickte
sogar nur schwach auf, als sich die Tür des Direktionszimmers öffnete und
dort, nicht ganz deutlich, etwa wie hinter einem Gazeschleier, der
Direktor-Stellvertreter erschien. K. dachte nicht weiter darüber nach,
sondern verfolgte nur die unmittelbare Wirkung, die für ihn sehr erfreulich
war. Denn sofort hüpfte der Fabrikant vom Sessel auf und eilte dem
Direktor-Stellvertreter entgegen, K. aber hätte ihn noch zehnmal flinker
machen wollen, denn er fürchtete, der Direktor-Stellvertreter könnte wieder
verschwinden. Es war unnütze
[→HL 93] Furcht, die Herren trafen einander, reichten
einander die Hände und gingen gemeinsam auf K.s Schreibtisch zu. Der
Fabrikant beklagte sich, dass er beim Prokuristen so wenig Neigung für das
Geschäft gefunden habe, und zeigte auf K., der sich unter dem Blick des
Direktor-Stellvertreters wieder über die Papiere beugte. Als dann die beiden
sich an den Schreibtisch lehnten und der Fabrikant sich daran machte, nun
den Direktor-Stellvertreter für sich zu erobern,
war es K., als werde über
seinem Kopf von zwei Männern, deren Größe er sich übertrieben vorstellte,
über ihn selbst verhandelt. Langsam suchte er mit vorsichtig aufwärts
gedrehten Augen zu erfahren, was sich oben ereignete, nahm vom Schreibtisch,
ohne hinzusehen, eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es
allmählich, während er selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte
hierbei an nichts Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefühl, dass er
sich so verhalten müsste, wenn er einmal die große Eingabe fertig gestellt
hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte. Der Direktor-Stellvertreter, der
sich an dem Gespräch mit aller Aufmerksamkeit beteiligte, sah nur flüchtig
auf das Papier, überlas gar nicht, was dort stand, denn was dem Prokuristen
wichtig war, war ihm unwichtig, nahm es aus K.s Hand, sagte: »Danke, ich
weiß schon alles« und legte es ruhig wieder auf den Tisch zurück.
K. sah ihn
verbittert von der Seite an. Der Direktor-Stellvertreter aber merkte es gar
nicht oder wurde, wenn er es merkte, dadurch nur aufgemuntert, lachte öfters
laut auf, brachte einmal durch eine schlagfertige Entgegnung den Fabrikanten
in deutliche Verlegenheit, aus der er ihn aber sofort riss, indem er sich
selbst einen Einwand machte, und lud ihn schließlich ein, in sein
Bureau
hinüberzukommen, wo sie die Angelegenheit zu Ende führen könnten. »Es ist
eine sehr wichtige Sache«, sagte er zu dem Fabrikanten, »ich sehe das
vollständig ein. Und dem Herrn Prokuristen« - selbst bei dieser Bemerkung
redete er eigentlich nur zum Fabrikanten - »wird es gewiss lieb sein, wenn
wir es ihm abnehmen. Die Sache verlangt ruhige Überlegung.
Er aber scheint
heute sehr überlastet zu sein, auch warten ja einige Leute im Vorzimmer
schon stundenlang auf ihn.« K. hatte gerade noch genügend Fassung, sich vom
Direktor-Stellvertreter wegzudrehen und sein freundliches, aber starres
Lächeln nur dem Fabrikanten zuzuwenden, sonst griff er gar nicht ein,
stützte sich, ein wenig vorgebeugt, mit beiden Händen auf den Schreibtisch
wie ein Kommis hinter dem Pult und sah zu, wie die zwei Herren unter
weiteren Reden die Papiere vom Tisch nahmen und
im Direktionszimmer
verschwanden. In der Tür drehte sich noch der Fabrikant um, sagte, er
verabschiede sich noch nicht, sondern werde natürlich dem
[→HL 94]
Herrn Prokuristen
über den Erfolg der Besprechung berichten, auch habe er ihm noch eine andere
kleine Mitteilung zu machen.
Endlich war K. allein. Er
dachte gar nicht daran, irgendeine andere Partei vorzulassen, und nur
undeutlich kam ihm zu Bewusstsein, wie angenehm es sei, dass die Leute
draußen in dem Glauben waren, er verhandle noch mit dem Fabrikanten und es
könne aus diesem Grunde niemand, nicht einmal der Diener, bei ihm eintreten.
Er ging zum Fenster, setzte sich auf die Brüstung, hielt sich mit der Hand
an der Klinke fest und sah auf den Platz hinaus. Der Schnee fiel noch immer,
es hatte sich noch gar nicht aufgehellt.
Lange saß er so, ohne zu
wissen, was ihm eigentlich Sorgen machte, nur von Zeit zu Zeit blickte er
ein wenig erschreckt über die Schulter hinweg zur Vorzimmertür, wo er
irrtümlicherweise ein Geräusch zu hören geglaubt hatte. Da aber niemand kam,
wurde er ruhiger, ging zum Waschtisch, wusch sich mit kaltem Wasser und
kehrte mit freierem Kopf zu seinem Fensterplatz zurück.
Der Entschluss,
seine Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen, stellte sich ihm
schwerwiegender dar, als er ursprünglich angenommen hatte. Solange er die
Verteidigung auf den Advokaten überwälzt hatte, war er doch noch vom Prozess
im Grunde wenig betroffen gewesen, er hatte ihn von der Ferne beobachtet und
hatte unmittelbar von ihm kaum erreicht werden können, er hatte nachsehen
können, wann er wollte, wie seine Sache stand, aber er hatte auch den Kopf
wieder zurückziehen können, wann er wollte. Jetzt hingegen, wenn er seine
Verteidigung selbst führen würde, musste er sich - wenigstens für den
Augenblick - ganz und gar dem Gericht aussetzen, der Erfolg dessen sollte ja
für später seine vollständige und endgültige Befreiung sein, aber um diese
zu erreichen, musste er sich vorläufig jedenfalls in viel größere Gefahr
begeben als bisher. Hätte er daran zweifeln wollen, so hätte ihn das heutige
Beisammensein mit dem Direktor-Stellvertreter und dem Fabrikanten
hinreichend vom Gegenteil überzeugen können. Wie war er doch dagesessen,
schon vom bloßen Entschluss, sich selbst zu verteidigen, gänzlich benommen?
Wie sollte es aber später werden? Was für Tage standen ihm bevor! Würde er
den Weg finden, der durch alles hindurch zum guten Ende führte? Bedeutete
nicht eine sorgfältige Verteidigung - und alles andere war sinnlos -,
bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung gleichzeitig die
Notwendigkeit, sich von allem anderen möglichst abzuschließen? Würde er das
glücklich überstehen?
Und wie sollte ihm die Durchführung dessen in der Bank
gelingen? Es handelte sich ja nicht nur um die Eingabe, für die ein
[→HL 95] Urlaub
vielleicht genügt hätte, obwohl die Bitte um einen Urlaub gerade jetzt ein
großes Wagnis gewesen wäre, es handelte sich doch um einen ganzen Prozess,
dessen Dauer unabsehbar war. Was für ein Hindernis war plötzlich in K.s
Laufbahn geworfen worden!
Und jetzt sollte er für die
Bank arbeiten? - Er sah auf den Schreibtisch hin. - Jetzt sollte er Parteien
vorlassen und mit ihnen verhandeln? Während sein Prozess weiterrollte,
während oben auf dem Dachboden die Gerichtsbeamten über den Schriften dieses
Prozesses saßen, sollte er die Geschäfte der Bank besorgen? Sah es nicht aus
wie eine Folter, die, vom Gericht anerkannt, mit dem Prozess zusammenhing
und ihn begleitete? Und würde man etwa in der Bank bei der Beurteilung
seiner Arbeit seine besondere Lage berücksichtigen? Niemand und niemals.
Ganz unbekannt war ja sein Prozess nicht, wenn es auch noch nicht ganz klar
war, wer davon wusste und wie viel. Bis zum Direktor-Stellvertreter aber war
das Gerücht hoffentlich noch nicht gedrungen, sonst hätte man schon deutlich
sehen müssen, wie er es ohne jede Kollegialität und Menschlichkeit gegen K.
ausnützen würde. Und der Direktor? Gewiss, er war K. gut gesinnt, und er
hätte wahrscheinlich, sobald er vom Prozess erfahren hätte, soweit es an ihm
lag, manche Erleichterungen für K. schaffen wollen, aber er wäre damit
gewiss nicht durchgedrungen, denn er unterlag jetzt, da das Gegengewicht,
das K. bisher gebildet hatte, schwächer zu werden anfing, immer mehr dem
Einfluss des Direktor-Stellvertreters, der außerdem auch den leidenden
Zustand des Direktors zur Stärkung der eigenen Macht ausnützte. Was hatte
also K. zu erhoffen? Vielleicht schwächte er durch solche Überlegungen seine
Widerstandskraft, aber es war doch auch notwendig, sich selbst nicht zu
täuschen und alles so klar zu sehen, als es
augenblicklich möglich war.
Ohne besonderen Grund, nur um
vorläufig noch nicht zum Schreibtisch zurückkehren zu müssen, öffnete er das
Fenster. Es ließ sich nur schwer öffnen, er musste mit beiden Händen die
Klinke drehen. Dann zog durch das Fenster in dessen ganzer Breite und Höhe
der mit Rauch vermischte Nebel in das Zimmer und füllte es mit einem
leichten Brandgeruch. Auch einige Schneeflocken wurden hereingeweht. »Ein
hässlicher Herbst«, sagte hinter K. der Fabrikant, der
vom
Direktor-Stellvertreter kommend unbemerkt ins Zimmer getreten war. K. nickte
und sah unruhig auf die Aktentasche des Fabrikanten, aus der dieser nun wohl
die Papiere herausziehen würde, um K. das Ergebnis der Verhandlungen mit dem
Direktor-Stellvertreter mitzuteilen. Der Fabrikant aber folgte K.s Blick,
klopfte auf seine Tasche und sagte, ohne sie
[→HL 96]
zu öffnen: »Sie wollen hören,
wie es ausgefallen ist. Ich trage schon fast den Geschäftsabschluss in der
Tasche. Ein reizender Mensch, Ihr Direktor-Stellvertreter, aber durchaus
nicht ungefährlich.« Er lachte, schüttelte K.s Hand und wollte auch ihn zum
Lachen bringen. Aber K. schien es nun wieder verdächtig, dass ihm der
Fabrikant die Papier nicht zeigen wollte, und er fand an der Bemerkung des
Fabrikanten nichts zum Lachen. »Herr Prokurist«, sagte der Fabrikant, »Sie
leiden wohl unter dem Wetter? Sie sehen heute so bedrückt aus.« »Ja«, sagte
K. und griff mit der Hand an die Schläfe, »Kopfschmerzen, Familiensorgen.«
»Sehr richtig«, sagte der Fabrikant, der ein eiliger Mensch war und
niemanden ruhig anhören konnte, »jeder hat sein Kreuz zu tragen.«
Unwillkürlich hatte K. einen
Schritt gegen die Tür gemacht, als wolle er den Fabrikanten hinausbegleiten,
dieser aber sagte: »Ich hätte, Herr Prokurist, noch eine kleine Mitteilung
für Sie. Ich fürchte sehr, dass ich Sie gerade heute damit vielleicht
belästige, aber ich war schon zweimal in der letzten Zeit bei Ihnen und habe
es jedes Mal vergessen. Schiebe ich es aber noch weiterhin auf, verliert es
wahrscheinlich vollständig seinen Zweck. Das wäre aber schade, denn im
Grunde ist meine Mitteilung vielleicht doch nicht wertlos.« Ehe K. Zeit
hatte zu antworten, trat der Fabrikant nahe an ihn heran, klopfte mit dem
Fingerknöchel leicht an seine Brust und sagte leise: »Sie haben einen
Prozess, nicht wahr?« K. trat zurück und rief sofort: »Das hat Ihnen der
Direktor-Stellvertreter gesagt!« »Ach nein«, sagte der Fabrikant, »woher
sollte denn der Direktor-Stellvertreter es wissen?« »Und Sie?« fragte K.
schon viel gefasster. »Ich erfahre hie und da etwas von dem Gericht«, sagte
der Fabrikant, »das betrifft eben die Mitteilung, die ich Ihnen machen
wollte.« »So viel Leute sind mit dem Gericht in Verbindung!« sagte K. mit
gesenktem Kopf und führte den Fabrikanten zum Schreibtisch. Sie setzten sich
wieder wie früher und der Fabrikant sagte: »Es ist leider nicht sehr viel,
was ich Ihnen mitteilen kann. Aber in solchen Dingen soll man nicht das
geringste vernachlässigen. Außerdem drängt es mich aber, Ihnen irgendwie zu
helfen, und sei meine Hilfe noch so bescheiden. Wir waren doch bisher gute
Geschäftsfreunde, nicht? Nun also.« K. wollte sich wegen seines Verhaltens
bei der heutigen Besprechung entschuldigen, aber der Fabrikant duldete keine
Unterbrechung, schob die Aktentasche hoch unter die Achsel, um zu zeigen,
dass er Eile habe, und fuhr fort: »Von Ihrem Prozess weiß ich durch
einen
gewissen Titorelli. Es ist ein Maler, Titorelli ist nur sein Künstlername,
seinen wirklichen Namen kenne ich gar nicht einmal. Er kommt schon seit
Jahren von Zeit zu Zeit in mein Bureau und
[→HL 97] bringt kleine Bilder mit, für die
ich ihm - er ist fast ein Bettler - immer eine Art Almosen gebe. Es sind
übrigens hübsche Bilder, Heidelandschaften und dergleichen. Diese Verkäufe -
wir hatten uns schon beide daran gewöhnt - gingen ganz glatt vor sich.
Einmal aber wiederholten sich diese Besuche doch zu oft, ich machte ihm
Vorwürfe, wir kamen ins Gespräch, es interessierte mich, wie er sich allein
durch Malen erhalten könne, und ich erfuhr nun zu meinem Staunen, dass seine
Haupteinnahmequelle das Porträtmalen sei. «Er arbeite für das Gericht»,
sagte er. «Für welches Gericht»? fragte ich. Und nun erzählte er mir von dem
Gericht. Sie werden sich wohl am besten vorstellen können, wie erstaunt ich
über diese Erzählungen war. Seitdem höre ich bei jedem seiner Besuche
irgendwelche Neuigkeiten vom Gericht und
bekomme so allmählich einen
gewissen Einblick in die Sache. Allerdings ist
Titorelli geschwätzig, und
ich muss ihn oft abwehren, nicht nur, weil er gewiss auch lügt, sondern vor
allem, weil ein Geschäftsmann wie ich, der unter den eigenen Geschäftssorgen
fast zusammenbricht, sich nicht noch viel um fremde Dinge kümmern kann. Aber
das nur nebenbei. Vielleicht - so dachte ich jetzt - kann Ihnen Titorelli
ein wenig behilflich sein, er kennt viele Richter, und wenn er selbst auch
keinen großen Einfluss haben sollte, so kann er
Ihnen doch Ratschläge geben,
wie man verschiedenen einflussreichen Leuten beikommen kann. Und wenn auch
diese Ratschläge an und für sich nicht entscheidend sein sollten, so werden
sie doch, meiner Meinung nach, in Ihrem Besitz von großer Bedeutung sein.
Sie sind ja fast ein Advokat.
Ich pflege immer zu sagen: Prokurist K. ist
fast ein Advokat. Oh, ich habe keine Sorgen wegen Ihres Prozesses. Wollen
Sie nun aber zu Titorelli gehen? Auf meine Empfehlung hin wird er gewiss
alles tun, was ihm möglich ist. Ich denke wirklich, Sie sollten hingehen. Es
muss natürlich nicht heute sein, einmal, gelegentlich. Allerdings sind Sie -
das will ich noch sagen - dadurch, dass ich Ihnen diesen Rat gebe, nicht im
geringsten verpflichtet, auch wirklich zu Titorelli hinzugehen. Nein, wenn
Sie Titorelli entbehren zu können glauben, ist es gewiss besser, ihn ganz
beiseite zu lassen. Vielleicht haben Sie schon einen ganz genauen Plan, und Titorelli könnte ihn stören. Nein, dann gehen Sie natürlich auf keinen Fall
hin! Es kostet gewiss auch Überwindung, sich von einem solchen Burschen
Ratschläge geben zu lassen. Nun, wie Sie wollen. Hier ist das
Empfehlungsschreiben und hier die Adresse.«
Enttäuscht nahm K. den Brief
und steckte ihn in die Tasche. Selbst im günstigsten Falle war der Vorteil,
den ihm die Empfehlung bringen konnte, unverhältnismäßig kleiner als der
Schaden, [→HL 98] der darin lag, dass der Fabrikant von seinem Prozess wusste und
dass der Maler die Nachricht weiterverbreitete. Er konnte sich kaum dazu
zwingen,
dem Fabrikanten, der schon auf dem Weg zur Tür war, mit ein paar
Worten zu danken. »Ich werde hingehen«, sagte er, als er sich bei der Tür
vom Fabrikanten verabschiedete, »oder ihm, da ich jetzt sehr beschäftigt
bin, schreiben, er möge einmal zu mir ins Bureau kommen.« »Ich wusste ja«,
sagte der Fabrikant, »dass Sie den besten Ausweg finden würden. Allerdings
dachte ich, dass Sie es lieber vermeiden wollen, Leute wie diesen Titorelli
in die Bank einzuladen, um mit ihm hier über den Prozess zu sprechen. Es ist
auch nicht immer vorteilhaft, Briefe an solche Leute aus der Hand zu geben.
Aber Sie haben gewiss alles durchgedacht und wissen, was Sie tun dürfen.«
K.
nickte und begleitete den Fabrikanten noch durch das Vorzimmer. Aber trotz
äußerlicher Ruhe war er über sich sehr erschrocken; dass er Titorelli
schreiben würde, hatte er eigentlich nur gesagt, um dem Fabrikanten
irgendwie zu zeigen, dass er die Empfehlung zu schätzen wisse und die
Möglichkeiten, mit Titorelli zusammenzukommen, sofort überlege, aber wenn er Titorellis Beistand für wertvoll angesehen hätte, hätte er auch nicht
gezögert, ihm wirklich zu schreiben. Die Gefahren aber, die das zur Folge
haben könnte, hatte er erst durch die Bemerkung des Fabrikanten erkannt.
Konnte er sich auf seinen eigenen Verstand tatsächlich schon so wenig
verlassen? Wenn es möglich war, dass er einen fragwürdigen Menschen durch
einen deutlichen Brief in die Bank einlud, um von ihm, nur durch eine Tür
vom Direktor-Stellvertreter getrennt, Ratschläge wegen seines Prozesses zu
erbitten,
war es dann nicht möglich und sogar sehr wahrscheinlich, dass er
auch andere Gefahren übersah oder in sie hineinrannte? Nicht immer stand
jemand neben ihm, um ihn zu warnen. Und gerade jetzt, wo er mit gesammelten
Kräften auftreten sollte, mussten derartige, ihm bisher fremde Zweifel an
seiner eigenen Wachsamkeit auftreten! Sollten die Schwierigkeiten, die er
bei Ausführung seiner Bureauarbeit fühlte, nun auch im Prozess beginnen? Jetzt
allerdings begriff er es gar nicht mehr, wie es möglich gewesen war, dass er
an Titorelli hatte schreiben und ihn in die Bank einladen wollen.
Er schüttelte noch den Kopf
darüber, als der Diener an seine Seite trat und ihn
auf drei Herren
aufmerksam machte, die hier im Vorzimmer auf einer Bank saßen. Sie warteten
schon lange darauf, zu K. vorgelassen zu werden. Jetzt, da der Diener mit K.
sprach, waren sie aufgestanden, und jeder wollte eine günstige Gelegenheit
ausnützen, um sich vor den anderen an K. heranzumachen. Da man vonseiten
der Bank so rücksichtslos war, sie hier im Warte-[→HL
99]zimmer ihre Zeit verlieren
zu lassen, wollten auch sie keine Rücksicht mehr üben. »Herr Prokurist«,
sagte schon der eine. Aber K. hatte sich vom Diener den Winterrock bringen
lassen und sagte, während er ihn mit Hilfe des Dieners anzog, allen dreien:
»Verzeihen Sie, meine Herren, ich habe augenblicklich leider keine Zeit, Sie
zu empfangen. Ich bitte Sie sehr um Verzeihung, aber ich habe einen
dringenden Geschäftsgang zu erledigen und muss sofort weggehen. Sie haben ja
selbst gesehen, wie lange ich jetzt aufgehalten wurde. Wären Sie so
freundlich, morgen oder wann immer wiederzukommen? Oder wollen wir die
Sachen vielleicht telephonisch besprechen? Oder wollen Sie mir vielleicht
jetzt kurz sagen, worum es sich handelt, und ich gebe Ihnen dann eine
ausführliche schriftliche Antwort. Am besten wäre es allerdings, Sie kämen
nächstens.« Diese Vorschläge K.s brachten die Herren, die nun vollständig
nutzlos gewartet haben sollten, in solches Staunen, dass sie einander stumm
ansahen. »Wir sind also einig?« fragte K., der sich nach dem Diener
umgewendet hatte, der ihm nun auch den Hut brachte. Durch die offene Tür von
K.s Zimmer sah man, wie sich draußen der Schneefall sehr verstärkt hatte. K.
schlug daher den Mantelkragen in die Höhe und knöpfte ihn hoch unter dem
Halse zu.
Da trat gerade aus dem
Nebenzimmer der Direktor-Stellvertreter, sah lächelnd K. im Winterrock mit
den Herren verhandeln und fragte: »Sie gehen jetzt weg, Herr Prokurist?«
»Ja«, sagte K. und richtete sich auf, »ich habe einen Geschäftsgang zu
machen.« Aber der Direktor-Stellvertreter hatte sich schon den Herren
zugewendet. »Und die Herren?« fragte er. »Ich glaube, sie warten schon
lange.« »Wir haben uns schon geeinigt«, sagte K. Aber nun ließen sich die
Herren nicht mehr halten, umringten K. und erklärten, dass sie nicht
stundenlang gewartet hätten, wenn ihre Angelegenheiten nicht wichtig wären
und nicht jetzt, und zwar ausführlich und unter vier Augen, besprochen
werden müssten. Der Direktor-Stellvertreter hörte ihnen ein Weilchen zu,
betrachtete auch K., der den Hut in der Hand hielt und ihn stellenweise von
Staub reinigte, und sagte dann: »Meine Herren, es gibt ja einen sehr
einfachen Ausweg. Wenn Sie mit mir vorlieb nehmen wollen, übernehme ich sehr
gerne die Verhandlungen statt des Herren Prokuristen. Ihre Angelegenheiten
müssen natürlich sofort besprochen werden. Wir sind Geschäftsleute wie Sie
und wissen die Zeit von Geschäftsleuten richtig zu bewerten. Wollen Sie hier
eintreten?« Und er öffnete die Tür, die zu dem Vorzimmer seines Bureaus
führte.
Wie sich doch der
Direktor-Stellvertreter alles anzueignen ver-[→HL
100]stand, was K. jetzt notgedrungen
aufgeben musste!
Gab aber K. nicht mehr auf, als unbedingt nötig war?
Während er mit unbestimmten und, wie er sich eingestehen musste, sehr
geringen Hoffnungen zu einem unbekannten Maler lief,
erlitt hier sein
Ansehen eine unheilbare Schädigung. Es wäre wahrscheinlich viel besser
gewesen, den Winterrock wieder auszuziehen und wenigstens die zwei Herren,
die ja nebenan doch noch warten mussten, für sich zurückzugewinnen. K. hätte
es vielleicht auch versucht, wenn er nicht jetzt in seinem Zimmer den
Direktor-Stellvertreter erblickt hätte, wie er im Bücherständer, als wäre es
sein eigener, etwas suchte. Als K. sich erregt der Tür näherte, rief er:
»Ach, Sie sind noch nicht weggegangen!« Er wandte ihm sein Gesicht zu,
dessen viele straffe Falten nicht Alter, sondern Kraft zu beweisen schienen,
und fing sofort wieder zu suchen an. »Ich suche eine Vertragsabschrift«,
sagte er, »die sich, wie der Vertreter der Firma behauptet, bei Ihnen
befinden soll. Wollen Sie mir nicht suchen helfen?« K. machte einen Schritt,
aber der Direktor-Stellvertreter sagte: »Danke, ich habe es schon gefunden«,
und kehrte mit einem großen Paket Schriften, das nicht nur die
Vertragsabschrift, sondern gewiss noch vieles andere enthielt, wieder in
sein Zimmer zurück.
»Jetzt bin ich ihm nicht
gewachsen«, sagte sich K., »wenn aber meine persönlichen Schwierigkeiten
einmal beseitigt sein werden, dann soll er wahrhaftig der erste sein, der es
zu fühlen bekommt, und zwar möglichst bitter.« Durch diesen Gedanken ein
wenig beruhigt, gab K. dem Diener, der schon lange die Tür zum Korridor für
ihn offen hielt, den Auftrag, dem Direktor gelegentlich die Meldung zu
machen, dass er sich auf einem Geschäftsgang befinde, und
verließ, fast
glücklich darüber, sich eine Zeitlang vollständiger seiner Sache widmen zu
können, die Bank.
Er fuhr sofort zum Maler, der
in einer Vorstadt wohnte, die jener, in welcher sich die Gerichtskanzleien
befanden, vollständig entgegengesetzt war. Es war eine
noch ärmere Gegend,
die Häuser noch dunkler, die Gassen voll Schmutz, der auf dem zerflossenen
Schnee langsam umhertrieb. Im Hause, in dem der Maler wohnte, war nur ein
Flügel des großen Tores geöffnet, in den anderen aber war unten in der Mauer
eine Lücke gebrochen, aus der gerade, als sich K. näherte, eine widerliche,
gelbe, rauchende Flüssigkeit herausschoss, vor der sich einige Ratten in den
nahen Kanal flüchteten. Unten an der Treppe lag ein kleines Kind bäuchlings
auf der Erde und weinte, aber man hörte es kaum infolge des alles
übertönenden Lärms, der aus einer Klempnerwerkstätte auf der anderen Seite
des Torganges kam. Die Tür der Werkstätte war of-[→HL
101]fen, drei Gehilfen standen
im Halbkreis um irgendein Werkstück, auf das sie mit den Hämmern schlugen.
Eine große Platte Weißblech, die an der Wand hing, warf ein bleiches Licht,
das zwischen zwei Gehilfen eindrang und die Gesichter und Arbeitsschürzen
erhellte.
K. hatte für alles nur einen
flüchtigen Blick, er wollte möglichst rasch hier fertig werden, nur den
Maler mit ein paar Worten ausforschen und sofort wieder in die Bank
zurückgehen. Wenn er hier nur den kleinsten Erfolg hatte, sollte das auf
seine heutige Arbeit in der Bank noch eine gute Wirkung ausüben. Im dritten
Stockwerk musste er seinen Schritt mäßigen, er war ganz außer Atem, die
Treppen, ebenso wie die Stockwerke, waren übermäßig hoch, und der Maler
sollte ganz oben in einer Dachkammer wohnen. Auch war die Luft sehr
drückend, es gab keinen Treppenhof, die enge Treppe war auf beiden Seiten
von Mauern eingeschlossen, in denen nur hier und da fast ganz oben kleine
Fenster angebracht waren. Gerade als K. ein wenig stehen blieb, liefen
ein
paar kleine Mädchen aus einer Wohnung heraus und eilten lachend die Treppe
weiter hinauf. K. folgte ihnen langsam, holte eines der Mädchen ein, das
gestolpert und hinter den anderen zurückgeblieben war, und fragte es,
während sie nebeneinander weiterstiegen: »Wohnt hier ein Maler Titorelli?«
Das Mädchen, ein kaum dreizehnjähriges, etwas
buckliges Mädchen, stieß ihn
darauf mit dem Ellbogen an und sah von der Seite zu ihm auf. Weder ihre
Jugend noch ihr Körperfehler hatte verhindern können, dass sie
schon ganz
verdorben war. Sie lächelte nicht einmal, sondern sah K. ernst mit scharfem,
aufforderndem Blicke an. K. tat, als hätte er ihr Benehmen nicht bemerkt,
und fragte: »Kennst du den Maler Titorelli?« Sie nickte und fragte
ihrerseits: »Was wollen Sie von ihm?« K. schien es vorteilhaft, sich noch
schnell ein wenig über Titorelli zu unterrichten: »Ich will mich von ihm
malen lassen«, sagte er. »Malen lassen?« fragte sie, öffnete übermäßig den
Mund, schlug leicht mit der Hand gegen K., als hätte er etwas
außerordentlich Überraschendes oder Ungeschicktes gesagt, hob mit beiden
Händen ihr ohnedies sehr kurzes Röckchen und lief, so schnell sie konnte,
hinter den andern Mädchen her, deren Geschrei schon undeutlich in der Höhe
sich verlor. Bei der nächsten Wendung der Treppe aber traf K. schon wieder
alle Mädchen. Sie waren offenbar von der Buckligen von K.s Absicht
verständigt worden und erwarteten ihn. Sie standen zu beiden Seiten der
Treppe, drückten sich an die Mauer, damit K. bequem zwischen ihnen
durchkomme, und glätteten mit der Hand ihre Schürzen. Alle Gesichter, wie
auch diese Spalierbildung, stellten eine
Mischung von Kindlichkeit und
Verworfenheit dar. Oben an der
[→HL 102]
Spitze der Mädchen, die sich jetzt hinter K.
lachend zusammenschlossen, war die Bucklige, welche die Führung übernahm. K.
hatte es ihr zu verdanken, dass er gleich den richtigen Weg fand. Er wollte
nämlich geradeaus weitersteigen, sie aber zeigte ihm, dass er eine
Abzweigung der Treppe wählen müsse, um zu Titorelli zu kommen. Die Treppe,
die zu ihm führte, war besonders schmal, sehr lang, ohne Biegung, in ihrer
ganzen Länge zu übersehen und oben unmittelbar vor Titorellis Tür
abgeschlossen. Diese Tür, die durch ein kleines, schief über ihr
eingesetztes Oberlichtfenster im Gegensatz zur übrigen Treppe
verhältnismäßig hell beleuchtet wurde, war aus nicht übertünchten Balken
zusammengesetzt, auf die der Name Titorelli mit roter Farbe in breiten
Pinselstrichen gemalt war. K. war mit seinem Gefolge noch kaum in der Mitte
der Treppe, als oben, offenbar veranlasst durch das Geräusch der vielen
Schritte, die Tür ein wenig geöffnet wurde und ein wahrscheinlich nur mit
einem Nachthemd bekleideter Mann in der Türspalte erschien. »Oh!« rief er,
als er die Menge kommen sah, und verschwand. Die Bucklige klatschte vor
Freude in die Hände, und die übrigen Mädchen drängten hinter K., um ihn
schneller vorwärtszutreiben.
Sie waren aber noch nicht
einmal hinaufgekommen, als oben der Maler die Tür gänzlich aufriss und mit
einer tiefen Verbeugung K. einlud, einzutreten. Die Mädchen dagegen wehrte
er ab, er wollte keine von ihnen einlassen, so sehr sie baten und so sehr sie
versuchten, wenn schon nicht mit seiner Erlaubnis, so gegen seinen Willen
einzudringen. Nur der Buckligen gelang es, unter seinem ausgestreckten Arm
durchzuschlüpfen, aber der Maler jagte hinter ihr her, packte sie bei den
Röcken, wirbelte sie einmal um sich herum und setzte sie dann vor die Tür
bei den anderen Mädchen ab, die es, während der Maler seinen Posten
verlassen hatte, doch nicht gewagt hatten, die Schwelle zu überschreiten. K.
wusste nicht, wie er das Ganze beurteilen sollte, es hatte nämlich den
Anschein, als ob alles in freundschaftlichem Einvernehmen geschehe. Die
Mädchen bei der Tür streckten, eines hinter dem anderen, die Hälse in die
Höhe, riefen dem Maler verschiedene scherzhaft gemeinte Worte zu, die K.
nicht verstand, und auch der Maler lachte, während die Bucklige in seiner
Hand fast flog. Dann schloss er die Tür, verbeugte sich nochmals vor K.,
reichte ihm die Hand und sagte, sich vorstellend: »Kunstmaler Titorelli.« K.
zeigte auf die Tür, hinter der die Mädchen flüsterten, und sagte: »Sie
scheinen im Hause sehr beliebt zu sein.« »Ach, die Fratzen!« sagte der Maler
und suchte vergebens sein Nachthemd am Halse zuzuknöpfen. Er war im übrigen
bloßfüßig und nur noch mit einer
[→HL 103] breiten, gelblichen Leinenhose bekleidet,
die mit einem Riemen festgemacht war, dessen langes Ende frei hin und her
schlug. »Diese Fratzen sind mir eine wahre Last«, fuhr er fort, während er
vom Nachthemd, dessen letzter Knopf gerade abgerissen war, abließ, einen
Sessel holte und K. zum Niedersetzen nötigte. »Ich habe eine von ihnen - sie
ist heute nicht einmal dabei - einmal gemalt, und seitdem verfolgen mich
alle. Wenn ich selbst hier bin, kommen sie nur herein, wenn ich es erlaube,
bin ich aber einmal weg, dann ist immer zumindest eine da. Sie haben sich
einen Schlüssel zu meiner Tür machen lassen, den sie untereinander
verleihen. Man kann sich kaum vorstellen, wie lästig das ist. Ich komme zum
Beispiel mit einer Dame, die ich malen soll, nach Hause, öffne die Tür mit
meinem Schlüssel und finde etwa die Bucklige dort beim Tischchen, wie sie
sich mit dem Pinsel die Lippen rot färbt, während ihre kleinen Geschwister,
die sie zu beaufsichtigen hat, sich herumtreiben und das Zimmer in allen
Ecken verunreinigen. Oder ich komme, wie es mir erst gestern geschehen ist,
spätabends nach Hause - entschuldigen Sie, bitte, mit Rücksicht darauf
meinen Zustand und die Unordnung im Zimmer -, also ich komme spätabends nach
Hause und will ins Bett steigen, da zwickt mich etwas ins Bein, ich schaue
unter das Bett und ziehe wieder so ein Ding heraus. Warum sie sich so zu mir
drängen, weiß ich nicht, dass ich sie nicht zu mir zu locken suche, dürften
Sie eben bemerkt haben. Natürlich bin ich dadurch auch in meiner Arbeit
gestört. Wäre mir dieses Atelier nicht umsonst zur Verfügung gestellt, ich
wäre schon längst ausgezogen.« Gerade rief hinter der Tür ein Stimmchen,
zart und ängstlich: »Titorelli, dürfen wir schon kommen?« »Nein«, antwortete
der Maler. »Ich allein auch nicht?« fragte es wieder. »Auch nicht«, sagte
der Maler, ging zur Tür und sperrte sie ab.
K. hatte sich inzwischen im
Zimmer umgesehen, er wäre niemals selbst auf den Gedanken gekommen, dass man
dieses elende kleine Zimmer ein Atelier nennen könnte. Mehr als zwei lange
Schritte konnte man der Länge und Quere nach kaum hier machen. Alles,
Fußboden, Wände und Zimmerdecke, war aus Holz, zwischen den Balken sah man
schmale Ritzen. K. gegenüber stand an der Wand das Bett, das mit
verschiedenfarbigem Bettzeug überladen war. In der Mitte des Zimmers war auf
einer Staffelei ein Bild, das mit einem Hemd verhüllt war, dessen Ärmel bis
zum Boden baumelten. Hinter K. war das Fenster, durch das man in Nebel nicht
weiter sehen konnte als über das mit Schnee bedeckte Dach des Nachbarhauses.
Das Umdrehen des Schlüssels im
schloss erinnerte K. daran, dass er bald hatte weggehen wollen. Er zog daher
den Brief des [→HL 104] Fabrikanten aus der Tasche, reichte ihn dem Maler und sagte:
»Ich habe durch diesen Herrn, Ihren Bekannten, von Ihnen erfahren und bin
auf seinen Rat hin gekommen.« Der Maler las den Brief flüchtig durch und
warf ihn aufs Bett. Hätte der Fabrikant nicht auf das bestimmteste von
Titorelli als von seinem Bekannten gesprochen, als von einem armen Menschen,
der auf seine Almosen angewiesen war, so hätte man jetzt wirklich glauben
können, Titorelli kenne den Fabrikanten nicht oder wisse sich an ihn
wenigstens nicht zu erinnern. Überdies fragte nun der Maler: »Wollen Sie
Bilder kaufen oder sich selbst malen lassen?« K. sah den Maler erstaunt an.
Was stand denn eigentlich in dem Brief? K. hatte es als selbstverständlich
angenommen, dass der Fabrikant in dem Brief den Maler davon unterrichtet
hatte, dass K. nichts anderes wollte, als sich hier wegen seines Prozesses
zu erkundigen. Er war doch gar zu eilig und unüberlegt hierhergelaufen! Aber
er musste jetzt dem Maler irgendwie antworten und sagte mit einem Blick auf
die Staffelei: »Sie arbeiten gerade an einem Bild?« »Ja«, sagte der Maler
und warf das Hemd, das über der Staffelei hing, dem Brief nach auf das Bett.
»Es ist ein Porträt. Eine gute Arbeit, aber noch nicht ganz fertig.« Der
Zufall war K. günstig, die Möglichkeit, vom Gericht zu reden, wurde ihm
förmlich dargeboten, denn es war offenbar das Porträt eines Richters. Es war
übrigens dem Bild im Arbeitszimmer des Advokaten auffallend ähnlich. Es
handelte sich hier zwar um einen ganz anderen Richter, einen dicken Mann mit
schwarzem, buschigem Vollbart, der seitlich weit die Wangen hinaufreichte,
auch war jenes Bild ein Ölbild, dieses aber mit Pastellfarben schwach und
undeutlich angesetzt. Aber alles übrige war ähnlich, denn auch hier wollte
sich gerade der Richter von seinem Thronsessel, dessen Seitenlehnen er
festhielt, drohend erheben. »Das ist ja ein Richter«, hatte K. gleich sagen
wollen, hielt sich dann aber vorläufig noch zurück und näherte sich dem
Bild, als wolle er es in den Einzelheiten studieren. Eine große Figur, die
in der Mitte der Rückenlehne des Thronsessels stand, konnte er sich nicht
erklären und fragte den Maler nach ihr. Sie müsse noch ein wenig
ausgearbeitet werden, antwortete der Maler, holte von einem Tischchen einen
Pastellstift und strichelte mit ihm ein wenig an den Rändern der Figur, ohne
sie aber dadurch für K. deutlicher zu machen. »Es ist die Gerechtigkeit«,
sagte der Maler schließlich. »Jetzt erkenne ich sie schon«, sagte K., »hier
ist die Binde um die Augen und hier die Waage. Aber sind nicht an den Fersen
Flügel und befindet sie sich nicht im Lauf?« »Ja«, sagte der Maler, »ich
musste es über Auftrag so malen,
es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die
Siegesgöttin in einem.« »Das ist keine gute
[→HL 105]
Verbindung«, sagte K. lächelnd,
»die Gerechtigkeit muss ruhen, sonst schwankt die Waage, und es ist kein
gerechtes Urteil möglich.« »Ich füge mich darin meinem Auftraggeber«, sagte
der Maler. »Ja gewiss«, sagte K., der mit seiner Bemerkung niemanden hatte
kränken wollen. »Sie haben die Figur so gemalt, wie sie auf dem Thronsessel
wirklich steht.« »Nein«, sagte der Maler, »ich habe weder die Figur noch den
Thronsessel gesehen, das alles ist Erfindung, aber es wurde mir angegeben,
was ich zu malen habe.« »Wie?« fragte K., er tat absichtlich, als verstehe
er den Maler nicht völlig, »es ist doch ein Richter, der auf dem
Richterstuhl sitzt?« »Ja«, sagte der Maler, »aber er ist kein hoher Richter
und ist niemals auf einem solchen Thronsessel gesessen.« »Und lässt sich
doch in so feierlicher Haltung malen? Er sitzt ja da wie ein
Gerichtspräsident.« »Ja, eitel sind die Herren«, sagte der Maler. »Aber sie
haben die höhere Erlaubnis, sich so malen zu lassen. Jedem ist genau
vorgeschrieben, wie er sich malen lassen darf. Nur kann man leider gerade
nach diesem Bilde die Einzelheiten der Tracht und des Sitzes nicht
beurteilen, die Pastellfarben sind für solche Darstellungen nicht geeignet.«
»Ja«, sagte K., »es ist sonderbar, dass es in Pastellfarben gemalt ist.«
»Der Richter wünschte es so«, sagte der Maler, »es ist für eine Dame
bestimmt.« Der Anblick des Bildes schien ihm Lust zur Arbeit gemacht zu
haben, er krempelte die Hemdärmel aufwärts, nahm einige Stifte in die Hand,
und K. sah zu, wie unter den zitternden Spitzen der Stifte anschließend an
den Kopf des Richters ein rötlicher Schatten sich bildete, der
strahlenförmig gegen den Rand des Bildes verging. Allmählich umgab dieses
Spiel des Schattens den Kopf wie ein Schmuck oder eine hohe Auszeichnung. Um
die Figur der Gerechtigkeit aber blieb es bis auf eine unmerkliche Tönung
hell, in dieser Helligkeit schien die Figur besonders vorzudringen, sie
erinnerte kaum mehr an die Göttin der Gerechtigkeit, aber auch nicht an die
des Sieges, sie sah jetzt vielmehr vollkommen wie die Göttin der Jagd aus.
Die Arbeit des Malers zog K. mehr an, als er wollte; schließlich aber machte
er sich doch Vorwürfe, dass er so lange schon hier war und im Grunde noch
nichts für seine eigene Sache unternommen hatte. »Wie heißt dieser Richter?«
fragte er plötzlich. »Das darf ich nicht sagen«, antwortete der Maler, er
war tief zum Bild hinabgebeugt und vernachlässigte deutlich seinen Gast, den
er doch zuerst so rücksichtsvoll empfangen hatte. K. hielt das für eine
Laune und ärgerte sich darüber, weil er dadurch Zeit verlor. »Sie sind wohl
ein Vertrauensmann des Gerichtes?« fragte er. Sofort legte der Maler die
Stifte beiseite, richtete sich auf, rieb die Hände aneinander und sah K.
lächelnd an. »Nur immer
[→HL 106]
gleich mit der Wahrheit heraus«, sagte er, »Sie
wollen etwas über das Gericht erfahren, wie es ja auch in Ihrem
Empfehlungsschreiben steht, und haben zunächst über meine Bilder gesprochen,
um mich zu gewinnen. Aber ich nehme das nicht übel, Sie konnten ja nicht
wissen, dass das bei mir unangebracht ist. Oh, bitte!« sagte er scharf
abwehrend, als K. etwas einwenden wollte. Und fuhr dann fort: »Im übrigen
haben Sie mit Ihrer Bemerkung vollständig recht, ich bin ein Vertrauensmann
des Gerichtes.« Er machte eine Pause, als wolle er K. Zeit lassen, sich mit
dieser Tatsache abzufinden. Man hörte jetzt wieder hinter der Tür die
Mädchen. Sie drängten sich wahrscheinlich um das Schlüsselloch, vielleicht
konnte man auch durch die Ritzen ins Zimmer hineinsehen. K. unterließ es,
sich irgendwie zu entschuldigen, denn er wollte den Maler nicht ablenken,
wohl aber wollte er nicht, dass der Maler sich allzu sehr überhebe und sich
auf diese Weise gewissermaßen unerreichbar mache, er fragte deshalb: »Ist
das eine öffentlich anerkannte Stellung?« »Nein«, sagte der Maler kurz, als
sei ihm dadurch die weitere Rede verschlagen. K. wollte ihn aber nicht
verstummen lassen und sagte: »Nun, oft sind derartige nichtanerkannte
Stellungen einflussreicher als die anerkannten.« »Das ist eben bei mir der
Fall«, sagte der Maler und nickte mit zusammengezogener Stirn. »Ich sprach
gestern mit dem Fabrikanten über Ihren Fall, er fragte mich, ob ich Ihnen
nicht helfen wollte, ich antwortete: «Der Mann kann ja einmal zu mir
kommen», und nun freue ich mich, Sie so bald hier zu sehen. Die Sache
scheint Ihnen ja sehr nahe zu gehen, worüber ich mich natürlich gar nicht
wundere. Wollen Sie vielleicht zunächst Ihren Rock ablegen?« Obwohl K.
beabsichtigte, nur ganz kurze Zeit hier zu bleiben, war ihm diese
Aufforderung des Malers doch sehr willkommen. Die Luft im Zimmer war ihm
allmählich drückend geworden, öfters hatte er schon verwundert auf einen
kleinen, zweifellos nicht geheizten Eisenofen in der Ecke hingesehen, die
Schwüle im Zimmer war unerklärlich. Während er den Winterrock ablegte und
auch noch den Rock aufknöpfte, sagte der Maler, sich entschuldigend: »Ich
muss Wärme haben. Es ist hier doch sehr behaglich, nicht? Das Zimmer ist in
dieser Hinsicht sehr gut gelegen.« K. sagte nichts dazu, aber es war
eigentlich nicht die Wärme, die ihm Unbehagen machte, es war vielmehr die
dumpfe, das Atmen fast behindernde Luft, das Zimmer war wohl schon lange
nicht gelüftet. Diese Unannehmlichkeit wurde für K. dadurch verstärkt, dass
ihn der Maler bat, sich auf das Bett zu setzen, während er selbst sich auf
den einzigen Stuhl des Zimmers vor der Staffelei niedersetzte. Außerdem
schien es der Maler misszuverstehen,
[→HL 107] warum K. nur am Bettrand blieb, er bat
vielmehr, K. möchte es sich bequem machen und ging, da K. zögerte, selbst
hin und drängte ihn tief in die Betten und Polster hinein. Dann kehrte er
wieder zu seinem Sessel zurück und stellte endlich die erste sachliche
Frage, die K. alles andere vergessen ließ. »Sie sind unschuldig?« fragte er.
»Ja«, sagte K. Die Beantwortung dieser Frage machte ihm geradezu Freude,
besonders da sie gegenüber einem Privatmann, also ohne jede Verantwortung
erfolgte. Noch niemand hatte ihn so offen gefragt. Um diese Freude
auszukosten, fügte er noch hinzu: »Ich bin vollständig unschuldig.« »So«,
sagte der Maler, senkte den Kopf und schien nachzudenken. Plötzlich hob er
wieder den Kopf und sagte: »Wenn Sie unschuldig sind, dann ist ja die Sache
sehr einfach.« K.s Blick trübte sich, dieser angebliche Vertrauensmann des
Gerichtes redete wie ein unwissendes Kind. »Meine Unschuld vereinfacht die
Sache nicht«, sagte K. Er musste trotz allem lächeln und schüttelte langsam
den Kopf. »Es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sich das Gericht
verliert. Zum Schluss aber zieht es von irgendwoher, wo ursprünglich gar
nichts gewesen ist, eine große Schuld hervor.« »Ja, ja
gewiss«, sagte der
Maler, als störe K. unnötigerweise seinen Gedankengang. »Sie sind aber doch
unschuldig?« »Nun ja«, sagte K. »Das ist die Hauptsache«, sagte der Maler.
Er war durch Gegengründe nicht zu beeinflussen, nur war es trotz seiner
Entschiedenheit nicht klar, ob er aus Überzeugung oder nur aus
Gleichgültigkeit so redete. K. wollte das zunächst feststellen und sagte
deshalb: »Sie kennen ja gewiss das Gericht viel besser als ich, ich weiß
nicht viel mehr, als was ich darüber, allerdings von ganz verschiedenen
Leuten, gehört habe. Darin stimmten aber alle überein, dass leichtsinnige
Anklagen nicht erhoben werden und dass das Gericht, wenn es einmal anklagt,
fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und von dieser Überzeugung
nur schwer abgebracht werden kann.« »Schwer?« fragte der Maler und warf eine
Hand in die Höhe. »Niemals ist das Gericht davon abzubringen. Wenn ich hier
alle Richter nebeneinander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor
dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor dem
wirklichen Gericht.« »Ja«, sagte K. für sich und vergaß, dass er den Maler
nur hatte ausforschen wollen.
Wieder begann ein Mädchen
hinter der Tür zu fragen: »Titorelli, wird er denn nicht schon bald
weggehen?« »Schweigt!« rief der Maler zur Tür hin, »seht ihr denn nicht,
dass ich mit dem Herrn eine Besprechung habe?« Aber das Mädchen gab sich
damit nicht zufrieden, sondern fragte: »Du wirst ihn malen?« Und als der
Maler nicht antwortete, sagte sie noch: »Bitte mal ihn nicht, einen so
[→HL 108]
hässlichen Menschen.« Ein Durcheinander unverständlicher zustimmender Zurufe
folgte. Der Maler machte einen Sprung zur Tür, öffnete sie bis zu einem
Spalt - man sah die bittend vorgestreckten, gefalteten Hände der Mädchen -
und sagte: »Wenn ihr nicht still seid, werfe ich euch alle die Treppe
hinunter. Setzt euch hier auf die Stufen und verhaltet euch ruhig.«
Wahrscheinlich folgten sie nicht gleich, so dass er kommandieren musste:
»Nieder auf die Stufen!« Erst dann wurde es still.
»Verzeihen Sie«, sagte der
Maler, als er zu K. wieder zurückkehrte. K. hatte sich kaum zur Tür
hingewendet, er hatte es vollständig dem Maler überlassen, ob und wie er ihn
in Schutz nehmen wollte. Er machte auch jetzt kaum eine Bewegung, als sich
der Maler zu ihm niederbeugte und ihm, um draußen nicht gehört zu werden,
ins Ohr flüsterte: »Auch diese Mädchen gehören zum Gericht.« »Wie?« fragte
K., wich mit dem Kopf zur Seite und sah den Maler an. Dieser aber setzte
sich wieder auf seinen Sessel und sagte halb im Scherz, halb zur Erklärung:
»Es gehört ja alles zum Gericht.« »Das habe ich noch nicht bemerkt«, sagte
K. kurz, die allgemeine Bemerkung des Malers nahm dem Hinweis auf die
Mädchen alles Beunruhigende. Trotzdem sah K. ein Weilchen lang zur Tür hin,
hinter der die Mädchen jetzt still auf den Stufen saßen. Nur eines hatte
einen Strohhalm durch eine Ritze zwischen den Balken gesteckt und führte ihn
langsam auf und ab.
»Sie scheinen noch keinen
Überblick über das Gericht zu haben«, sagte der Maler, er hatte die Beine
weit auseinandergestreckt und klatschte mit den Fußspitzen auf den Boden.
»Da Sie aber unschuldig sind, werden Sie ihn auch nicht benötigen. Ich
allein hole Sie heraus.« »Wie wollen Sie das tun?« fragte K. »Da Sie doch
vor kurzem selbst gesagt haben, dass das Gericht für Beweisgründe
vollständig unzugänglich ist.« »Unzugänglich nur für Beweisgründe, die man
vor dem Gericht vorbringt«, sagte der Maler und hob den Zeigefinger, als
habe K. eine feine Unterscheidung nicht bemerkt.
»Anders verhält es sich aber
damit, was man in dieser Hinsicht hinter dem öffentlichen Gericht versucht,
also in den Beratungszimmern, in den Korridoren oder zum Beispiel auch hier,
im Atelier.« Was der Maler jetzt sagte, schien K. nicht mehr so
unglaubwürdig, es zeigte vielmehr eine große Übereinstimmung mit dem, was K.
auch von anderen Leuten gehört hatte. Ja, es war sogar sehr hoffnungsvoll.
Waren die Richter durch persönliche Beziehungen wirklich so leicht zu
lenken, wie es der Advokat dargestellt hatte, dann waren die Beziehungen des
Malers zu den eitlen Richtern besonders wichtig und jedenfalls keineswegs zu
unter-[→HL 109]schätzen. Dann fügte sich der Maler sehr gut in den Kreis von Helfern,
die K. allmählich um sich versammelte. Man hatte einmal in der Bank sein
Organisationstalent gerühmt, hier, wo er ganz allein auf sich gestellt war,
zeigte sich eine gute Gelegenheit, es auf das Äußerste zu erproben.
Der Maler beobachtete die
Wirkung, die seine Erklärung auf K. gemacht hatte und sagte dann mit einer
gewissen Ängstlichkeit: »Fällt es Ihnen nicht auf, dass ich fast wie ein
Jurist spreche? Es ist der ununterbrochene Verkehr mit den Herren vom
Gericht, der mich so beeinflusst. Ich habe natürlich viel Gewinn davon, aber
der künstlerische Schwung geht zum großen Teil verloren.« »Wie sind Sie denn
zum ersten Mal mit den Richtern in Verbindung gekommen?« fragte K., er
wollte zuerst das Vertrauen des Malers gewinnen, bevor er ihn geradezu in
seine Dienste nahm. »Das war sehr einfach«, sagte der Maler, »ich habe diese
Verbindung geerbt. Schon mein Vater war Gerichtsmaler. Es ist das eine
Stellung, die sich immer vererbt. Man kann dafür neue Leute nicht brauchen.
Es sind nämlich für das Malen der verschiedenen Beamtengrade so
verschiedene, vielfache und vor allem geheime Regeln aufgestellt, dass sie
überhaupt nicht außerhalb bestimmter Familien bekannt werden. Dort in der
Schublade zum Beispiel habe ich die Aufzeichnungen meines Vaters, die ich
niemandem zeige.
Aber nur wer sie kennt, ist zum
Malen von Richtern befähigt. Jedoch, selbst wenn ich sie verlöre, blieben
mir noch so viele Regeln, die ich allein in meinem Kopfe trage, dass mir
niemand meine Stellung streitig machen könnte. Es will doch jeder Richter so
gemalt werden, wie die alten, großen Richter gemalt worden sind, und das
kann nur ich.« »Das ist beneidenswert«, sagte K., der an seine Stellung in
der Bank dachte. »Ihre Stellung ist also unerschütterlich?« »Ja,
unerschütterlich«, sagte der Maler und hob stolz die Achseln. »Deshalb kann
ich es auch wagen, hier und da einem armen Manne, der einen Prozess hat, zu
helfen.« »Und wie tun Sie das?« fragte K., als sei es nicht er, den der
Maler soeben einen armen Mann genannt hatte. Der Maler aber ließ sich nicht
ablenken, sondern sagte: »In Ihrem Fall zum Beispiel werde ich, da Sie
vollständig unschuldig sind, folgendes unternehmen.« Die wiederholte
Erwähnung seiner Unschuld wurde K. schon lästig. Ihm schien es manchmal, als
mache der Maler durch solche Bemerkungen einen günstigen Ausgang des
Prozesses zur Voraussetzung seiner Hilfe, die dadurch natürlich in sich
selbst zusammenfiel. Trotz diesen Zweifeln bezwang sich aber K. und
unterbrach den Maler nicht. Verzichten wollte er auf die Hilfe des Malers
nicht, dazu war er entschlossen, auch schien ihm diese Hilfe durchaus nicht
fragwürdiger als die des Advokaten zu
[→HL 110] sein. K. zog sie jener sogar bei
weitem vor, weil sie harmloser und offener dargeboten wurde.
Der Maler hatte seinen Sessel
näher zum Bett gezogen und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Ich habe
vergessen, Sie zunächst zu fragen, welche Art der Befreiung Sie wünschen.
Es
gibt drei Möglichkeiten, nämlich die wirkliche Freisprechung, die scheinbare
Freisprechung und die Verschleppung. Die wirkliche Freisprechung ist
natürlich das Beste, nur habe ich nicht den geringsten Einfluss auf diese
Art der Lösung. Es gibt meiner Meinung nach überhaupt keine einzelne Person,
die auf die wirkliche Freisprechung Einfluss hätte. Hier entscheidet
wahrscheinlich nur die Unschuld des Angeklagten. Da Sie unschuldig sind,
wäre es wirklich möglich, dass Sie sich allein auf Ihre Unschuld verlassen.
Dann brauchen Sie aber weder mich noch irgendeine andere Hilfe.« Diese
geordnete Darstellung verblüffte K. anfangs, dann aber sagte er ebenso leise
wie der Maler: »Ich glaube, Sie widersprechen sich.« »Wie denn?« fragte der
Maler geduldig und lehnte sich lächelnd zurück. Dieses Lächeln erweckte in
K. das Gefühl, als ob er jetzt daran gehe, nicht in den Worten des Malers,
sondern in dem Gerichtsverfahren selbst Widersprüche zu entdecken. Trotzdem
wich er aber nicht zurück und sagte: »Sie haben früher die Bemerkung
gemacht, dass das Gericht für Beweisgründe unzugänglich ist, später haben
Sie dies auf das öffentliche Gericht eingeschränkt, und jetzt sagen Sie
sogar, dass der Unschuldige vor dem Gericht keine Hilfe braucht. Darin liegt
schon ein Widerspruch. Außerdem aber haben Sie früher gesagt, dass man die
Richter persönlich beeinflussen kann, stellen aber jetzt in Abrede, dass die
wirkliche Freisprechung, wie Sie sie nennen, jemals durch persönliche
Beeinflussung zu erreichen ist. Darin liegt der zweite Widerspruch.« »Diese
Widersprüche sind leicht aufzuklären«, sagte der Maler. »Es ist hier von
zwei verschiedenen Dingen die Rede, von dem, was im Gesetz steht, und von
dem, was ich persönlich erfahren habe, das dürfen Sie nicht verwechseln. Im
Gesetz, ich habe es allerdings nicht gelesen, steht natürlich einerseits,
dass der Unschuldige freigesprochen wird, andererseits steht dort aber
nicht, dass die Richter beeinflusst werden können. Nun habe aber ich gerade
das Gegenteil dessen erfahren. Ich weiß von keiner wirklichen Freisprechung,
wohl aber von vielen Beeinflussungen. Es ist natürlich möglich, dass in
allen mir bekannten Fällen keine Unschuld vorhanden war. Aber ist das nicht
unwahrscheinlich? In so vielen Fällen keine einzige Unschuld? Schon als Kind
hörte ich dem Vater genau zu, wenn er zu Hause von Prozessen erzähl-[→HL
111]te, auch
die Richter, die in sein Atelier kamen, erzählten vom Gericht, man spricht
in unseren Kreisen überhaupt von nichts anderem; kaum bekam ich die
Möglichkeit, selbst zu Gerichte zu gehen, nützte ich sie immer aus,
unzählbare Prozesse habe ich in wichtigen Stadien angehört und, soweit sie
sichtbar sind, verfolgt, und - ich muss es zugeben - nicht einen einzigen
wirklichen Freispruch erlebt.« »Keinen einzigen Freispruch also«, sagte K.,
als rede er zu sich selbst und zu seinen Hoffnungen. »Das bestätigt aber die
Meinung, die ich von dem Gericht schon habe. Es ist also auch von dieser
Seite zwecklos. Ein einziger Henker könnte das ganze Gericht ersetzen.« »Sie
dürfen nicht verallgemeinern«, sagte der Maler unzufrieden, »ich habe ja nur
von meinen Erfahrungen gesprochen.« »Das genügt doch«, sagte K., »oder haben
Sie von Freisprüchen aus früherer Zeit gehört?«
»Solche Freisprüche«,
antwortete der Maler, »soll es allerdings gegeben haben. Nur ist es sehr
schwer, das festzustellen. Die abschließenden Entscheidungen des Gerichts
werden nicht veröffentlicht, sie sind nicht einmal den Richtern zugänglich,
infolgedessen haben sich über alte Gerichtsfälle nur Legenden erhalten.
Diese enthalten allerdings sogar in der Mehrzahl wirkliche Freisprechungen,
man kann sie glauben, nachweisbar sind sie aber nicht. Trotzdem muss man sie
nicht ganz vernachlässigen, eine gewisse Wahrheit enthalten sie wohl
gewiss,
auch sind sie sehr schön, ich selbst habe einige Bilder gemalt, die solche
Legenden zum Inhalt haben.«
»Bloße Legenden ändern meine
Meinung nicht«, sagte K., »man kann sich wohl auch vor Gericht auf diese
Legenden nicht berufen?« Der Maler lachte. »Nein, das kann man nicht«, sagte
er. »Dann ist es nutzlos, darüber zu reden«, sagte K., er wollte vorläufig
alle Meinungen des Malers hinnehmen, selbst wenn er sie für unwahrscheinlich
hielt und sie anderen Berichten widersprachen. Er hatte jetzt nicht die
Zeit, alles, was der Maler sagte, auf die Wahrheit hin zu überprüfen oder
gar zu widerlegen, es war schon das Äußerste erreicht, wenn er den Maler
dazu bewog, ihm in irgendeiner, sei es auch in einer nicht entscheidenden
Weise zu helfen. Darum sagte er: »Sehen wir also von der wirklichen
Freisprechung ab, Sie erwähnten aber noch zwei andere Möglichkeiten.«
»Die
scheinbare Freisprechung
und die Verschleppung. Um die allein kann es sich handeln«, sagte der Maler.
»Wollen Sie aber nicht, ehe wir davon reden, den Rock ausziehen? Es ist
Ihnen wohl heiß.« »Ja«, sagte K., der bisher auf nichts als auf die
Erklärungen des Malers geachtet hatte, dem aber jetzt, da er an die Hitze
erinnert worden war, starker Schweiß auf der Stirn ausbrach. »Es ist fast
unerträglich.« Der Maler nickte, als verstehe er K.s Unbehagen sehr gut.
»Könnte [→HL 112]
man nicht das Fenster öffnen?« fragte K. »Nein«, sagte der Maler.
»Es ist bloß eine feste eingesetzte Glasscheibe, man kann es nicht öffnen.«
Jetzt erkannte K., dass er die ganze Zeit über darauf gehofft hatte,
plötzlich werde der Maler oder er zum Fenster gehen und es aufreißen. Er war
darauf vorbereitet, selbst den Nebel mit offenem Mund einzuatmen. Das
Gefühl, hier von der Luft vollständig abgesperrt zu sein, verursachte ihm
Schwindel. Er schlug leicht mit der Hand auf das Federbett neben sich und
sagte mit schwacher Stimme: »Das ist ja unbequem und ungesund.« »O nein«,
sagte der Maler zur Verteidigung seines Fensters, »dadurch, dass es nicht
aufgemacht werden kann, wird, obwohl es nur eine einfache Scheibe ist, die
Wärme hier besser festgehalten als durch ein Doppelfenster. Will ich aber
lüften, was nicht sehr notwendig ist, da durch die Balkenritzen überall Luft
eindringt, kann ich eine meiner Türen oder sogar beide öffnen.« K., durch
diese Erklärung ein wenig getröstet, blickte herum, um die zweite Tür zu
finden. Der Maler bemerkte das und sagte: »Sie ist hinter Ihnen, ich musste
sie durch das Bett verstellen.« Jetzt erst sah K. die kleine Tür in der
Wand. »Es ist eben hier alles viel zu klein für ein Atelier«, sagte der
Maler, als wolle er einem Tadel K.s zuvorkommen. »Ich musste mich
einrichten, so gut es ging. Das Bett vor der Tür steht natürlich an einem
sehr schlechten Platz. Der Richter zum Beispiel, den ich jetzt male, kommt
immer durch die Tür beim Bett, und ich habe ihm auch einen Schlüssel von
dieser Tür gegeben, damit er, auch wenn ich nicht zu Hause bin, hier im
Atelier auf mich warten kann. Nun kommt er aber gewöhnlich früh am Morgen,
während ich noch schlafe. Es reißt mich natürlich immer aus dem tiefsten
Schlaf, wenn sich neben dem Bett die Tür öffnet. Sie würden jede Ehrfurcht
vor den Richtern verlieren, wenn Sie die Flüche hörten, mit denen ich ihn
empfange, wenn er früh über mein Bett steigt. Ich könnte ihm allerdings den
Schlüssel wegnehmen, aber es würde dadurch nur ärger werden. Man kann hier
alle Türen mit der geringsten Anstrengung aus den Angeln brechen.« Während
dieser ganzen Rede überlegte K., ob er den Rock ausziehen sollte, er sah
aber schließlich ein, dass er, wenn er es nicht tat, unfähig war, hier noch
länger zu bleiben, er zog daher den Rock aus, legte ihn aber über die Knie,
um ihn, falls die Besprechung zu Ende wäre, wieder anziehen zu können. Kaum
hatte er den Rock ausgezogen, rief eines der Mädchen: »Er hat schon den Rock
ausgezogen!« und man hörte, wie sich alle zu den Ritzen drängten, um das
Schauspiel selbst zu sehen. »Die Mädchen glauben nämlich«, sagte der Maler,
»dass ich Sie malen werde und dass Sie sich deshalb ausziehen.« »So«, sagte
K., nur wenig be-[→HL 113]lustigt, denn er fühlte sich nicht viel besser als früher,
obwohl er jetzt in Hemdärmeln dasaß. Fast mürrisch fragte er: »Wie nannten
Sie die zwei anderen Möglichkeiten?« Er hatte die Ausdrücke schon wieder
vergessen. »Die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung«, sagte der
Maler. »Es liegt an Ihnen, was Sie davon wählen. Beides ist durch meine
Hilfe erreichbar, natürlich nicht ohne Mühe, der Unterschied in dieser
Hinsicht ist der, dass die scheinbare Freisprechung eine gesammelte
zeitweilige, die Verschleppung eine viel geringere, aber dauernde
Anstrengung verlangt. Zunächst also die scheinbare Freisprechung. Wenn Sie
diese wünschen sollten, schreibe ich auf einem Bogen Papier eine Bestätigung
Ihrer Unschuld auf. Der Text für eine solche Bestätigung ist mir von meinem
Vater überliefert und ganz unangreifbar. Mit dieser Bestätigung mache ich
nun einen Rundgang bei den mir bekannten Richtern. Ich fange also etwa damit
an, dass ich dem Richter, den ich jetzt male, heute Abend, wenn er zur
Sitzung kommt, die Bestätigung vorlege. Ich lege ihm die Bestätigung vor,
erkläre ihm, dass Sie unschuldig sind, und verbürge mich für Ihre Unschuld.
Das ist aber keine bloß äußerliche, sondern eine wirkliche, bindende
Bürgschaft.« In den Blicken des Malers lag es wie ein Vorwurf, dass K. ihm
die Last einer solchen Bürgschaft auferlegen wolle. »Das wäre ja sehr
freundlich«, sagte K. »Und der Richter würde Ihnen glauben und mich trotzdem
nicht wirklich freisprechen?« »Wie ich schon sagte«, antwortete der Maler.
»Übrigens ist es durchaus nicht sicher, dass jeder mir glauben würde,
mancher Richter wird zum Beispiel verlangen, dass ich Sie selbst zu ihm
hinführe. Dann müssten Sie also einmal mitkommen. Allerdings ist in einem
solchen Falle die Sache schon halb gewonnen, besonders da ich Sie natürlich
vorher genau darüber unterrichten würde, wie Sie sich bei dem betreffenden
Richter zu verhalten haben. Schlimmer ist es bei den Richtern, die mich -
auch das wird vorkommen - von vornherein abweisen. Auf diese müssen wir,
wenn ich es auch an mehrfachen Versuchen gewiss nicht fehlen lassen werde,
verzichten, wir dürfen das aber auch, denn einzelne Richter können hier
nicht den Ausschlag geben. Wenn ich nun auf dieser Bestätigung eine
genügende Anzahl von Unterschriften der Richter habe, gehe ich mit dieser
Bestätigung zu dem Richter, der Ihren Prozess gerade führt. Möglicherweise
habe ich auch seine Unterschrift, dann entwickelt sich alles noch ein wenig
rascher als sonst. Im allgemeinen gibt es aber dann überhaupt nicht mehr
viel Hindernisse, es ist dann für den Angeklagten die Zeit der höchsten
Zuversicht. Es ist merkwürdig, aber wahr, die Leute sind in dieser Zeit
zuversichtlicher als nach dem Freispruch. Es
[→HL 114] bedarf jetzt keiner besonderen
Mühe mehr. Der Richter besitzt in der Bestätigung die Bürgschaft einer
Anzahl von Richtern, kann Sie unbesorgt freisprechen und wird es, allerdings
nach Durchführung verschiedener Formalitäten, mir und anderen Bekannten zu
Gefallen zweifellos tun. Sie aber treten aus dem Gericht und sind frei.«
»Dann bin ich also frei«, sagte K. zögernd.
»Ja«, sagte der Maler, »aber
nur scheinbar frei oder, besser ausgedrückt, zeitweilig frei. Die untersten
Richter nämlich, zu denen meine Bekannten gehören, haben nicht das Recht,
endgültig freizusprechen, dieses Recht hat nur das oberste, für Sie, für
mich und für uns alle ganz unerreichbare Gericht. Wie es dort aussieht,
wissen wir nicht und wollen wir nebenbei gesagt, auch nicht wissen. Das
große Recht, von der Anklage zu befreien, haben also unsere Richter nicht,
wohl aber haben sie das Recht, von der Anklage loszulösen. Das heißt, wenn
Sie auf diese Weise freigesprochen werden, sind Sie für den Augenblick der
Anklage entzogen, aber sie schwebt auch weiterhin über Ihnen und kann,
sobald nur der höhere Befehl kommt, sofort in Wirkung treten. Da ich mit dem
Gericht in so guter Verbindung stehe, kann ich Ihnen auch sagen, wie sich in
den Vorschriften für die Gerichtskanzleien der Unterschied zwischen der
wirklichen und der scheinbaren Freisprechung rein äußerlich zeigt. Bei einer
wirklichen Freisprechung sollen die Prozessakten vollständig abgelegt
werden, sie verschwinden gänzlich aus dem Verfahren, nicht nur die Anklage,
auch der Prozess und sogar der Freispruch sind vernichtet, alles ist
vernichtet. Anders beim scheinbaren Freispruch. Mit dem Akt ist keine
weitere Veränderung vor sich gegangen, als dass er um die Bestätigung der
Unschuld, um den Freispruch und um die Begründung des Freispruchs bereichert
worden ist. Im übrigen aber bleibt er im Verfahren, er wird, wie es der
ununterbrochene Verkehr der Gerichtskanzleien erfordert, zu den höheren
Gerichten weitergeleitet, kommt zu den niedrigeren zurück und pendelt so mit
größeren und kleineren Schwingungen, mit größeren und kleineren Stockungen
auf und ab. Diese Wege sind unberechenbar. Von außen gesehen, kann es
manchmal den Anschein bekommen, dass alles längst vergessen, der Akt
verloren und der Freispruch ein vollkommener ist. Ein Eingeweihter wird das
nicht glauben. Es geht kein Akt verloren, es gibt bei Gericht kein
Vergessen. Eines Tages - niemand erwartet es - nimmt irgendein Richter den
Akt aufmerksamer in die Hand, erkennt, dass in diesem Fall die Anklage noch
lebendig ist, und ordnet die sofortige Verhaftung an. Ich habe hier
angenommen, dass zwischen dem scheinbaren Freispruch und der neuen
Verhaftung eine lange Zeit vergeht, das
[→HL 115] ist möglich, und ich weiß von
solchen Fällen, es ist aber ebenso gut möglich, dass der Freigesprochene vom
Gericht nach Hause kommt und dort schon Beauftragte warten, um ihn wieder zu
verhaften. Dann ist natürlich das freie Leben zu Ende.« »Und der Prozess
beginnt von neuem?« fragte K. fast ungläubig. »Allerdings«, sagte der Maler,
»der Prozess beginnt von neuem, es besteht aber wieder die Möglichkeit,
ebenso wie früher, einen scheinbaren Freispruch zu erwirken. Man muss wieder
alle Kräfte zusammennehmen und darf sich nicht ergeben.« Das letztere sagte
der Maler vielleicht unter dem Eindruck, den K., der ein wenig
zusammengesunken war, auf ihn machte.
»Ist aber«, fragte K., als
wolle er jetzt irgendwelchen Enthüllungen des Malers zuvorkommen, »die
Erwirkung eines zweiten Freispruchs nicht schwieriger als die des ersten?«
»Man kann«, antwortete der Maler, »in dieser Hinsicht nichts Bestimmtes
sagen. Sie meinen wohl, dass die Richter durch die zweite Verhaftung in
ihrem Urteil zuungunsten des Angeklagten beeinflusst werden? Das ist nicht
der Fall. Die Richter haben ja schon beim Freispruch diese Verhaftung
vorgesehen. Dieser Umstand wirkt also kaum ein. Wohl aber kann aus zahllosen
sonstigen Gründen die Stimmung der Richter sowie ihre rechtliche Beurteilung
des Falles eine andere geworden sein, und die Bemühungen um den zweiten
Freispruch müssen daher den veränderten Umständen angepasst werden und im
allgemeinen ebenso kräftig sein wie die vor dem ersten Freispruch.« »Aber
dieser zweite Freispruch ist doch wieder nicht endgültig«, sagte K. und
drehte abweisend den Kopf. »Natürlich nicht«, sagte der Maler, »dem zweiten
Freispruch folgt die dritte Verhaftung, dem dritten Freispruch die vierte
Verhaftung, und so fort. Das liegt schon im Begriff des scheinbaren
Freispruchs.« K. schwieg. »Der scheinbare Freispruch scheint Ihnen offenbar
nicht vorteilhaft zu sein«, sagte der Maler, »vielleicht entspricht Ihnen
die Verschleppung besser. Soll ich Ihnen das Wesen der Verschleppung
erklären?« K. nickte. Der Maler hatte sich breit in seinen Sessel
zurückgelehnt, das Nachthemd war weit offen, er hatte eine Hand daruntergeschoben, mit der er über die Brust und die Seiten strich. »Die
Verschleppung«, sagte der Maler und sah einen Augenblick vor sich hin, als
suche er eine vollständig zutreffende Erklärung, »die Verschleppung besteht
darin, dass der Prozess dauernd im niedrigsten Prozess-Stadium erhalten
wird. Um dies zu erreichen, ist es nötig, dass der Angeklagte und der
Helfer, insbesondere aber der Helfer in ununterbrochener persönlicher
Fühlung mit dem Gericht bleibt. Ich wiederhole, es ist hierfür kein solcher
Kraftaufwand nötig wie bei der Erreichung eines
[→HL 116] scheinbaren Freispruchs,
wohl aber ist eine viel größere Aufmerksamkeit nötig. Man darf den Prozess
nicht aus den Augen verlieren, man muss zu dem betreffenden Richter in
regelmäßigen Zwischenräumen und außerdem bei besonderen Gelegenheiten gehen
und ihn auf jede Weise sich freundlich zu erhalten suchen; ist man mit dem
Richter nicht persönlich bekannt, so muss man durch bekannte Richter ihn
beeinflussen lassen, ohne dass man etwa deshalb die unmittelbaren
Besprechungen aufgeben dürfte.
Versäumt man in dieser Hinsicht
nichts, so kann man mit genügender Bestimmtheit annehmen, dass der Prozess
über sein erstes Stadium nicht hinauskommt. Der Prozess hört zwar nicht auf,
aber der Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso gesichert, wie
wenn er frei wäre. Gegenüber dem scheinbaren Freispruch hat die
Verschleppung den Vorteil, dass die Zukunft des Angeklagten weniger
unbestimmt ist, er bleibt vor dem Schrecken der plötzlichen Verhaftungen
bewahrt und muss nicht fürchten, etwa gerade zu Zeiten, wo seine sonstigen
Umstände dafür am wenigsten günstig sind, die Anstrengungen und Aufregungen
auf sich nehmen zu müssen, welche mit der Erreichung des scheinbaren
Freispruchs verbunden sind. Allerdings hat auch die Verschleppung für den
Angeklagten gewisse Nachteile, die man nicht unterschätzen darf. Ich denke
hierbei nicht daran, dass hier der Angeklagte niemals frei ist, das ist er
ja auch bei der scheinbaren Freisprechung im eigentlichen Sinne nicht. Es
ist ein anderer Nachteil. Der Prozess kann nicht stillstehen, ohne dass
wenigstens scheinbare Gründe dafür vorliegen. Es muss deshalb im Prozess
nach außen hin etwas geschehen. Es müssen also von Zeit zu Zeit verschiedene
Anordnungen getroffen werden, der Angeklagte muss verhört werden,
Untersuchungen müssen stattfinden und so weiter. Der Prozess muss eben
immerfort in dem kleinen Kreis, auf den er künstlich eingeschränkt worden
ist, gedreht werden. Das bringt natürlich gewisse Unannehmlichkeiten für den
Angeklagten mit sich, die Sie sich aber wiederum nicht zu schlimm vorstellen
dürfen. Es ist ja alles nur äußerlich, die Verhöre beispielsweise sind also
nur ganz kurz, wenn man einmal keine Zeit oder keine Lust hat, hinzugehen,
darf man sich entschuldigen, man kann sogar bei gewissen Richtern die
Anordnungen für eine lange Zeit im voraus gemeinsam festsetzen, es handelt
sich im Wesen nur darum, dass man, da man Angeklagter ist, von Zeit zu Zeit
bei seinem Richter sich meldet.«
Schon während der letzten Worte
hatte K. den Rock über den Arm gelegt und war aufgestanden. »Er steht schon
auf!« rief es sofort draußen vor der Tür. »Sie wollen schon fortgehen?«
fragte der Maler, der auch aufgestanden war. »Es ist gewiss die
[→HL 117] Luft, die
Sie von hier vertreibt. Es ist mir sehr peinlich. Ich hätte Ihnen auch noch
manches zu sagen. Ich musste mich ganz kurz fassen. Ich hoffe aber,
verständlich gewesen zu sein.« »O ja«, sagte K., dem von der Anstrengung,
mit der er sich zum Zuhören gezwungen hatte, der Kopf schmerzte. Trotz
dieser Bestätigung sagte der Maler, alles noch einmal zusammenfassend, als
wolle er K. auf den Heimweg einen Trost mitgeben: »Beide Methoden haben das
Gemeinsame, dass sie eine Verurteilung des Angeklagten verhindern.« »Sie
verhindern aber auch die wirkliche Freisprechung«, sagte K. leise, als
schäme er sich, das erkannt zu haben. »Sie haben den Kern der Sache
erfasst«, sagte der Maler schnell. K. legte die Hand auf seinen Winterrock,
konnte sich aber nicht einmal entschließen, den Rock anzuziehen. Am liebsten
hätte er alles zusammengepackt und wäre damit an die frische Luft gelaufen.
Auch die Mädchen konnten ihn nicht dazu bewegen, sich anzuziehen, obwohl
sie, verfrüht, einander schon zuriefen, dass er sich anziehe. Dem Maler lag
daran, K.s Stimmung irgendwie zu deuten, er sagte deshalb: »Sie haben sich
wohl hinsichtlich meiner Vorschläge noch nicht entschieden. Ich billige das.
Ich hätte Ihnen sogar davon abgeraten, sich sofort zu entscheiden. Die
Vorteile und Nachteile sind haarfein. Man muss alles genau abschätzen.
Allerdings darf man auch nicht zuviel Zeit verlieren.« »Ich werde bald
wiederkommen«, sagte K., der in einem plötzlichen Entschluss den Rock anzog,
den Mantel über die Schulter warf und zur Tür eilte, hinter der jetzt die
Mädchen zu schreien anfingen. K.
glaubte, die schreienden Mädchen durch die
Tür zu sehen. »Sie müssen aber Wort halten«, sagte der Maler, der ihm nicht
gefolgt war, »sonst komme ich in die Bank, um selbst nachzufragen.« »Sperren
Sie doch die Tür auf«, sagte K. und riss an der Klinke, die die Mädchen, wie
er an dem Gegendruck merkte, draußen festhielten.
»Wollen Sie von den Mädchen
belästigt werden?« fragte der Maler. »Benützen Sie doch lieber diesen
Ausgang«, und er zeigte auf die Tür hinter dem Bett. K. war damit
einverstanden und sprang zum Bett zurück. Aber statt die Tür dort zu öffnen,
kroch der Maler unter das Bett und fragte von unten: »Nur noch einen
Augenblick; wollen Sie nicht noch ein Bild sehen, das ich Ihnen verkaufen
könnte?« K. wollte nicht unhöflich sein, der Maler hatte sich wirklich
seiner angenommen und versprochen, ihm weiterhin zu helfen, auch war infolge
der Vergesslichkeit K.s über die Entlohnung für die Hilfe noch gar nicht
gesprochen worden, deshalb konnte ihn K. jetzt nicht abweisen und ließ sich
das Bild zeigen, wenn er auch vor Ungeduld zitterte, aus dem Atelier
wegzukommen. Der Maler zog unter dem Bett einen Haufen unge-[→HL
118]rahmter Bilder
hervor, die so mit Staub bedeckt waren, dass dieser, als ihn der Maler vom
obersten Bild wegzublasen suchte, längere Zeit atemraubend K. vor den Augen
wirbelte. »Eine Heidelandschaft«, sagte der Maler und reichte K. das Bild.
Es stellte zwei schwache Bäume dar, die weit voneinander entfernt im dunklen
Gras standen. Im Hintergrund war ein vielfarbiger Sonnenuntergang. »Schön«,
sagte K., »ich kaufe es.« K. hatte unbedacht sich so kurz geäußert, er war
daher froh, als der Maler, statt dies übel zu nehmen, ein zweites Bild vom
Boden aufhob. »Hier ist ein Gegenstück zu diesem Bild«, sagte der Maler. Es
mochte als Gegenstück beabsichtigt sein, es war aber nicht der geringste
Unterschied gegenüber dem ersten Bild zu merken, hier waren die Bäume, hier
das Gras und dort der Sonnenuntergang. Aber K. lag wenig daran. »Es sind
schöne Landschaften«, sagte er, »ich kaufe beide und werde sie in meinem
Bureau aufhängen.« »Das Motiv scheint Ihnen zu gefallen«, sagte der Maler und
holte ein drittes Bild herauf, »es trifft sich gut, dass ich noch ein
ähnliches Bild hier habe.« Es war aber nicht ähnlich, es war vielmehr die
völlig gleiche Heidelandschaft. Der Maler nützte diese Gelegenheit, alte
Bilder zu verkaufen, gut aus. »Ich nehme auch dieses noch«, sagte K. »wie
viel kosten die drei Bilder?« »Darüber werden wir nächstens sprechen«, sagte
der Maler. »Sie haben jetzt Eile, und wir bleiben doch in Verbindung. Im
übrigen freut es mich, dass Ihnen die Bilder gefallen, ich werde Ihnen alle
Bilder mitgeben, die ich hier unten habe. Es sind lauter Heidelandschaften,
ich habe schon viele Heidelandschaften gemalt. Manche Leute weisen solche
Bilder ab, weil sie zu düster sind, andere aber, und Sie gehören zu ihnen,
lieben gerade das Düstere.« Aber K. hatte jetzt keinen Sinn für die
beruflichen Erfahrungen des Bettelmalers. »Packen Sie alle Bilder ein!« rief
er, dem Maler in die Rede fallend, »morgen kommt mein Diener und wird sie
holen.« »Es ist nicht nötig«, sagte der Maler. »Ich hoffe, ich werden Ihnen
einen Träger verschaffen können, der gleich mit Ihnen gehen wird.« Und er
beugte sich endlich über das Bett und sperrte die Tür auf. »Steigen Sie ohne
Scheu auf das Bett«, sagte der Maler, »das tut jeder, der hier hereinkommt.«
K. hätte auch ohne diese Aufforderung keine Rücksicht genommen, er hatte
sogar schon einen Fuß mitten auf das Federbett gesetzt, da sah er durch die
offene Tür hinaus und zog den Fuß wieder zurück. »Was ist das?« fragte er
den Maler. »Worüber staunen Sie?« fragte dieser, seinerseits staunend. »Es
sind die Gerichtskanzleien. wussten Sie nicht, dass hier Gerichtskanzleien
sind? Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dachboden, warum sollten
sie gerade hier fehlen? Auch mein Atelier gehört eigentlich
[→HL 119]
zu den
Gerichtskanzleien, das Gericht hat es mir aber zur Verfügung gestellt.« K.
erschrak nicht so sehr darüber, dass er auch hier Gerichtskanzleien gefunden
hatte, er erschrak hauptsächlich über sich, über seine Unwissenheit in
Gerichtssachen. Als eine Grundregel für das Verhalten eines Angeklagten
erschien es ihm, immer vorbereitet zu sein, sich niemals überraschen zu
lassen, nicht ahnungslos nach rechts zu schauen, wenn links der Richter
neben ihm stand - und gerade gegen diese Grundregel verstieß er immer
wieder. Vor ihm dehnte sich ein langer Gang, aus dem eine Luft wehte, mit
der verglichen die Luft im Atelier erfrischend war. Bänke waren zu beiden
Seiten des Ganges aufgestellt, genau so wie im Wartezimmer der Kanzlei, die
für K. zuständig war.
Es schienen genaue Vorschriften
für die Einrichtung von Kanzleien zu bestehen. Augenblicklich war der
Parteienverkehr hier nicht sehr groß. Ein Mann saß dort halb liegend, das
Gesicht hatte er auf der Bank in seine Arme vergraben und schien zu
schlafen; ein anderer stand im Halbdunkel am Ende des Ganges. K. stieg nun
über das Bett, der Maler folgte ihm mit den Bildern. Sie trafen bald einen
Gerichtsdiener - K. erkannte jetzt schon alle Gerichtsdiener an dem
Goldknopf, den diese an ihrem Zivilanzug unter den gewöhnlichen Knöpfen
hatten - und der Maler gab ihm den Auftrag, K. mit den Bildern zu begleiten.
K. wankte mehr, als er ging, das Taschentuch hielt er an den Mund gedrückt.
Sie waren schon nahe am Ausgang, da stürmten ihnen die Mädchen entgegen, die
also K. auch nicht erspart geblieben waren. Sie hatten offenbar gesehen,
dass die zweite Tür des Ateliers geöffnet worden war und hatten den Umweg
gemacht, um von dieser Seite einzudringen. »Ich kann Sie nicht mehr
begleiten!« rief der Maler lachend unter dem Andrang der Mädchen. »Auf
Wiedersehen! Und überlegen Sie nicht zu lange!« K. sah sich nicht einmal
nach ihm um. Auf der Gasse nahm er den ersten Wagen, der ihm in den Weg kam.
Es lag ihm daran, den Diener loszuwerden, dessen Goldknopf ihm unaufhörlich
in die Augen stach, wenn er auch sonst wahrscheinlich niemanden auffiel. In
seiner Dienstfertigkeit wollte sich der Diener noch auf den Kutschbock
setzen. K. jagte ihn aber hinunter. Mittag war schon längst vorüber, als K.
vor der Bank ankam. Er hätte gern die Bilder im Wagen gelassen, fürchtete
aber, bei irgendeiner Gelegenheit genötigt zu werden, sich dem Maler
gegenüber mit ihnen auszuweisen. Er ließ sie daher in sein Bureau schaffen und
versperrte sie in die unterste Lade seines Tisches, um sie wenigstens für
die allernächsten Tage vor den Blicken des Direktor-Stellvertreters in
Sicherheit zu bringen. [→HL 120]
KAUFMANN BLOCK -
KÜNDIGUNG DES ADVOKATEN
Endlich hatte sich K. doch
entschlossen, dem Advokaten seine Vertretung zu entziehen. Zweifel daran, ob
es richtig war, so zu handeln, waren zwar nicht auszurotten, aber die
Überzeugung von der Notwendigkeit dessen überwog. Die Entschließung hatte K.
an dem Tage, an dem er zum Advokaten gehen wollte, viel Arbeitskraft
entzogen, er arbeitete besonders langsam, er musste sehr lange im Bureau
bleiben, und es war schon zehn Uhr vorüber, als er endlich vor der Tür des
Advokaten stand. Noch ehe er läutete, überlegte er, ob es nicht besser wäre,
dem Advokaten telephonisch oder brieflich zu kündigen, die persönliche
Unterredung würde gewiss sehr peinlich werden. Trotzdem wollte K.
schließlich auf sie nicht verzichten, bei jeder anderen Art der Kündigung
würde diese stillschweigend oder mit ein paar förmlichen Worten angenommen
werden, und K. würde, wenn nicht etwa Leni einiges erforschen könnte,
niemals erfahren, wie der Advokat die Kündigung aufgenommen hatte und was
für Folgen für K. diese Kündigung nach der nicht unwichtigen Meinung des
Advokaten haben könnte. Saß aber der Advokat K. gegenüber und wurde er von
der Kündigung überrascht, so würde K., selbst wenn der Advokat sich nicht
viel entlocken ließ, aus seinem Gesicht und seinem Benehmen alles, was er
wollte, leicht entnehmen können. Es war sogar nicht ausgeschlossen, dass er
überzeugt wurde, dass es doch gut wäre, dem Advokaten die Verteidigung zu
überlassen und dass er dann seine Kündigung zurückzog.
Das erste Läuten an der Tür des Advokaten war, wie gewöhnlich, zwecklos.
»Leni könnte flinker sein«, dachte K. Aber es war schon ein Vorteil, wenn
sich nicht die andere Partei einmischte, wie sie es gewöhnlich tat, sei es,
dass der Mann im Schlafrock oder sonst jemand zu belästigen anfing. Während
K. zum zweiten Mal den Knopf drückte, sah er nach der anderen Tür zurück,
diesmal aber blieb auch sie geschlossen. Endlich erschienen an dem
Guckfenster der Tür des Advokaten zwei Augen, es waren aber nicht Lenis
Augen. Jemand schloss die Tür auf, stemmte sich aber vorläufig noch gegen
sie, rief in die Wohnung zurück: »Er ist es!« und öffnete erst dann
vollständig. K. hatte gegen die Tür gedrängt, denn schon hörte er, wie
hinter ihm in der Tür der anderen Wohnung der
Schlüssel hastig im Schloss
gedreht wurde. Als sich daher die Tür vor ihm endlich öffnete,
stürmte er
geradezu ins Vorzimmer und sah noch, wie durch den Gang, der zwischen den
Zimmern hindurchführte, Leni, welcher der Warnungsruf des
[→HL 121] Türöffners
gegolten hatte, im Hemd davonlief. Er blickte ihr ein Weilchen nach und sah
sich dann nach dem Türöffner um. Es war ein
kleiner, dürrer Mann mit
Vollbart, er hielt eine Kerze in der Hand. »Sie sind hier angestellt?«
fragte K. »Nein«, antwortete der Mann, »ich bin hier fremd, der Advokat ist
nur mein Vertreter, ich bin hier wegen einer Rechtsangelegenheit.« »Ohne
Rock?« fragte K. und zeigte mit einer Handbewegung auf die mangelhafte
Bekleidung des Mannes. »Ach, verzeihen Sie!« sagte der Mann und beleuchtete
sich selbst mit der Kerze, als sähe er selbst zum ersten Mal seinen Zustand.
»Leni ist Ihre Geliebte?« fragte K. kurz. Er hatte die
Beine ein wenig
gespreizt, die Hände, in denen er den Hut hielt, hinten verschlungen. Schon
durch den Besitz eines starken Überrocks fühlte er sich
dem mageren Kleinen
sehr überlegen. »O Gott«, sagte der und hob die eine Hand in erschrockener
Abwehr vor das Gesicht, »nein, nein, was denken Sie denn?« »Sie sehen
glaubwürdig aus«, sagte K. lächelnd, »trotzdem - kommen Sie.« Er winkte ihm
mit dem Hut und ließ ihn vor sich gehen. »Wie heißen Sie denn?« fragte K.
auf dem Weg. »Block, Kaufmann Block«, sagte der Kleine und drehte sich bei
dieser Vorstellung nach K. um,
stehen bleiben ließ ihn aber K. nicht. »Ist
das Ihr wirklicher Name?« fragte K. »Gewiss«, war die Antwort, »warum haben
Sie denn Zweifel?« »Ich dachte, Sie könnten Grund haben, Ihren Namen zu
verschweigen«, sagte K. Er fühlte sich so frei, wie man es sonst nur ist,
wenn man in der Fremde mit niedrigen Leuten spricht, alles, was einen selbst
betrifft, bei sich behält, nur gleichmütig von den Interessen der anderen
redet, sie dadurch vor sich selbst erhöht, aber auch nach Belieben fallen
lassen kann. Bei der Tür des Arbeitszimmers des Advokaten blieb K. stehen,
öffnete sie und rief dem Kaufmann, der folgsam weitergegangen war, zu:
»Nicht so eilig! Leuchten Sie hier!«
K. dachte, Leni könnte sich hier
versteckt haben, er ließ den Kaufmann alle Winkel absuchen, aber das Zimmer
war leer. Vor dem Bild des Richters hielt K. den Kaufmann
hinten an den
Hosenträgern zurück. »Kennen Sie den?« fragte er und zeigte mit dem
Zeigefinger in die Höhe. Der Kaufmann hob die Kerze, sah blinzelnd hinauf
und sagte: »Es ist ein Richter.« »Ein hoher Richter?« fragte K. und stellte
sich seitlich vor den Kaufmann, um den Eindruck, den das Bild auf ihn
machte, zu beobachten. Der Kaufmann sah bewundernd aufwärts. »Es ist ein
hoher Richter«, sagte er. »Sie haben keinen großen Einblick«, sagte K.
»Unter den niedrigen Untersuchungsrichtern ist er der niedrigste.«
»Nun erinnere ich mich«, sagte
der Kaufmann und senkte die Kerze, »ich habe es auch schon gehört.« »Aber
natürlich«, rief K., »ich vergaß ja,[→HL
122] natürlich müssen Sie es schon gehört
haben.« »Aber warum denn, warum denn?« fragte der Kaufmann, während er sich,
von K. mit den Händen angetrieben, zur Tür fortbewegte.
Draußen auf dem Gang
sagte K.: »Sie wissen doch, wo sich Leni versteckt hat?« »Versteckt?« sagte
der Kaufmann, »nein, sie dürfte aber in der Küche sein und dem Advokaten
eine Suppe kochen.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« fragte K.
»Ich wollte Sie ja hinführen, Sie haben mich aber wieder zurückgerufen«,
antwortete der Kaufmann, wie verwirrt durch die widersprechenden Befehle.
»Sie glauben wohl sehr schlau zu sein«, sagte K., »führen Sie mich also!« In
der Küche war K. noch nie gewesen, sie war überraschend groß und reich
ausgestattet. Allein der Herd war dreimal so groß wie gewöhnliche Herde, von
dem übrigen sah man keine Einzelheiten, denn die Küche wurde jetzt nur von
einer kleinen Lampe beleuchtet, die beim Eingang hing.
Am Herd stand Leni
in
weißer Schürze, wie immer, und leerte Eier in einen Topf aus, der auf einem
Spiritusfeuer stand. »Guten Abend, Josef«, sagte sie mit einem Seitenblick.
»Guten Abend«, sagte K. und
zeigte mit einer Hand auf einen abseits stehenden Sessel, auf den sich der
Kaufmann setzen sollte, was dieser auch tat. K. aber ging ganz nahe hinter
Leni, beugte sich über ihre Schulter und fragte: »Wer ist der Mann?« Leni
umfasste K. mit einer Hand, die andere quirlte die Suppe, zog ihn nach vorn
zu sich und sagte: »Es ist ein bedauernswerter Mensch, ein armer Kaufmann,
ein gewisser Block. Sieh ihn nur an.« Sie blickten beide zurück. Der
Kaufmann saß auf dem Sessel, auf den ihn K. gewiesen hatte, er hatte die
Kerze, deren Licht jetzt unnötig war, ausgepustet und drückte mit den
Fingern den Docht, um den Rauch zu verhindern. »Du warst im Hemd«, sagte K.
und wendete ihren Kopf mit der Hand wieder dem Herd zu. Sie schwieg. »Er ist
dein Geliebter?« fragte K. Sie wollte nach dem Suppentopf greifen, aber K.
nahm ihre beiden Hände und sagte: »Nun antworte!« Sie sagte: »Komm ins
Arbeitszimmer, ich werde dir alles erklären.« »Nein«, sagte K., »ich will,
dass du es hier erklärst.« Sie hing sich an ihn und wollte ihn küssen. K.
wehrte sie aber ab und sagte: »Ich will nicht, dass du mich jetzt küsst.«
»Josef«, sagte Leni und sah K. bittend und doch offen in die Augen, »du
wirst doch nicht auf Herrn Block eifersüchtig sein. -
Rudi«, sagte sie dann,
sich an den Kaufmann wendend, »so hilf mir doch, du siehst, ich werde
verdächtigt, lass die Kerze.«
Man hätte denken können, er hätte nicht Acht
gegeben, aber er war vollständig eingeweiht. »Ich wüsste auch nicht, warum
Sie eifersüchtig sein sollten«, sagte er wenig schlagfertig. »Ich weiß es
eigentlich auch nicht«, sagte K. und sah den Kaufmann lächelnd an.[→HL
123] Leni
lachte laut, benützte die Unaufmerksamkeit K.s, um sich in seinen Arm
einzuhängen, und flüsterte: »lass ihn jetzt,
du siehst ja, was für ein
Mensch er ist.
Ich habe mich seiner ein wenig angenommen, weil er eine große
Kundschaft des Advokaten ist, aus keinem andern Grund. Und du? Willst du
noch heute mit dem Advokaten sprechen? Er ist heute sehr krank, aber wenn du
willst, melde ich dich doch an.
Über Nacht bleibst du aber bei mir, ganz
gewiss. Du warst auch schon so lange nicht bei uns, selbst der Advokat hat
nach dir gefragt.
Vernachlässige den Prozess nicht! Auch ich habe dir
Verschiedenes mitzuteilen, was ich erfahren habe. Nun aber zieh fürs erste
deinen Mantel aus!« Sie half ihm, sich auszuziehen, nahm ihm den Hut ab,
lief mit den Sachen ins Vorzimmer, sie anzuhängen, lief dann wieder zurück
und sah nach der Suppe. »Soll ich zuerst dich anmelden oder ihm zuerst die
Suppe bringen?« »Melde mich zuerst an«, sagte K. Er war ärgerlich, er hatte
ursprünglich
beabsichtigt, mit Leni seine Angelegenheit, insbesondere die
fragliche Kündigung genau zu besprechen, die Anwesenheit des Kaufmanns hatte
ihm aber die Lust dazu genommen. Jetzt aber hielt er seine Sache doch für zu
wichtig, als dass dieser kleine Kaufmann vielleicht entscheidend eingreifen
sollte, und so rief er Leni, die schon auf dem Gang war, wieder zurück.
»Bring ihm doch zuerst die Suppe«, sagte er, »er soll sich für die
Unterredung mit mir stärken, er wird es nötig haben.« »Sie sind auch ein
Klient des Advokaten«, sagte, wie zur Feststellung, der Kaufmann leise aus
seiner Ecke. Es wurde aber nicht gut aufgenommen. »Was kümmert Sie denn
das?« sagte K., und Leni sagte: »Wirst du still sein. - Dann bringe ich ihm
also zuerst die Suppe«, sagte Leni zu K. und goss die Suppe auf einen
Teller. »Es ist dann nur zu befürchten, dass er bald einschläft, nach dem
Essen schläft er bald ein.« »Das, was ich ihm sagen werde, wird ihn wach
erhalten«, sagte K., er wollte immerfort durchblicken lassen, dass er etwas
Wichtiges mit dem Advokaten zu verhandeln beabsichtige,
er wollte von Leni
gefragt werden, was es sei, und dann erst sie um Rat fragen. Aber sie
erfüllte pünktlich bloß die ausgesprochenen Befehle. Als sie mit der Tasse
an ihm vorüberging, stieß sie absichtlich sanft an ihn und flüsterte: »Wenn
er die Suppe gegessen hat, melde ich dich gleich an, damit ich dich
möglichst bald wiederbekomme.« »Geh nur«, sagte K., »geh nur.« »Sei doch
freundlicher«, sagte sie und
drehte sich in der Tür mit der Tasse nochmals
ganz um.
K. sah ihr nach; nun war es
endgültig beschlossen, dass der Advokat entlassen würde,
es war wohl auch
besser, dass er vorher mit Leni nicht mehr darüber sprechen konnte; sie
hatte kaum den [→HL 124]
genügenden Überblick über das Ganze, hätte gewiss abgeraten,
hätte möglicherweise K. auch wirklich von der Kündigung diesmal abgehalten,
er wäre weiterhin in Zweifel und Unruhe geblieben, und schließlich hätte er
nach einiger Zeit seinen Entschluss doch ausgeführt, denn dieser Entschluss
war allzu zwingend. Je früher er aber ausgeführt wurde, desto mehr Schaden
wurde abgehalten. Vielleicht wusste übrigens der Kaufmann etwas darüber zu
sagen. K. wandte sich um, kaum bemerkte das der Kaufmann, als er sofort
aufstehen wollte. »Bleiben Sie sitzen«, sagte K. und zog einen Sessel neben
ihn. »Sind Sie schon ein alter Klient des Advokaten?« fragte K. »Ja«, sagte
der Kaufmann, »ein sehr alter Klient.« »wie viel Jahre vertritt er Sie denn
schon?« fragte K. »Ich weiß nicht, wie Sie es meinen«, sagte der Kaufmann,
»in geschäftlichen Rechtsangelegenheiten - ich habe ein Getreidegeschäft
-
vertritt mich der Advokat schon, seit ich das Geschäft übernommen habe, also
etwa seit zwanzig Jahren, in meinem eigenen Prozess, auf den Sie
wahrscheinlich anspielen, vertritt er mich auch seit Beginn, es ist schon
länger als fünf Jahre. Ja, weit über fünf Jahre«, fügte er dann hinzu und
zog eine alte Brieftasche hervor, »hier habe ich alles aufgeschrieben; wenn
Sie wollen, sage ich Ihnen die genauen Daten. Es ist schwer, alles zu
behalten. Mein Prozess dauert wahrscheinlich schon viel länger, er begann
kurz nach dem Tod meiner Frau, und das ist schon länger als fünfeinhalb
Jahre.« K. rückte näher zu ihm. »Der Advokat übernimmt also auch gewöhnliche
Rechtssachen?« fragte er. Diese Verbindung der Gerichte und
Rechtswissenschaften schien K. ungemein beruhigend. »Gewiss«, sagte der
Kaufmann und flüsterte dann K. zu: »Man sagt sogar, dass er in diesen
Rechtssachen tüchtiger ist als in den anderen.« Aber dann schien er das
Gesagte zu bereuen, er legte K. eine Hand auf die Schulter und sagte:
»Ich
bitte Sie sehr, verraten Sie mich nicht.« K. klopfte ihm zur Beruhigung auf
den Schenkel und sagte: »Nein, ich bin kein Verräter.« »Er ist nämlich
rachsüchtig«, sagte der Kaufmann.
»Gegen einen
so treuen Klienten
wird er gewiss nichts tun«, sagte K. »O doch«, sagte der Kaufmann, »wenn er
aufgeregt ist, kennt er keine Unterschiede, übrigens
bin ich ihm nicht
eigentlich treu.« »Wieso denn nicht?« fragte K. »Soll ich es Ihnen
anvertrauen?« fragte der Kaufmann zweifelnd. »Ich denke, Sie dürfen es«,
sagte K. »Nun«, sagte der Kaufmann, »ich werde es Ihnen zum Teil
anvertrauen, Sie müssen mir aber auch ein Geheimnis sagen, damit wir uns
gegenüber dem Advokaten gegenseitig festhalten.« »Sie sind sehr vorsichtig«,
sagte K., »aber ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen, das Sie vollstän-[→HL
125]dig
beruhigen wird. Worin besteht also Ihre Untreue gegenüber dem Advokaten?«
»Ich habe«, sagte der Kaufmann zögernd und in einem Ton, als gestehe er
etwas Unehrenhaftes ein, »ich habe außer ihm noch andere Advokaten.« »Das
ist doch nichts so Schlimmes«, sagte K., ein wenig enttäuscht. »Hier ja«,
sagte der Kaufmann, der noch seit seinem Geständnis schwer atmete, infolge K.s Bemerkung aber mehr Vertrauen fasste. »Es ist nicht erlaubt. Und
am
allerwenigsten ist es erlaubt, neben einem so genannten Advokaten auch noch
Winkeladvokaten zu nehmen. Und gerade das habe ich getan, ich habe außer ihm
noch fünf Winkeladvokaten.« »Fünf!« rief K., erst die Zahl setzte ihn in
Erstaunen, »fünf Advokaten außer diesem?« Der Kaufmann nickte: »Ich
verhandle gerade noch mit einem sechsten.« »Aber wozu brauchen Sie denn
soviel Advokaten?« fragte K. »Ich brauche alle«, sagte der Kaufmann. »Wollen
Sie mir das nicht erklären?« fragte K. »Gern«, sagte der Kaufmann. »Vor
allem will ich doch meinen Prozess nicht verlieren, das ist doch
selbstverständlich. Infolgedessen darf ich nichts, was mir nützen könnte,
außer acht lassen; selbst wenn die Hoffnung auf Nutzen in einem bestimmten
Falle nur ganz gering ist, darf ich sie auch nicht verwerfen.
Ich habe
deshalb alles, was ich besitze, auf den Prozess verwendet. So habe ich zum
Beispiel alles Geld meinem Geschäft entzogen, früher füllten die Bureauräume
meines Geschäfts fast ein Stockwerk, heute genügt eine kleine Kammer im
Hinterhaus, wo ich mit einem Lehrjungen arbeite.
Diesen Rückgang hat natürlich
nicht nur die Entziehung des Geldes verschuldet, sondern mehr noch die
Entziehung meiner Arbeitskraft.
Wenn man für seinen Prozess etwas tun will,
kann man sich mit anderem nur wenig befassen.« »Sie arbeiten also auch
selbst bei Gericht?« fragte K. »Gerade darüber möchte ich gern etwas
erfahren.«
»Darüber kann ich nur wenig
berichten«, sagte der Kaufmann, »anfangs habe ich es wohl auch versucht,
aber ich habe bald wieder davon abgelassen. Es ist zu erschöpfend und
bringt
nicht viel Erfolg. Selbst dort zu arbeiten und zu unterhandeln, hat sich
wenigstens für mich als ganz unmöglich erwiesen. Es ist ja dort schon
das
bloße Sitzen und Warten eine große Anstrengung.
Sie kennen ja selbst die
schwere Luft in den Kanzleien.« »Wieso wissen Sie denn, dass ich dort war?«
fragte K. »Ich war gerade im Wartezimmer, als Sie durchgingen.« »Was für ein
Zufall das ist!« rief K.,
ganz hingenommen und die frühere Lächerlichkeit
des Kaufmanns ganz vergessend.
»Sie haben mich also gesehen!
Sie waren im Wartezimmer, als ich durchging. Ja, ich bin dort einmal
durchgegangen.« »Es ist kein so großer Zufall«, sagte der Kaufmann, »ich bin
dort fast jeden Tag.«[→HL
126] »Ich werde nun wahrscheinlich auch öfters hingehen
müssen«, sagte K., »nur werde ich wohl kaum mehr so ehrenvoll aufgenommen
werden wie damals. Alle standen auf. Man dachte wohl, ich sei ein Richter.«
»Nein«, sagte der Kaufmann, »wir grüßten damals den Gerichtsdiener. dass Sie
ein Angeklagter sind, das wussten wir. Solche Nachrichten verbreiten sich
sehr rasch.« »Das wussten Sie also schon«, sagte K., »dann erschien Ihnen
aber mein Benehmen vielleicht hochmütig. Sprach man sich nicht darüber aus?«
»Nein«, sagte der Kaufmann, »im Gegenteil.
Aber das sind Dummheiten.« »Was
für Dummheiten denn?« fragte K. »Warum fragen Sie danach?« sagte der
Kaufmann ärgerlich. »Sie scheinen die Leute dort noch nicht zu kennen und
werden es vielleicht unrichtig auffassen. Sie müssen bedenken,
dass in
diesem Verfahren immer wieder viele Dinge zur Sprache kommen, für die der
Verstand nicht mehr ausreicht,
man ist einfach zu müde und abgelenkt für
vieles, und zum Ersatz verlegt man sich auf den Aberglauben. Ich rede von
den anderen, bin aber selbst gar nicht besser. Ein solcher
Aberglaube ist es
zum Beispiel, dass viele aus dem Gesicht des Angeklagten, insbesondere aus
der Zeichnung der Lippen, den Ausgang des Prozesses erkennen wollen. Diese
Leute also haben behauptet,
Sie würden, nach Ihren Lippen zu schließen,
gewiss und bald verurteilt werden. Ich wiederhole, es ist ein lächerlicher
Aberglaube und in den meisten Fällen durch die Tatsachen auch vollständig
widerlegt,
aber wenn man in jener Gesellschaft lebt, ist es schwer, sich
solchen Meinungen zu entziehen. Denken Sie nur, wie stark dieser Aberglaube
wirken kann.
Sie haben doch einen dort angesprochen, nicht? Er konnte Ihnen
aber kaum antworten. Es gibt natürlich viele Gründe, um dort verwirrt zu
sein, aber einer davon war auch der Anblick Ihrer Lippen. Er hat später
erzählt, er hätte
auf Ihren Lippen auch das Zeichen seiner eigenen
Verurteilung zu sehen geglaubt.« »Meine Lippen?« fragte K., zog einen
Taschenspiegel hervor und sah sich an. »Ich kann an meinen Lippen nichts
Besonderes erkennen. Und Sie?« »Ich auch nicht«, sagte der Kaufmann, »ganz
und gar nicht.« »Wie abergläubisch diese Leute sind!« rief K. aus. »Sagte
ich es nicht?« fragte der Kaufmann. »Verkehren sie denn soviel untereinander
und tauschen sie ihre Meinungen aus?« sagte K. »Ich habe mich bisher ganz
abseits gehalten.« »Im
allgemeinen verkehren sie nicht miteinander«, sagte
der Kaufmann, »das wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es gibt auch
wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein
gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich
bald als ein Irrtum.
Gemeinsam lässt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird
für [→HL 127]
sich untersucht,
es ist ja das sorgfältigste Gericht.
Gemeinsam kann man
also nichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im
Geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es die anderen;
keiner weiß,
wie es geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit,
man kommt zwar hie
und da in den Wartezimmern zusammen, aber dort wird wenig besprochen.
Die
abergläubischen Meinungen bestehen schon seit alters her und vermehren sich
förmlich von selbst.«
»Ich sah die Herren dort im
Wartezimmer«, sagte K., »ihr Warten kam mir so nutzlos vor.« »Das Warten ist
nicht nutzlos«, sagte der Kaufmann, »nutzlos ist nur das selbständige
Eingreifen. Ich sagte schon, dass ich jetzt außer diesem noch fünf Advokaten
habe. Man sollte doch glauben - ich selbst glaubte es zuerst -, jetzt könnte
ich ihnen die Sache vollständig überlassen. Das wäre aber ganz falsch.
Ich
kann sie ihnen weniger überlassen, als wenn ich nur einen hätte. Sie
verstehen das wohl nicht?«
»Nein«, sagte K. und legte, um
den Kaufmann an seinem allzu schnellen Reden zu hindern, die Hand beruhigend
auf seine Hand, »ich möchte Sie nur bitten, ein wenig langsamer zu reden,
es
sind doch lauter für mich sehr wichtige Dinge, und ich kann Ihnen nicht
recht folgen.« »Gut, dass Sie mich daran erinnern«, sagte der Kaufmann, »Sie
sind ja ein Neuer, ein Junger. Ihr Prozess ist ein halbes Jahr alt, nicht
wahr? Ja, ich habe davon gehört. Ein so junger Prozess! Ich aber habe diese
Dinge schon unzählige Mal durchgedacht, sie sind mir das
Selbstverständlichste auf der Welt.« »Sie sind wohl froh, dass Ihr Prozess
schon so weit fortgeschritten ist?« fragte K., er wollte nicht geradezu
fragen, wie die Angelegenheiten des Kaufmanns stünden. Er bekam aber auch
keine deutliche Antwort. »Ja,
ich habe meinen Prozess fünf Jahre lang
fortgewälzt«, sagte der Kaufmann und senkte den Kopf, »es ist keine kleine
Leistung.«
Dann schwieg er ein Weilchen.
K. horchte, ob Leni nicht schon komme. Einerseits wollte er nicht, dass sie
komme, denn er hatte noch vieles zu fragen und
wollte auch nicht von Leni in
diesem vertraulichen Gespräch mit dem Kaufmann angetroffen werden,
andererseits aber
ärgerte er sich darüber, dass sie trotz seiner Anwesenheit
so lange beim Advokaten blieb, viel länger, als zum Reichen der Suppe nötig
war. »Ich erinnere mich noch an die Zeit genau«, begann der Kaufmann wieder,
und K. war gleich voll Aufmerksamkeit, »als mein Prozess etwa so alt war wie
jetzt Ihr Prozess. Ich hatte damals nur diesen Advokaten, war aber nicht
sehr mit ihm zufrieden.«
Hier erfahre ich ja alles, dachte K. und nickte
lebhaft mit dem Kopf, als könne er dadurch den Kaufmann aufmuntern, alles
Wissenswerte zu sagen. »Mein Prozess«, fuhr der Kaufmann fort, »kam nicht
[→HL 128]
vorwärts, es fanden zwar Untersuchungen statt, ich kam auch zu jeder,
sammelte Material, erlegte alle meine Geschäftsbücher bei Gericht, was, wie
ich später erfuhr, nicht einmal nötig war,
ich lief immer wieder zum
Advokaten, er brachte auch verschiedene Eingaben ein -.« »Verschiedene
Eingaben?« fragte K. »Ja, gewiss«, sagte der Kaufmann. »Das ist mir sehr
wichtig«, sagte K., »in meinem Fall arbeitet er noch immer an der ersten
Eingabe. Er hat noch nichts getan. Ich sehe jetzt, er vernachlässigt mich
schändlich.« »Dass die Eingabe noch nicht fertig ist, kann verschiedene
berechtigte Gründe haben«, sagte der Kaufmann. »Übrigens hatte es sich
bei
meinen Eingaben später gezeigt, dass sie ganz wertlos waren. Ich habe sogar
eine durch das Entgegenkommen eines Gerichtsbeamten selbst gelesen. Sie war
zwar gelehrt, aber eigentlich inhaltlos. Vor allem sehr viel Latein, das ich
nicht verstehe, dann seitenlange allgemeine Anrufungen des Gerichtes, dann
Schmeicheleien für einzelne bestimmte Beamte, die zwar nicht genannt waren,
die aber ein Eingeweihter jedenfalls erraten musste, dann
Selbstlob des
Advokaten, wobei er sich auf geradezu hündische Weise vor dem Gericht
demütigte, und endlich Untersuchungen von Rechtsfällen aus alter Zeit, die
dem meinigen ähnlich sein sollten. Diese Untersuchungen waren allerdings,
soweit ich ihnen folgen konnte, sehr sorgfältig gemacht. Ich will auch mit
diesem allen kein Urteil über die Arbeit des Advokaten abgeben, auch war die
Eingabe, die ich gelesen habe, nur eine unter mehreren, jedenfalls aber, und
davon will ich jetzt sprechen,
konnte ich damals in meinem Prozess keinen
Fortschritt sehen.« »Was für einen Fortschritt wollten Sie denn sehen?«
fragte K. »Sie fragen ganz vernünftig«, sagte der Kaufmann lächelnd, »man
kann in diesem Verfahren nur selten Fortschritte sehen. Aber damals wusste
ich das nicht. Ich bin Kaufmann und war es damals noch viel mehr als heute,
ich wollte greifbare Fortschritte haben, das Ganze sollte sich zum Ende
neigen oder wenigstens den regelrechten Aufstieg nehmen.
Statt dessen gab es
nur Einvernehmungen, die meist den gleichen Inhalt hatten; die Antworten
hatte ich schon bereit wie eine Litanei; mehrmals in der Woche kamen
Gerichtsboten in mein Geschäft, in meine Wohnung oder wo sie mich sonst
antreffen konnten; das war natürlich störend (heute ist es wenigstens in
dieser Hinsicht viel besser, der telephonische Anruf stört viel weniger),
auch unter meinen Geschäftsfreunden, insbesondere aber unter meinen
Verwandten, fingen Gerüchte von meinem Prozess sich zu verbreiten an,
Schädigungen gab es also von allen Seiten, aber
nicht das geringste
Anzeichen sprach dafür, dass auch nur die erste Gerichtsverhandlung in der
nächsten Zeit stattfinden würde. Ich ging also
[→HL 129]
zum Advokaten und beklagte
mich. Er gab mir zwar lange Erklärungen, lehnte es aber entschieden ab,
etwas in meinem Sinne zu tun,
niemand habe Einfluss auf die Festsetzung der
Verhandlung, in einer Eingabe darauf zu dringen - wie ich es verlangte -,
sei einfach unerhört und würde mich und ihn verderben. Ich dachte: Was
dieser Advokat nicht will oder kann, wird ein anderer wollen und können. Ich
sah mich also nach anderen Advokaten um. Ich will es gleich vorwegnehmen:
keiner hat die Festsetzung der Hauptverhandlung verlangt oder durchgesetzt,
es ist, allerdings mit einem Vorbehalt, von dem ich noch sprechen werde,
wirklich unmöglich, hinsichtlich dieses Punktes hat mich also dieser Advokat
nicht getäuscht; im übrigen aber hatte ich es nicht zu bedauern, mich noch
an andere Advokaten gewendet zu haben.
Sie dürften wohl von Dr. Huld auch
schon manches über die Winkeladvokaten gehört haben, er hat sie Ihnen
wahrscheinlich als sehr verächtlich dargestellt, und das sind sie wirklich.
Allerdings unterläuft ihm
immer, wenn er von ihnen spricht und sich und seine Kollegen zu ihnen in
Vergleich setzt, ein kleiner Fehler, auf den ich Sie ganz nebenbei auch
aufmerksam machen will. Er nennt dann immer die Advokaten seines Kreises zur
Unterscheidung die «großen Advokaten». Das ist falsch,
es kann sich
natürlich jeder «groß» nennen, wenn es ihm beliebt, in diesem Fall aber
entscheidet doch nur der Gerichtsgebrauch. Nach diesem gibt es nämlich
außer
den Winkeladvokaten noch kleine und große Advokaten.
Dieser Advokat und
seine Kollegen sind jedoch nur die kleinen Advokaten,
die großen Advokaten aber, von denen ich nur gehört und die ich nie gesehen habe, stehen im Rang
unvergleichlich höher über den kleinen Advokaten als diese über den
verachteten Winkeladvokaten.« »Die großen Advokaten?« fragte K. »Wer sind
denn die? Wie kommt man zu ihnen?« »Sie haben also noch nie von ihnen
gehört«, sagte der Kaufmann. »Es gibt kaum einen Angeklagten, der nicht,
nachdem er von ihnen erfahren hat,
eine Zeitlang von ihnen träumen würde.
Lassen Sie sich lieber nicht dazu verführen.
Wer die großen Advokaten sind,
weiß ich nicht, und zu ihnen kommen kann man wohl gar nicht. Ich kenne
keinen Fall, von dem sich mit Bestimmtheit sagen ließe, dass sie
eingegriffen hätten.
Manchen verteidigen sie, aber durch eigenen Willen kann
man das nicht erreichen, sie verteidigen nur den, den sie verteidigen
wollen. Die Sache, deren sie sich annehmen, muss aber wohl über das niedrige
Gericht schon hinausgekommen sein. Im übrigen ist es besser, nicht an sie zu
denken, denn sonst kommen einem die Besprechungen mit den anderen Advokaten,
deren Ratschläge und deren Hilfeleistungen so widerlich und nutzlos vor, ich
habe es selbst [→HL 130]
erfahren, dass man am liebsten alles wegwerfen, sich zu Hause
ins Bett legen und von nichts mehr hören wollte. Das wäre aber natürlich
wieder das Dümmste, auch hätte man im Bett nicht lange Ruhe.« »Sie dachten
damals also nicht an die großen Advokaten?« fragte K. »Nicht lange«, sagte
der Kaufmann und lächelte wieder, »vollständig vergessen kann man sie leider
nicht, besonders die Nacht ist solchen Gedanken günstig. Aber damals wollte
ich ja sofortige Erfolge, ich ging daher zu den Winkeladvokaten.«
»Wie ihr hier beieinander
sitzt!« rief Leni, die mit der Tasse zurückgekommen war und in der Tür
stehen blieb.
Sie saßen wirklich eng beisammen, bei der kleinsten Wendung
mussten sie mit den Köpfen aneinander stoßen, der Kaufmann, der, abgesehen
von seiner Kleinheit, auch noch den Rücken gekrümmt hielt, hatte K.
gezwungen, sich auch tief zu bücken, wenn er alles hören wollte. »Noch ein
Weilchen!« rief K. Leni abwehrend zu und zuckte ungeduldig mit der Hand, die
er noch immer auf des Kaufmanns Hand liegen hatte. »Er wollte, dass ich ihm
von meinem Prozess erzähle«, sagte der Kaufmann zu Leni.
»Erzähle nur,
erzähle«, sagte diese. Sie sprach mit dem Kaufmann liebevoll, aber doch auch
herablassend,
K. gefiel das nicht; wie er jetzt erkannt hatte, hatte der
Mann doch einen gewissen Wert, zumindest hatte er Erfahrungen, die er gut
mitzuteilen verstand. Leni beurteilte ihn wahrscheinlich unrichtig. Er sah
ärgerlich zu, als Leni jetzt dem Kaufmann die Kerze, die er die ganze Zeit
über festgehalten hatte, abnahm, ihm die Hand mit ihrer Schürze abwischte
und dann neben ihm niederkniete, um etwas Wachs wegzukratzen, das von der
Kerze auf seine Hose getropft war. »Sie wollten mir von den Winkeladvokaten
erzählen«, sagte K. und schob, ohne eine weitere Bemerkung, Lenis Hand weg.
»Was willst du denn?« fragte Leni, schlug leicht nach K. und setzte ihr
Arbeit fort. »Ja, von den Winkeladvokaten«, sagte der Kaufmann und fuhr sich
über die Stirn, als denke er nach.
K. wollte ihm nachhelfen und
sagte: »Sie wollten sofortige Erfolge haben und gingen deshalb zu den
Winkeladvokaten.« »Ganz richtig«, sagte der Kaufmann, setzte aber nicht
fort. »Er will vielleicht vor Leni nicht davon sprechen«, dachte K., bezwang
seine Ungeduld, das Weitere gleich jetzt zu hören, und drang nun nicht mehr
weiter in ihn. »Hast du mich angemeldet?« fragte er Leni. »Natürlich«, sagte
diese, »er wartet auf dich. lass jetzt Block, mit Block kannst du auch
später reden, er bleibt doch hier.« K. zögerte noch. »Sie bleiben hier?«
fragte er den Kaufmann, er wollte dessen eigene Antwort, er wollte nicht,
dass Leni vom Kaufmann wie von einem
[→HL 131] Abwesenden sprach,
er war heute gegen
Leni voll geheimen Ärgers. Und wieder antwortete nur Leni: »Er schläft hier
öfters.« »Schläft hier?« rief K., er hatte gedacht, der Kaufmann werde hier
nur auf ihn warten, während er die Unterredung mit dem Advokaten rasch
erledigen würde, dann aber würden sie gemeinsam fortgehen und alles
gründlich und ungestört besprechen. »Ja«, sagte Leni, »nicht jeder wird wie
du, Josef, zu beliebiger Stunde beim Advokaten vorgelassen. Du scheinst dich
ja gar nicht darüber zu wundern, dass dich der Advokat trotz seiner
Krankheit noch um elf Uhr nachts empfängt.
Du nimmst das, was deine Freunde
für dich tun, doch als gar zu selbstverständlich an. Nun, deine Freunde oder
zumindest ich, tun es gerne.
Ich will keinen anderen Dank und brauche auch
keinen anderen, als dass du mich lieb hast.« »Dich lieb haben?« dachte K. im
ersten Augenblick, erst dann ging es ihm durch den Kopf: »Nun ja, ich habe
sie lieb.«
Trotzdem sagte er,
alles andere
vernachlässigend: »Er empfängt mich, weil ich sein Klient bin. Wenn auch
dafür noch fremde Hilfe nötig wäre, müsste man bei jedem Schritt immer
gleichzeitig betteln und danken.« »Wie schlimm er heute ist, nicht?« fragte
Leni den Kaufmann.
»Jetzt bin ich der Abwesende«, dachte K. und wurde fast
sogar auf den Kaufmann böse, als dieser, die Unhöflichkeit Lenis
übernehmend, sagte: »Der Advokat empfängt ihn auch noch aus anderen Gründen.
Sein Fall ist nämlich interessanter als der meine. Außerdem aber ist sein
Prozess in den Anfängen, also wahrscheinlich noch nicht sehr verfahren, da
beschäftigt sich der Advokat noch gern mit ihm. Später wird das anders
werden.« »Ja, ja«, sagte Leni und
sah den Kaufmann lachend an, »wie er
schwatzt!
Ihm darfst du nämlich«, hierbei wandte sie sich an K., »gar nichts
glauben. So lieb er ist, so geschwätzig ist er.
Vielleicht mag ihn der
Advokat auch deshalb nicht leiden. Jedenfalls empfängt er ihn nur, wenn er
in Laune ist. Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, das zu ändern, aber es
ist unmöglich. Denke nur, manchmal melde ich Block an, er empfängt ihn aber
erst am dritten Tag nachher.
Ist Block aber zu der Zeit, wenn er vorgerufen
wird, nicht zur Stelle, so ist alles verloren und er muss von neuem
angemeldet werden.
Deshalb habe ich Block erlaubt, hier zu schlafen, es ist
ja schon vorgekommen, dass er in der Nacht um ihn geläutet hat. Jetzt ist
also Block auch in der Nacht bereit. Allerdings geschieht es jetzt wieder,
dass der Advokat, wenn es sich zeigt, dass Block da ist,
seinen Auftrag, ihn
vorzulassen, manchmal widerruft.« K. sah fragend zum Kaufmann hin. Dieser
nickte und sagte, so offen wie er früher mit K. gesprochen hatte, vielleicht
war er zerstreut vor Beschämung: »Ja, man wird später sehr abhängig von
seinem Advokaten.« »Er klagt
[→HL 132] ja nur zum Schein«, sagte Leni. »Er schläft ja
hier sehr gern, wie er mir schon oft gestanden hat.« Sie ging zu einer
kleinen Tür und stieß sie auf. »Willst du sein Schlafzimmer sehen?« fragte
sie. K. ging hin und sah von der Schwelle aus in den niedrigen fensterlosen
Raum, der von einem schmalen Bett vollständig ausgefüllt war. In dieses Bett
musste man über den Bettpfosten steigen. Am Kopfende des Bettes war eine
Vertiefung in der Mauer, dort standen, peinlich geordnet, eine
Kerze,
Tintenfass und Feder sowie ein Bündel Papiere, wahrscheinlich
Prozess-Schriften. »Sie schlafen im Dienstmädchenzimmer?« fragte K. und
wendete sich zum Kaufmann zurück. »Leni hat es mir eingeräumt«, antwortete
der Kaufmann, »es ist sehr vorteilhaft.« K. sah ihn lange an;
der erste
Eindruck, den er von dem Kaufmann erhalten hatte, war vielleicht doch der
richtige gewesen; Erfahrungen hatte er, denn sein Prozess dauerte schon
lange, aber er hatte diese Erfahrungen teuer bezahlt.
Plötzlich ertrug K.
den Anblick des Kaufmanns nicht mehr. »Bring ihn doch ins Bett!« rief er
Leni zu, die ihn gar nicht zu verstehen schien. Er selbst aber wollte zum
Advokaten gehen und
durch die Kündigung sich nicht nur vom Advokaten,
sondern auch von Leni und dem Kaufmann befreien. Aber noch ehe er zur Tür
gekommen war, sprach ihn der Kaufmann mit leiser Stimme an: »Herr
Prokurist«, K. wandte sich mit bösem Gesicht um. »Sie haben Ihr Versprechen
vergessen«, sagte der Kaufmann und streckte sich von seinem Sitz aus bittend
K. entgegen. »Sie wollten mir noch ein Geheimnis sagen.« »Wahrhaftig«, sagte
K. und streifte auch Leni, die ihn aufmerksam ansah, mit einem Blick, »also
hören Sie: es ist allerdings fast kein Geheimnis mehr.
Ich gehe jetzt zum
Advokaten, um ihn zu entlassen.« »Er entlässt ihn!« rief der Kaufmann,
sprang vom Sessel und lief mit erhobenen Armen in der Küche umher. Immer
wieder rief er: »Er entlässt den Advokaten!«
Leni wollte gleich auf K.
losfahren, aber der Kaufmann kam ihr in den Weg,
wofür sie ihm mit den
Fäusten einen Hieb gab. Noch mit
den zu Fäusten geballten Händen lief sie
dann hinter K., der aber einen großen Vorsprung hatte. Er war schon in das
Zimmer des Advokaten eingetreten, als ihn Leni einholte. Die Tür hatte er
hinter sich fast geschlossen, aber Leni, die mit dem Fuß den Türflügel offen
hielt, fasste ihn beim Arm und wollte ihn zurückziehen. Aber er drückte ihr
Handgelenk so stark, dass sie unter einem Seufzer ihn loslassen musste. Ins
Zimmer einzutreten, wagte sie nicht gleich, K. aber versperrte die Tür mit
dem Schlüssel.
»Ich warte schon sehr lange auf
Sie«, sagte der Advokat vom Bett aus, legte ein Schriftstück, das er beim
Licht einer Kerze gele-[→HL 133]sen hatte, auf das Nachttischchen und setzte sich eine
Brille auf, mit der er K. scharf ansah. Statt sich zu entschuldigen, sagte
K.: »Ich gehe bald wieder weg.« Der Advokat hatte K.s Bemerkung, weil sie
keine Entschuldigung war, unbeachtet gelassen und sagte: »Ich werde Sie
nächstens zu dieser späten Stunde nicht mehr vorlassen.« »Das kommt meinem
Anliegen entgegen«, sagte K. Der Advokat sah ihn fragend an. »Setzen Sie
sich«, sagte er. »Weil Sie es wünschen«, sagte K., zog einen Sessel zum
Nachttischchen und setzte sich. »Es schien mir, dass Sie die Tür abgesperrt
haben«, sagte der Advokat. »Ja«, sagte K., »es war Lenis wegen.« Er hatte
nicht die Absicht, irgend jemanden zu schonen. Aber der Advokat fragte: »War
sie wieder zudringlich?« »Zudringlich?« fragte K. »Ja«, sagte der Advokat,
er lachte dabei, bekam einen Hustenanfall und begann, nachdem dieser
vergangen war, wieder zu lachen. »Sie haben doch wohl ihre Zudringlichkeit
schon bemerkt?« fragte er und klopfte K. auf die Hand, die dieser zerstreut
auf das Nachttischchen gestützt hatte und die er jetzt rasch zurückzog. »Sie
legen dem nicht viel Bedeutung bei«, sagte der Advokat, als K. schwieg,
»desto besser. Sonst hätte ich mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen
müssen.
Es ist eine Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr übrigens längst
verziehen habe und von der ich auch nicht reden würde, wenn Sie nicht eben
jetzt die Tür abgesperrt hätten. Diese Sonderbarkeit, Ihnen allerdings
müsste ich sie wohl am wenigsten erklären, aber Sie sehen mich so bestürzt
an und deshalb tue ich es, diese Sonderbarkeit besteht darin, dass Leni die
meisten Angeklagten schön findet.
Sie hängt sich an alle, liebt alle,
scheint allerdings auch von allen geliebt zu werden;
um mich zu unterhalten,
erzählt sie mir dann, wenn ich es erlaube, manchmal davon. Ich bin über das
Ganze nicht so erstaunt, wie Sie es zu sein scheinen. Wenn man den richtigen
Blick dafür hat, findet man die Angeklagten wirklich oft schön. Das
allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen naturwissenschaftliche
Erscheinung.
Es tritt natürlich als Folge
der Anklage nicht etwa eine deutliche, genau zu bestimmende Veränderung des
Aussehens ein. Es ist doch nicht wie bei anderen Gerichtssachen, die meisten
bleiben in ihrer gewöhnlichen Lebensweise und werden, wenn sie einen guten
Advokaten haben, der für sie sorgt, durch den Prozess nicht behindert.
Trotzdem sind diejenigen, welche darin Erfahrung haben, imstande, aus der
größten Menge die Angeklagten, Mann für Mann, zu erkennen. Woran? werden Sie
fragen. Meine Antwort wird Sie nicht befriedigen.
Die Angeklagten sind eben
die Schönsten. Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön macht, denn - so
muss wenigstens ich als Advokat sprechen - es sind doch nicht al-[→HL
134]le schuldig,
es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön
macht, denn es werden doch nicht alle bestraft, es kann also nur an dem
gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet.
Allerdings gibt es unter den Schönen auch besonders schöne.
Schön sind aber
alle, selbst Block, dieser elende Wurm.«
K. war, als der Advokat geendet
hatte, vollständig gefasst, er hatte sogar zu den letzten Worten auffallend
genickt und sich so selbst die Bestätigung seiner alten Ansicht gegeben,
nach welcher der Advokat ihn immer und so auch diesmal durch allgemeine
Mitteilungen, die nicht zur Sache gehörten, zu zerstreuen und von der
Hauptfrage, was er an tatsächlicher Arbeit für K.s Sache getan hatte,
abzulenken suchte. Der Advokat merkte wohl, dass ihm K. diesmal mehr
Widerstand leistete als sonst, denn er verstummte jetzt, um K. die
Möglichkeit zu geben, selbst zu sprechen, und fragte dann, da K. stumm
blieb: »Sind Sie heute mit einer bestimmten Absicht zu mir gekommen?« »Ja«,
sagte K. und blendete mit der Hand ein wenig die Kerze ab, um den Advokaten
besser zu sehen, »ich wollte Ihnen sagen, dass ich Ihnen mit dem heutigen
Tage meine Vertretung entziehe.« »Verstehe ich Sie recht?« fragte der
Advokat, erhob sich halb im Bett und stützte sich mit einer Hand auf die
Kissen. »Ich nehme es an«, sagte K., der straff aufgerichtet, wie auf der
Lauer, dasaß. »Nun, wir können ja auch diesen Plan besprechen«, sagte der
Advokat nach einem Weilchen. »Es ist kein Plan mehr«, sagte K. »Mag sein«,
sagte der Advokat, »wir wollen aber trotzdem nichts übereilen.« Er
gebrauchte das Wort »wir«, als habe er nicht die Absicht, K. freizulassen,
und als wolle er, wenn er schon nicht sein Vertreter sein dürfte, wenigstens
sein Berater bleiben. »Es ist nicht übereilt«, sagte K., stand langsam auf
und trat hinter seinen Sessel, »es ist gut überlegt und vielleicht sogar zu
lange. Der Entschluss ist endgültig.« »Dann erlauben Sie mir nur noch einige
Worte«, sagte der Advokat, hob das Federbett weg und setzte sich auf den
Bettrand. Seine nackten, weißhaarigen Beine zitterten vor Kälte. Er bat K.,
ihm vom Kanapee eine Decke zu reichen. K. holte die Decke und sagte: »Sie
setzten sich ganz unnötig einer Verkühlung aus.« »Der Anlass ist wichtig
genug«, sagte der Advokat, während er mit dem Federbett den Oberkörper
umhüllte und dann die Beine in die Decke einwickelte. »Ihr Onkel ist mein
Freund, und auch Sie sind mir im Laufe der Zeit lieb geworden. Ich gestehe
das offen ein. Ich brauche mich dessen nicht zu schämen.« Diese rührseligen
Reden des alten Mannes waren K. sehr unwillkommen, denn sie zwangen ihn zu
einer ausführlicheren Erklärung, die er gern vermieden hätte, und sie
beirr-[→HL 135]ten ihn außerdem, wie er sich offen eingestand, wenn sie allerdings
auch seinen Entschluss niemals rückgängig machen konnten. »Ich danke Ihnen
für Ihre freundliche Gesinnung«, sagte er, »ich erkenne auch an, dass Sie
sich meiner Sache so sehr angenommen haben, wie es Ihnen möglich ist und wie
es Ihnen für mich vorteilhaft scheint. Ich jedoch habe in der letzten Zeit
die Überzeugung gewonnen, dass das nicht genügend ist. Ich werde natürlich
niemals versuchen, Sie, einen soviel älteren und erfahreneren Mann, von
meiner Ansicht überzeugen zu wollen; wenn ich es manchmal
unwillkürlich
versucht habe, so verzeihen Sie mir, die Sache aber ist, wie Sie sich selbst
ausdrückten, wichtig genug, und es ist meiner Überzeugung nach notwendig,
viel kräftiger in den Prozess einzugreifen, als es bisher geschehen ist.«
»Ich verstehe Sie«, sagte der Advokat, »Sie sind ungeduldig.« »Ich bin nicht
ungeduldig«, sagte K. ein wenig gereizt und achtete nicht mehr soviel auf
seine Worte. »Sie dürften bei meinem ersten Besuch, als ich mit meinem Onkel
zu Ihnen kam, bemerkt haben, dass mir an dem Prozess nicht viel lag, wenn
man mich nicht gewissermaßen gewaltsam an ihn erinnerte, vergaß ich ihn
vollständig. Aber mein Onkel bestand darauf, dass ich Ihnen meine Vertretung
übergebe, ich tat es, um ihm gefällig zu sein. Und nun hätte man doch
erwarten sollen, dass mir der Prozess noch leichter fallen würde als bis
dahin, denn man übergibt doch dem Advokaten die Vertretung, um die Last des
Prozesses ein wenig von sich abzuwälzen. Es geschah aber das Gegenteil.
Niemals früher hatte ich so große Sorgen wegen des Prozesses wie seit der
Zeit, seitdem Sie mich vertreten. Als ich allein war, unternahm ich nichts
in meiner Sache, aber ich fühlte es kaum, jetzt dagegen hatte ich einen
Vertreter, alles war dafür eingerichtet, dass etwas geschehe, unaufhörlich
und immer gespannter erwartete ich Ihr Eingreifen, aber es blieb aus. Ich
bekam von Ihnen allerdings verschiedene Mitteilungen über das Gericht, die
ich vielleicht von niemandem sonst hätte bekommen können. Aber das kann mir
nicht genügen, wenn mir jetzt der Prozess, förmlich im Geheimen, immer näher
an den Leib rückt.« K. hatte den Sessel von sich gestoßen und stand, die
Hände in den Rocktaschen, aufrecht da. »Von einem gewissen Zeitpunkt der
Praxis an«, sagte der Advokat leise und ruhig, »ereignet sich nichts
wesentlich Neues mehr. Wie viele Parteien sind in ähnlichen Stadien der
Prozesse ähnlich wie Sie vor mir gestanden und haben ähnlich gesprochen!«
»Dann haben«, sagte K., »alle diese ähnlichen Parteien ebenso recht gehabt
wie ich. Das widerlegt mich gar nicht.« »Ich wollte Sie damit nicht
widerlegen«, sagte der Advokat, »ich wollte aber noch hinzufügen, dass ich
bei Ihnen mehr Urteilskraft [→HL
136] erwartet hätte als bei den anderen, besonders da
ich Ihnen mehr Einblick in das Gerichtswesen und in meine Tätigkeit gegeben
habe, als ich es sonst Parteien gegenüber tue. Und nun muss ich sehen, dass
Sie trotz allem nicht genügend Vertrauen zu mir haben. Sie machen es mir
nicht leicht.« Wie sich der Advokat vor K. demütigte! Ohne jede Rücksicht
auf die Standesehre, die gewiss gerade in diesem Punkte am empfindlichsten
ist. Und warum tat er das? Er war doch dem Anschein nach ein
vielbeschäftigter Advokat und überdies ein reicher Mann, es konnte ihm an
und für sich weder an dem Verdienstentgang noch an dem Verlust eines
Klienten viel liegen. Außerdem war er kränklich und hätte selbst darauf
bedacht sein sollen, dass ihm Arbeit abgenommen werde. Und trotzdem hielt er
K. so fest! Warum? War es persönliche Anteilnahme für den Onkel oder sah er
K.s Prozess wirklich für so außerordentlich an und hoffte, sich darin
auszuzeichnen, entweder für K. oder - diese Möglichkeit war eben niemals
auszuschließen - für die Freunde beim Gericht? An ihm selbst war nichts zu
erkennen, so rücksichtslos ihn auch K. ansah. Man hätte fast annehmen
können, er warte mit absichtlich verschlossener Miene die Wirkung seiner
Worte ab. Aber er deutete offenbar das Schweigen K.s für sich allzu günstig,
wenn er jetzt fortfuhr: »Sie werden bemerkt haben, dass ich zwar eine große
Kanzlei habe, aber keine Hilfskräfte beschäftige. Das war früher anders, es
gab eine Zeit, wo einige junge Juristen für mich arbeiteten, heute arbeite
ich allein. Es hängt dies zum Teil mit der Änderung meiner Praxis zusammen,
indem ich mich immer mehr auf Rechtssachen von der Art der Ihrigen
beschränke, zum Teil mit der immer tieferen Erkenntnis, die ich von diesen
Rechtssachen erhielt. Ich fand, dass ich diese Arbeit niemandem überlassen
dürfe, wenn ich mich nicht an meinen Klienten und an der Aufgabe, die ich
übernommen hatte, versündigen wollte. Der Entschluss aber, alle Arbeit
selbst zu leisten, hatte die natürlichen Folgen: ich musste fast alle
Ansuchen um Vertretungen abweisen und konnte nur denen nachgeben, die mir
besonders nahe gingen - nun, es gibt ja genug Kreaturen, und sogar ganz in
der Nähe, die sich auf jeden Brocken stürzen, den ich wegwerfe. Und außerdem
wurde ich vor Überanstrengung krank. Aber trotzdem bereue ich meinen
Entschluss nicht, es ist möglich, dass ich mehr Vertretungen hätte abweisen
sollen, als ich getan habe, dass ich aber den übernommenen Prozessen mich
ganz hingegeben habe, hat sich als unbedingt notwendig herausgestellt und
durch die Erfolge belohnt. Ich habe einmal in einer Schrift den Unterschied
sehr schön ausgedrückt gefunden, der zwischen der Vertretung in gewöhnlichen
Rechts-[→HL 137]sachen und der Vertretung in diesen Rechtssachen besteht. Es hieß
dort: der Advokat führt seinen Klienten an einem Zwirnsfaden bis zum Urteil,
der andere aber hebt seinen Klienten gleich auf die Schultern und trägt ihn,
ohne ihn abzusetzen, zum Urteil und noch darüber hinaus. So ist es. Aber es
war nicht ganz richtig, wenn ich sagte, dass ich diese große Arbeit niemals
bereue. Wenn sie, wie in Ihrem Fall, so vollständig verkannt wird, dann, nun
dann bereue ich fast.« K. wurde durch diese Reden mehr ungeduldig als
überzeugt. Er glaubte irgendwie aus dem Tonfall des Advokaten herauszuhören,
was ihn erwartete, wenn er nachgäbe, wieder würden Vertröstungen beginnen,
die Hinweise auf die fortschreitende Eingabe, auf die gebesserte Stimmung
der Gerichtsbeamten, aber auch auf die großen Schwierigkeiten, die sich der
Arbeit entgegenstellten, - kurz, all das bis zum Überdruss Bekannte würde
hervorgeholt werden, um K. wieder mit unbestimmten Hoffnungen zu täuschen
und mit unbestimmten Drohungen zu quälen. Das musste endgültig verhindert
werden, er sagte deshalb: »Was wollen Sie in meiner Sache unternehmen, wenn
Sie die Vertretung behalten?« Der Advokat fügte sich sogar dieser
beleidigenden Frage und antwortete: »In dem, was ich für Sie bereits
unternommen habe, weiter fortfahren.« »Ich wusste es ja«, sagte K., »nun ist
aber jedes weitere Wort überflüssig.« »Ich werde noch einen Versuch machen«,
sagte der Advokat, als geschehe das, was K. erregte, nicht K., sondern ihm.
»Ich habe nämlich die Vermutung, dass Sie nicht nur zu der falschen
Beurteilung meines Rechtsbeistandes, sondern auch zu Ihrem sonstigen
Verhalten dadurch verleitet werden, dass man Sie, obwohl Sie Angeklagter
sind, zu gut behandelt oder, richtiger ausgedrückt, nachlässig, scheinbar
nachlässig behandelt. Auch dieses letztere hat seinen Grund; es ist oft
besser, in Ketten, als frei zu sein. Aber
ich möchte Ihnen doch zeigen, wie
andere Angeklagte behandelt werden, vielleicht gelingt es Ihnen, daraus eine
Lehre zu nehmen. Ich werde jetzt nämlich Block vorrufen, sperren Sie die Tür
auf und setzen Sie sich hier neben den Nachttisch!« »Gerne«, sagte K. und
tat, was der Advokat verlangt hatte; zu lernen war er immer bereit. Um sich
aber für jeden Fall zu sichern, fragte er noch: »Sie haben aber zur Kenntnis
genommen, dass ich Ihnen meine Vertretung entziehe?« »Ja«, sagte der
Advokat, »Sie können es aber heute noch rückgängig machen.« Er legte sich
wieder ins Bett zurück, zog das Federbett bis zum Kinn und drehte sich der
Wand zu. Dann läutete er.
Fast gleichzeitig mit dem
Glockenzeichen erschien Leni, sie suchte durch rasche Blicke zu erfahren,
was geschehen war; dass [→HL 138] K. ruhig beim Bett des Advokaten saß, schien ihr
beruhigend. Sie nickte K., der sie starr ansah, lächelnd zu. »Hole Block«,
sagte der Advokat. Statt ihn aber zu holen, trat sie nur vor die Tür, rief:
»Block! Zum Advokaten!« und schlüpfte dann, wahrscheinlich weil der Advokat
zur Wand abgekehrt blieb und sich um nichts kümmerte, hinter K.s Sessel.
Sie
störte ihn von nun ab, indem sie sich über die Sessellehne vorbeugte oder
mit den Händen, allerdings sehr zart und vorsichtig, durch sein Haar fuhr
und über seine Wangen strich.
Schließlich suchte K. sie daran zu hindern,
indem er sie bei einer Hand erfasste, die sie ihm nach einigem Widerstreben
überließ.
Block war auf den Anruf hin
gleich gekommen, blieb aber vor der Tür stehen
und schien zu überlegen, ob
er eintreten sollte. Er zog die Augenbrauen hoch und neigte den Kopf, als
horche er, ob sich der Befehl, zum Advokaten zu kommen, wiederholen würde.
K. hätte ihn zum Eintreten aufmuntern können, aber er hatte sich
vorgenommen, nicht nur mit dem Advokaten, sondern mit allem, was hier in der
Wohnung war, endgültig zu brechen und verhielt sich deshalb regungslos. Auch
Leni schwieg. Block bemerkte, dass ihn wenigstens niemand verjage und trat
auf den Fußspitzen ein, das Gesicht gespannt, die Hände auf dem Rücken
verkrampft. Die Tür hatte er für einen möglichen Rückzug offen gelassen. K.
blickte er gar nicht an, sondern immer nur das hohe Federbett, unter dem der
Advokat, da er sich ganz nahe an die Wand geschoben hatte, nicht einmal zu
sehen war. Da hörte man aber seine Stimme: »Block hier?« fragte er. Diese
Frage gab Block, der schon eine große Strecke weitergerückt war, förmlich
einen Stoß in die Brust und dann einen in den Rücken, er taumelte, blieb
tief gebückt stehen und sagte: »Zu dienen.« »Was willst du?« fragte der
Advokat, »du kommst ungelegen.« »Wurde ich nicht gerufen?« fragte Block mehr
sich selbst als den Advokaten, hielt die Hände zum Schutze vor und war
bereit, wegzulaufen. »Du wurdest gerufen«, sagte der Advokat, »trotzdem
kommst du ungelegen.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Du kommst immer ungelegen.« Seitdem der Advokat sprach, sah Block nicht mehr auf das Bett
hin, er starrte vielmehr irgendwo in eine Ecke und lauschte nur,
als sei der
Anblick des Sprechers zu blendend, als dass er ihn ertragen könnte. Es war
aber auch das Zuhören schwer, denn der Advokat sprach gegen die Wand, und
zwar leise und schnell. »Wollt Ihr, dass ich weggehe?« fragte Block. »Nun
bist du einmal da«, sagte der Advokat.
»Bleib!« Man hätte glauben
können, der Advokat habe nicht Blocks Wunsch erfüllt, sondern ihm, etwa
mit
Prügeln, gedroht,
denn jetzt fing Block wirklich zu zittern an. »Ich war
[→HL 139]
gestern«, sagte der Advokat, »beim
dritten Richter, meinem Freund, und habe
allmählich das Gespräch auf dich gelenkt. Willst du wissen, was er sagte?«
»O bitte«, sagte Block. Da der Advokat nicht gleich antwortete, wiederholte
Block nochmals die Bitte und neigte sich, als wolle er niederknien.
Da fuhr
ihn aber K. an: »Was tust du?« rief er. Da ihn Leni an dem Ausruf hatte
hindern wollen, fasste er auch ihre zweite Hand.
Es war nicht der Druck der
Liebe, mit dem er sie festhielt, sie seufzte auch öfters und suchte ihm die
Hände zu entwinden. Für K.s Ausruf aber wurde Block gestraft, denn der
Advokat fragte ihn: »Wer ist denn dein Advokat?«
»Ihr seid es«, sagte Block.
»Und außer mir?« fragte der Advokat. »Niemand außer Euch«, sagte Block.
»Dann folge auch niemandem sonst«, sagte der Advokat. Block erkannte das
vollständig an, er maß K. mit bösen Blicken und schüttelte heftig gegen ihn
den Kopf. Hätte man dieses Benehmen in Worte übersetzt, so wären es grobe
Beschimpfungen gewesen.
Mit diesem Menschen hatte K. freundschaftlich über
seine eigene Sache reden wollen! »Ich werde dich nicht mehr stören«, sagte
K., in den Sessel zurückgelehnt, »knie nieder oder krieche auf allen vieren,
tu, was du willst. Ich werde mich nicht darum kümmern.«
Aber Block hatte doch
Ehrgefühl,
wenigstens gegenüber K., denn er ging, mit den Fäusten fuchtelnd,
auf ihn zu, und rief so laut, als er es nur in der Nähe des Advokaten wagte:
»Sie dürfen nicht so mit mir reden, das ist nicht erlaubt. Warum beleidigen
Sie mich? Und überdies noch hier,
vor dem Herrn Advokaten, wo wir beide, Sie
und ich, nur aus Barmherzigkeit geduldet sind?
Sie sind kein besserer Mensch
als ich, denn Sie sind auch angeklagt und haben auch einen Prozess. Wenn Sie
aber trotzdem noch ein Herr sind, dann bin ich ein ebensolcher Herr, wenn
nicht gar ein noch größerer. Und ich will auch als ein solcher angesprochen
werden, gerade von Ihnen. Wenn Sie sich aber dadurch für bevorzugt halten,
dass Sie hier sitzen und ruhig zuhören dürfen, während ich, wie Sie sich
ausdrücken, auf allen vieren krieche, dann erinnere ich Sie an den
alten
Rechtsspruch: für den Verdächtigen ist Bewegung besser als Ruhe, denn der,
welcher ruht, kann immer, ohne es zu wissen, auf einer Waagschale sein und
mit seinen Sünden gewogen werden.«
K. sagte nichts, er staunte nur mit
unbeweglichen Augen diesen verwirrten Menschen an.
Was für Veränderungen
waren mit ihm nur schon in der letzten Stunde vor sich gegangen! War es der
Prozess, der ihn so hin und her warf und ihn nicht erkennen ließ, wo Freund
und wo Feind war?
Sah er denn nicht, dass der Advokat ihn absichtlich
demütigte und diesmal nichts anderes bezweckte, als sich vor K. mit seiner
Macht zu brüsten und sich da-[→HL
140]durch vielleicht auch K. zu unterwerfen? Wenn
Block aber nicht fähig war, das zu erkennen oder wenn er den Advokaten so
sehr fürchtete, dass ihm jene Erkenntnis nichts helfen konnte, wie kam es,
dass er doch wieder so schlau oder so kühn war, den Advokaten zu betrügen
und ihm zu verschweigen, dass er außer ihm noch andere Advokaten für sich
arbeiten ließ? Und wie wagte er es, K. anzugreifen, da dieser doch gleich
sein Geheimnis verraten konnte? Aber er wagte noch mehr, er ging zum Bett
des Advokaten und begann, sich nun auch dort über K. zu beschweren: »Herr
Advokat«, sagte er, »habt Ihr gehört, wie dieser Mann mit mir gesprochen
hat? Man kann noch die Stunden seines Prozesses zählen, und schon will er
mir, einem Mann, der fünf Jahre im Prozesse steht, gute Lehren geben. Er
beschimpft mich sogar. Weiß nichts und beschimpft mich, der ich, soweit
meine schwachen Kräfte reichen, genau studiert habe, was Anstand, Pflicht
und Gerichtsgebrauch verlangt.« »Kümmere dich um niemanden«, sagte der
Advokat, »und tue, was dir richtig scheint.« »Gewiss«, sagte Block, als
spreche er sich selbst Mut zu, und kniete unter einem kurzen Seitenblick nun
knapp beim Bett nieder. »Ich knie schon, mein Advokat«, sagte er. Der
Advokat schwieg aber. Block streichelte mit einer Hand vorsichtig das
Federbett. In der Stille, die jetzt herrschte, sagte
Leni, indem sie sich
von K.s Händen befreite: »Du machst mir Schmerzen. lass mich. Ich gehe zu
Block.« Sie ging hin und setzte sich auf den Bettrand. Block war über ihr
Kommen sehr erfreut, er bat sie gleich durch
lebhafte, aber stumme Zeichen,
sich beim Advokaten für ihn einzusetzen.
Er benötigte offenbar die
Mitteilungen des Advokaten sehr dringend, aber vielleicht nur zu dem Zweck,
um sie durch seine übrigen Advokaten ausnutzen zu lassen. Leni wusste
wahrscheinlich genau, wie man dem Advokaten beikommen könne, sie zeigte auf
die Hand des Advokaten und spitzte die Lippen wie zum Kuss. Gleich führte
Block den Handkuss aus und wiederholte ihn, auf eine Aufforderung Lenis hin,
noch zweimal. Aber der Advokat schwieg noch immer. Da beugte sich Leni über
den Advokaten hin, der schöne Wuchs ihres Körpers
wurde sichtbar, als sie
sich so streckte, und
strich, tief zu seinem Gesicht geneigt, über sein
langes, weißes Haar. Das zwang ihm nun doch eine Antwort ab. »Ich zögere, es
ihm mitzuteilen«, sagte der Advokat, und man sah, wie er den Kopf ein wenig
schüttelte, vielleicht, um des Druckes von Lenis Hand mehr teilhaftig zu
werden. Block horchte mit gesenktem Kopf, als übertrete er durch dieses
Horchen ein Gebot. »Warum zögerst du denn?« fragte Leni.
K. hatte das Gefühl, als höre
er ein einstudiertes Gespräch, das sich schon oft wiederholt hatte, das sich
noch oft wie-[→HL 141]derholen würde und das nur für Block seine Neuheit nicht
verlieren konnte. »Wie hat er sich heute verhalten?« fragte der Advokat,
statt zu antworten. Ehe sich Leni darüber äußerte, sah sie zu Block hinunter
und beobachtete ein Weilchen,
wie er die Hände ihr entgegenhob und bittend
aneinander rieb. Schließlich nickte sie ernst, wandte sich zum Advokaten und
sagte: »Er war ruhig und fleißig.«
Ein alter Kaufmann, ein Mann mit langem
Bart, flehte ein junges Mädchen um ein günstiges Zeugnis an. Mochte er dabei
auch Hintergedanken haben, nichts konnte ihn in den Augen eines Mitmenschen
rechtfertigen. K. begriff nicht, wie der Advokat daran hatte denken können,
durch diese Vorführung ihn zu gewinnen.
Hätte er ihn nicht schon früher
verjagt, er hätte es durch diese Szene erreicht.
Er entwürdigte fast den
Zuseher. So bewirkte also die Methode des Advokaten, welcher K.
glücklicherweise nicht lange genug ausgesetzt gewesen war,
dass der Klient
schließlich die ganze Welt vergaß und nur auf diesem Irrweg zum Ende des
Prozesses sich fortzuschleppen hoffte.
Das war kein Klient mehr, das war der
Hund des Advokaten.
Hätte ihm dieser befohlen,
unter das Bett wie in eine Hundehütte zu kriechen und von dort aus zu
bellen, er hätte es mit Lust getan. Als sei K. beauftragt, alles, was hier
gesprochen wurde, genau in sich aufzunehmen,
an einem höheren Ort die
Anzeige davon zu erstatten und einen Bericht abzulegen, hörte er prüfend und
überlegen zu. »Was hat er während des ganzen Tages getan?« fragte der
Advokat. »Ich habe ihn«, sagte Leni, »damit er mich bei der Arbeit nicht
störe, in dem Dienstmädchenzimmer eingesperrt, wo er sich ja gewöhnlich
aufhält. Durch die Luke konnte ich von Zeit zu Zeit nachsehen, was er
machte. Er kniete immer auf dem Bett,
hatte die Schriften, die du ihm
geliehen hast, auf dem Fensterbrett aufgeschlagen und las in ihnen. Das hat
einen guten Eindruck auf mich gemacht; das Fenster führt nämlich nur in
einen Luftschacht und gibt fast kein Licht. Dass Block trotzdem las, zeigte
mir, wie folgsam er ist.« »Es freut mich, das zu hören«, sagte der Advokat.
»Hat er aber auch mit Verständnis gelesen?« Block bewegte während dieses
Gesprächs unaufhörlich die Lippen, offenbar formulierte er die Antworten,
die er von Leni erhoffte. »Darauf kann ich natürlich«, sagte Leni, »nicht
mit Bestimmtheit antworten. Jedenfalls habe ich gesehen, dass er gründlich
las. Er hat den ganzen Tag über die gleiche Seite gelesen
und beim Lesen den
Finger die Zeilen entlanggeführt. Immer, wenn ich zu ihm hineinsah, hat er
geseufzt, als mache ihm das Lesen viel Mühe. Die Schriften, die du ihm
geliehen hast, sind wahrscheinlich schwer verständlich.« »Ja«, sagte der
Advokat, »das sind sie allerdings. Ich glaube
[→HL 142] auch nicht, dass er etwas von
ihnen versteht.
Sie sollen ihm nur eine Ahnung davon geben, wie schwer der
Kampf ist, den ich zu seiner Verteidigung führe. Und für wen führe ich
diesen schweren Kampf? Für - es ist fast lächerlich, es auszusprechen - für
Block. Auch was das bedeutet, soll er begreifen lernen.
Hat er
ununterbrochen studiert?« »Fast ununterbrochen«, antwortete Leni, »nur
einmal hat er mich um Wasser zum Trinken gebeten.
Da habe ich ihm ein Glas
durch die Luke gereicht.
Um acht Uhr habe ich ihn dann herausgelassen und
ihm etwas zu essen gegeben.«
Block streifte K. mit einem Seitenblick, als
werde hier Rühmendes von ihm erzählt und müsse auch auf K. Eindruck machen.
Er schien jetzt gute Hoffnungen zu haben, bewegte sich freier und rückte auf
den Knien hin und her. Desto deutlicher war es,
wie er unter den folgenden
Worten des Advokaten erstarrte: »Du lobst ihn«, sagte der Advokat. »Aber
gerade das macht es mir schwer, zu reden.
Der Richter hatte sich nämlich
nicht günstig ausgesprochen, weder über Block selbst, noch über seinen
Prozess.« »Nicht günstig?« fragte Leni. »Wie ist das möglich?« Block sah sie
mit einem so gespannten Blick an, als traue er ihr die Fähigkeit zu, jetzt
noch die längst ausgesprochenen Worte des Richters zu seinen Gunsten zu
wenden. »Nicht günstig«, sagte der Advokat. »Er war sogar unangenehm
berührt, als ich von Block zu sprechen anfing. «Reden Sie nicht von Block»,
sagte er. «Er ist mein Klient», sagte ich. «Sie lassen sich missbrauchen»,
sagte er. «Ich halte seine Sache nicht für verloren», sagte ich. «Sie lassen
sich missbrauchen», wiederholte er. «Ich glaube es nicht», sagte ich. «Block
ist im Prozess fleißig und immer hinter seiner Sache her. Er wohnt fast bei
mir, um immer auf dem laufenden zu sein. Solchen Eifer findet man nicht
immer. Gewiss,
er ist persönlich nicht angenehm, hat hässliche Umgangsformen
und ist schmutzig, aber in prozessualer Hinsicht ist er untadelhaft.» Ich
sagte untadelhaft, ich übertrieb absichtlich. Darauf sagte er: «Block ist
bloß schlau. Er hat viel Erfahrung angesammelt und versteht es, den Prozess
zu verschleppen. Aber seine Unwissenheit ist noch viel größer als seine
Schlauheit. Was würde er wohl dazu sagen,
wenn er erführe, dass sein Prozess
noch gar nicht begonnen hat, wenn man ihm sagte, dass noch nicht einmal das
Glockenzeichen zum Beginn des Prozesses gegeben ist.»
Ruhig, Block«, sagte
der Advokat, denn Block begann sich gerade auf unsicheren Knien zu erheben
und wollte offenbar um Aufklärung bitten. Es war jetzt das erste Mal, dass
sich der Advokat mit ausführlichen Worten geradezu an Block wendete. Mit
müden Augen sah er halb ziellos, halb zu Block hinunter,
der unter diesem
Blick wieder langsam in die Knie zurück-[→HL
143]sank. »Diese Äußerung des Richters
hat für dich gar keine Bedeutung«, sagte der Advokat.
»Erschrick doch nicht bei jedem
Wort. Wenn sich das wiederholt, werde ich dir gar nichts mehr verraten. Man
kann keinen Satz beginnen, ohne dass du einen anschaust, als ob jetzt dein
Endurteil käme. Schäme dich hier vor meinem Klienten!
Auch erschütterst du
das Vertrauen, das er in mich setzt. Was willst du denn?
Noch lebst du, noch
stehst du unter meinem Schutz. Sinnlose Angst! Du hast irgendwo gelesen,
dass das Endurteil in manchen Fällen unversehens komme, aus beliebigem
Munde, zu beliebiger Zeit. Mit vielen Vorbehalten ist das allerdings wahr,
ebenso wahr aber ist es,
dass mich deine Angst anwidert und dass ich darin
einen Mangel des notwendigen Vertrauens sehe. Was habe ich denn gesagt? Ich
habe die Äußerung eines Richters wiedergegeben.
Du weißt, die verschiedenen
Ansichten häufen sich um das Verfahren bis zur Undurchdringlichkeit.
Dieser
Richter zum Beispiel nimmt den Anfang des Verfahrens zu einem anderen
Zeitpunkt an als ich. Ein Meinungsunterschied, nichts weiter. In einem
gewissen Stadium des Prozesses wird nach altem Brauch ein
Glockenzeichen
gegeben. Nach der Ansicht dieses Richters beginnt damit der Prozess. Ich
kann dir jetzt nicht alles sagen, was dagegen spricht, du würdest es auch
nicht verstehen, es genüge dir, dass viel dagegen spricht.«
Verlegen fuhr
Block unten mit den Fingern durch das Fell des Bettvorlegers, die Angst
wegen des Ausspruchs des Richters ließ ihn zeitweise die eigene
Untertänigkeit gegenüber dem Advokaten vergessen, er dachte dann nur an sich
und drehte die Worte des Richters nach allen Seiten. »Block«, sagte Leni in
warnendem Ton und zog ihn am Rockkragen ein wenig in die Höhe. »lass jetzt
das Fell und höre dem Advokaten zu.«
IM DOM
K. bekam den Auftrag, einem
italienischen Geschäftsfreund der Bank, der für sie sehr wichtig war und
sich zum ersten Mal in dieser Stadt aufhielt, einige Kunstdenkmäler zu
zeigen. Es war ein Auftrag, den er zu anderer Zeit gewiss für ehrend
gehalten hätte, den er aber jetzt, da er nur mit großer Anstrengung sein
Ansehen in der Bank noch wahren konnte, widerwillig übernahm. Jede Stunde,
die er dem Bureau entzogen wurde, machte ihm Kummer; er konnte zwar die Bureauzeit bei weitem nicht mehr so ausnützen wie früher, er brachte manche
Stunden nur unter dem not--[→HL 144]dürftigsten Anschein wirklicher Arbeit hin, aber
desto größer waren seine Sorgen, wenn er nicht im Bureau war. Er
glaubte dann
zu sehen, wie der Direktor-Stellvertreter, der ja immer auf der Lauer
gewesen war, von Zeit zu Zeit in sein Bureau kam, sich an seinen Schreibtisch
setzte, seine Schriftstücke durchsuchte, Parteien, mit denen K. seit Jahren
fast befreundet gewesen war, empfing und ihm abspenstig machte, ja
vielleicht sogar Fehler aufdeckte, von denen sich K. während der Arbeit
jetzt immer aus tausend Richtungen bedroht sah und die er nicht mehr
vermeiden konnte. Wurde er daher einmal, sei es in noch so auszeichnender
Weise, zu einem Geschäftsweg oder gar zu einer kleinen Reise beauftragt -
solche Aufträge hatten sich in der letzten Zeit ganz zufällig gehäuft -,
dann lag immerhin die Vermutung nahe, dass man ihn für ein Weilchen aus dem
Bureau entfernen und seine Arbeit überprüfen wolle oder wenigstens, dass man
im Bureau ihn für leicht entbehrlich halte. Die meisten dieser Aufträge hätte
er ohne Schwierigkeiten ablehnen können, aber er wagte es nicht, denn, wenn
seine Befürchtung auch nur im geringsten begründet war, bedeutete die
Ablehnung des Auftrags Geständnis seiner Angst. Aus diesem Grunde nahm er
solche Aufträge scheinbar gleichmütig hin und verschwieg sogar, als er eine
anstrengende zweitägige Geschäftsreise machen sollte, eine ernstliche
Verkühlung, um sich nur nicht der Gefahr auszusetzen, mit Berufung auf das
gerade herrschende regnerische Herbstwetter von der Reise abgehalten zu
werden. Als er von dieser Reise mit wütenden Kopfschmerzen zurückkehrte,
erfuhr er, dass er dazu bestimmt sei, am nächsten Tag den italienischen
Geschäftsfreund zu begleiten. Die Verlockung, sich wenigstens dieses eine
Mal zu weigern, war sehr groß, vor allem war das, was man ihm hier zugedacht
hatte, keine unmittelbar mit dem Geschäft zusammenhängende Arbeit, aber die
Erfüllung dieser gesellschaftlichen Pflicht gegenüber dem Geschäftsfreund
war an sich zweifellos wichtig genug, nur nicht für K., der wohl wusste,
dass er sich nur durch Arbeitserfolge erhalten könne und dass es, wenn ihm
das nicht gelänge, vollständig wertlos war, wenn er diesen Italiener unerwarteterweise sogar bezaubern sollte; er wollte nicht einmal für einen
Tag aus dem Bereich der Arbeit geschoben werden, denn die Furcht, nicht mehr
zurückgelassen zu werden, war zu groß, eine Furcht, die er sehr genau als
übertrieben erkannte, die ihn aber doch beengte. In diesem Fall allerdings
war es fast unmöglich, einen annehmbaren Einwand zu erfinden. K.s Kenntnis
des Italienischen war zwar nicht sehr groß, aber immerhin genügend; das
Entscheidende aber war, dass K. aus früherer Zeit einige kunsthistorische
Kenntnisse [→HL 145]
besaß, was in äußerst übertriebener Weise dadurch in der Bank
bekannt geworden war, dass K. eine Zeitlang, übrigens auch nur aus
geschäftlichen Gründen, Mitglied des Vereins zur Erhaltung der städtischen
Kunstdenkmäler gewesen war. Nun war aber der Italiener, wie man
gerüchteweise erfahren hatte, ein Kunstliebhaber, und die Wahl K.s zu seinem
Begleiter war daher selbstverständlich.
Es war ein sehr regnerischer, stürmischer Morgen, als K. voll Ärger über den
Tag, der ihm bevorstand, schon um sieben Uhr ins Bureau kam, um wenigstens
einige Arbeit noch fertig zu bringen, ehe der Besuch ihn allem entziehen
würde. Er war sehr müde, denn er hatte die halbe Nacht mit dem Studium einer
italienischen Grammatik verbracht, um sich ein wenig vorzubereiten; das
Fenster, an dem er in der letzten Zeit viel zu oft zu sitzen pflegte, lockte
ihn mehr als der Schreibtisch, aber er widerstand und setzte sich zur
Arbeit. Leider trat gerade der Diener ein und meldete, der Herr Direktor
habe ihn geschickt, um nachzusehen, ob der Herr Prokurist schon hier sei;
sei er hier, dann möge er so freundlich sein und ins Empfangszimmer
hinüberkommen, der Herr aus Italien sei schon da. »Ich komme schon«, sagte
K., steckte ein kleines Wörterbuch in die Tasche, nahm ein Album der
städtischen Sehenswürdigkeiten, das er für den Fremden vorbereitet hatte,
unter den Arm und ging durch das Bureau des Direktor-Stellvertreters in das
Direktionszimmer. Er war glücklich darüber, so früh ins
Bureau gekommen zu
sein und sofort zur Verfügung stehen zu können, was wohl niemand ernstlich
erwartet hatte. Das Bureau des Direktor-Stellvertreters war natürlich noch
leer wie in tiefer Nacht, wahrscheinlich hatte der Diener auch ihn ins
Empfangszimmer berufen sollen, es war aber erfolglos gewesen. Als K. ins
Empfangszimmer eintrat, erhoben sich die zwei Herren aus den tiefen
Fauteuils. Der Direktor lächelte freundlich, offenbar war er sehr erfreut
über K.s Kommen, er besorgte sofort die Vorstellung, der Italiener
schüttelte K. kräftig die Hand und nannte lächelnd irgend jemanden einen
Frühaufsteher. K. verstand nicht genau, wen er meinte, es war überdies ein
sonderbares Wort, dessen Sinn K. erst nach einem Weilchen erriet. Er
antwortete mit einigen glatten Sätzen, die der Italiener wieder lachend
hinnahm, wobei er mehrmals mit nervöser Hand über seinen graublauen,
buschigen Schnurrbart fuhr. Dieser Bart war offenbar parfümiert, man war
fast versucht, sich zu nähern und zu riechen. Als sich alle gesetzt hatten
und ein kleines, einleitendes Gespräch begann, bemerkte K. mit großem
Unbehagen, dass er den Italiener nur bruchstückweise verstand. Wenn er ganz
ruhig sprach, verstand er ihn fast voll-[→HL
146]ständig, das waren aber nur seltene
Ausnahmen, meistens quoll ihm die Rede aus dem Mund, er schüttelte den Kopf
wie vor Lust darüber. Bei solchen Reden aber verwickelte er sich regelmäßig
in irgendeinen Dialekt, der für K. nichts Italienisches mehr hatte, den aber
der Direktor nicht nur verstand, sondern auch sprach, was K. allerdings
hätte voraussehen können, denn der Italiener stammte aus Süditalien, wo auch
der Direktor einige Jahre gewesen war. Jedenfalls erkannte K., dass ihm die
Möglichkeit, sich mit dem Italiener zu verständigen, zum größten Teil
genommen war, denn auch dessen Französisch war nur schwer verständlich, auch
verdeckte der Bart die Lippenbewegungen, deren Anblick vielleicht zum
Verständnis geholfen hätte. K. begann viel Unannehmlichkeiten vorauszusehen,
vorläufig gab er es auf, den Italiener verstehen zu wollen - in der
Gegenwart des Direktors, der ihn so leicht verstand, wäre es unnötige
Anstrengung gewesen -, und er beschränkte sich darauf, ihn verdrießlich zu
beobachten, wie er tief und doch leicht in dem Fauteuil ruhte, wie er öfters
an seinem kurzen, scharf geschnittenen Röckchen zupfte und wie er einmal mit
erhobenen Armen und lose in den Gelenken bewegten Händen irgend etwas
darzustellen versuchte, das K. nicht begreifen konnte, obwohl er vorgebeugt
die Hände nicht aus den Augen ließ. Schließlich machte sich bei K., der
sonst unbeschäftigt, nur mechanisch mit den Blicken dem Hin und Her der
Reden folgte, die frühere Müdigkeit geltend, und er ertappte sich einmal zu
seinem Schrecken, glücklicherweise noch rechtzeitig, dabei, dass er in der
Zerstreutheit gerade hatte aufstehen, sich umdrehen und weggehen wollen.
Endlich sah der Italiener auf die Uhr und sprang auf. Nachdem er sich vom
Direktor verabschiedet hatte, drängte er sich an K., und zwar so dicht, dass
K. seinen Fauteuil zurückschieben musste, um sich bewegen zu können. Der
Direktor, der gewiss an K.s Augen die Not erkannte, in der er sich gegenüber
diesem Italienisch befand, mischte sich in das Gespräch, und zwar so klug
und so zart, dass es den Anschein hatte, als füge er nur kleine Ratschläge
bei, während er in Wirklichkeit alles, was der Italiener, unermüdlich ihm in
die Rede fallend, vorbrachte, in aller Kürze K. verständlich machte. K.
erfuhr von ihm, dass der Italiener vorläufig noch einige Geschäfte zu
besorgen habe, dass er leider auch im ganzen nur wenig Zeit haben werde,
dass er auch keinesfalls beabsichtige, in Eile alle Sehenswürdigkeiten
abzulaufen, dass er sich vielmehr - allerdings nur, wenn K. zustimme, bei
ihm allein liege die Entscheidung - entschlossen habe, nur den Dom, diesen
aber gründlich, zu besichtigen. Er freue sich ungemein, diese Besichtigung
in Begleitung eines so gelehrten
[→HL 147] und liebenswürdigen Mannes - damit war K.
gemeint, der mit nichts anderem beschäftigt war, als den Italiener zu
überhören und die Worte des Direktors schnell aufzufassen - vornehmen zu
können, und er bitte ihn, wenn ihm die Stunde gelegen sei, in zwei Stunden,
etwa um zehn Uhr, sich im Dom einzufinden. Er selbst hoffe, um diese Zeit
schon bestimmt dort sein zu können. K. antwortete einiges Entsprechende, der
Italiener drückte zuerst dem Direktor, dann K., dann nochmals dem Direktor
die Hand und ging, von beiden gefolgt, nur noch halb ihnen zugewendet, im
Reden aber noch immer nicht aussetzend, zur Tür. K. blieb dann noch ein
Weilchen mit dem Direktor beisammen, der heute besonders leidend aussah. Er
glaubte, sich bei K. irgendwie entschuldigen zu müssen und sagte - sie
standen vertraulich nahe beisammen -, zuerst hätte er beabsichtigt, selbst
mit dem Italiener zu gehen, dann aber - er gab keinen näheren Grund an -
habe er sich entschlossen, lieber K. zu schicken. Wenn er den Italiener
nicht gleich im Anfang verstehe, so müsse er sich dadurch nicht verblüffen
lassen, das Verständnis komme sehr rasch, und wenn er auch viel überhaupt
nicht verstehen sollte, so sei es auch nicht so schlimm, denn für den
Italiener sei es nicht gar so wichtig, verstanden zu werden. Übrigens sei
K.s Italienisch überraschend gut, und er werde sich gewiss ausgezeichnet mit
der Sache abfinden. Damit war K. verabschiedet. Die Zeit, die ihm noch frei
blieb, verbrachte er damit, seltene Vokabeln, die er zur Führung im Dom
benötigte, aus dem Wörterbuch herauszuschreiben. Es war eine äußerst lästige
Arbeit, Diener brachten die Post, Beamte kamen mit verschiedenen Anfragen
und blieben, da sie K. beschäftigt sahen, bei der Tür stehen, rührten sich
aber nicht weg, bevor sie K. angehört hatte, der Direktor-Stellvertreter
ließ es sich nicht entgehen, K. zu stören, kam öfters herein, nahm ihm das
Wörterbuch aus der Hand und blätterte offenbar ganz sinnlos darin, selbst
Parteien tauchten, wenn sich die Tür öffnete, im Halbdunkel des Vorzimmers
auf und verbeugten sich zögernd - sie wollten auf sich aufmerksam machen,
waren aber dessen nicht sicher, ob sie gesehen wurden -, das alles bewegte
sich um K. als um seinen Mittelpunkt, während er selbst die Wörter, die er
brauchte, zusammenstellte, dann im Wörterbuch suchte, dann herausschrieb,
dann ihre Aussprache übte und schließlich auswendig zu lernen versuchte.
Sein früheres gutes Gedächtnis schien ihn aber ganz verlassen zu haben,
manchmal wurde er auf den Italiener, der ihm diese Anstrengung verursachte,
so wütend, dass er das Wörterbuch unter Papieren vergrub, mit der festen
Absicht, sich nicht mehr vorzubereiten, dann aber sah er ein, dass er doch
nicht [→HL 148] stumm mit dem Italiener vor den Kunstwerken im Dom auf und ab gehen
könne, und er zog mit noch größerer Wut das Wörterbuch wieder hervor.
Gerade um halb zehn Uhr, als er
weggehen wollte, erfolgte ein
telephonischer Anruf. Leni wünschte ihm guten
Morgen und fragte nach seinem Befinden, K. dankte eilig und bemerkte, er
könne sich jetzt unmöglich in ein Gespräch einlassen, denn er müsse in den
Dom. »In den Dom?« fragte Leni. »Nun ja, in den Dom.« »Warum denn in den
Dom?« sagte Leni. K. suchte es ihr in Kürze zu erklären, aber kaum hatte er
damit angefangen,
sagte Leni plötzlich: »Sie hetzen dich.« Bedauern, das er nicht
herausgefordert und nicht erwartet hatte, vertrug K. nicht, er
verabschiedete sich mit zwei Worten, sagte aber doch, während er den
Hörer an seinen Platz hängte, halb zu sich, halb zu dem fernen
Mädchen, das es nicht mehr hörte: »Ja, sie hetzen mich.« Nun war es aber schon spät, es
bestand schon fast die Gefahr, dass er nicht rechtzeitig ankam. Im Automobil
fuhr er hin, im letzten Augenblick hatte er sich noch an das Album erinnert,
das er früh zu übergeben keine Gelegenheit gefunden hatte und das er deshalb
jetzt mitnahm. Er hielt es auf seinen Knien und trommelte darauf unruhig
während der ganzen Fahrt. Der Regen war schwächer geworden, aber es war
feucht, kühl und dunkel, man würde im Dom wenig sehen, wohl aber würde sich
dort, infolge des langen Stehens auf den kalten Fliesen, K.s Verkühlung sehr
verschlimmern. Der Domplatz war ganz leer, K. erinnerte sich, dass es ihm
schon als kleinem Kind aufgefallen war, dass in den Häusern dieses engen
Platzes immer fast alle Fenstervorhänge herabgelassen waren. Bei dem
heutigen Wetter war es allerdings verständlicher als sonst. Auch im Dom
schien es leer zu sein, es fiel natürlich niemandem ein, jetzt hier
herzukommen. K. durchlief beide Seitenschiffe, er traf nur ein altes Weib,
das, eingehüllt in ein warmes Tuch, vor einem Marienbild kniete und es
anblickte. Von weitem sah er dann noch einen hinkenden Diener in einer
Mauertür verschwinden. K. war pünktlich gekommen, gerade bei seinem Eintritt
hatte es zehn geschlagen, der Italiener war aber noch nicht hier. K. ging
zum Haupteingang zurück, stand dort eine Zeitlang unentschlossen und machte
dann im Regen einen Rundgang um den Dom, um nachzusehen, ob der Italiener
nicht vielleicht bei irgendeinem Seiteneingang warte. Er war nirgends zu
finden. Sollte der Direktor etwa die Zeitangabe missverstanden haben? Wie
konnte man auch diesen Menschen richtig verstehen? Wie es aber auch sein
mochte, jedenfalls musste K. zumindest eine halbe Stunde auf ihn
[→HL 149] warten. Da
er müde war, wollte er sich setzen, er ging wieder in den Dom, fand auf
einer Stufe einen kleinen, teppichartigen Fetzen, zog ihn mit der Fußspitze
vor eine nahe Bank, wickelte sich fester in seinen Mantel, schlug den Kragen
in die Höhe und setzte sich. Um sich zu zerstreuen, schlug er das Album auf,
blätterte darin ein wenig, musste aber bald aufhören, denn es wurde so
dunkel, dass er, als er aufblickte, in dem nahen Seitenschiff kaum eine
Einzelheit unterscheiden konnte. In der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar
ein großes Dreieck von Kerzenlichtern, K. hätte nicht mit Bestimmtheit sagen
können, ob er sie schon früher gesehen hatte. Vielleicht waren sie erst
jetzt angezündet worden. Die Kirchendiener sind berufsmäßige Schleicher, man
bemerkt sie nicht. Als sich K. zufällig umdrehte, sah er nicht weit hinter
sich eine hohe, starke, an einer Säule befestigte Kerze gleichfalls brennen.
So schön das war, zur Beleuchtung der Altarbilder, die meistens in der
Finsternis der Seitenaltäre hingen, war das gänzlich unzureichend, es
vermehrte vielmehr die Finsternis. Es war vom Italiener ebenso vernünftig
als unhöflich gehandelt, dass er nicht gekommen war, es wäre nichts zu sehen
gewesen, man hätte sich damit begnügen müssen, mit K.s elektrischer
Taschenlampe einige Bilder zollweise abzusuchen. Um zu versuchen, was man
davon erwarten könnte, ging K. zu einer nahen Seitenkapelle, stieg ein paar
Stufen bis zu einer niedrigen Marmorbrüstung und, über sie vorgebeugt,
beleuchtete er mit der Lampe das Altarbild. Störend schwebte das ewige Licht
davor. Das erste, was K. sah und zum Teil erriet, war ein großer,
gepanzerter Ritter, der am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er
stützte sich auf sein Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich - nur
einige Grashalme kamen hie und da hervor - gestoßen hatte. Er schien
aufmerksam einen Vorgang zu beobachten, der sich vor ihm abspielte. Es war
erstaunlich, dass er so stehen blieb und sich nicht näherte. Vielleicht war
er dazu bestimmt, Wache zu stehen. K., der schon lange keine Bilder gesehen
hatte, betrachtete den Ritter längere Zeit, obwohl er immerfort mit den
Augen zwinkern musste, da er das grüne Licht der Lampe nicht vertrug. Als er
dann das Licht über den übrigen Teil des Bildes streichen ließ, fand er eine
Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung, es war übrigens ein neueres
Bild. Er steckte die Lampe ein und kehrte wieder zu seinem Platz zurück.
Es war nun schon wahrscheinlich
unnötig, auf den Italiener zu warten, draußen war aber gewiss strömender
Regen, und da es hier nicht so kalt war, wie K. erwartet hatte, beschloss
er, vorläufig [→HL 150]
hier zu bleiben. In seiner Nachbarschaft war die große Kanzel,
auf ihrem kleinen, runden Dach waren halb liegend zwei leere, goldene Kreuze
angebracht, die einander mit ihrer äußersten Spitze überquerten. Die
Außenwand der Brüstung und der Übergang zur tragenden Säule war von grünem
Laubwerk gebildet, in das kleine Engel griffen, bald lebhaft, bald ruhend.
K. trat vor die Kanzel und untersuchte sie von allen Seiten, die Bearbeitung
des Steines war überaus sorgfältig, das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerk
und hinter ihm schien wie eingefangen und festgehalten, K. legte seine Hand
in eine solche Lücke und tastete dann den Stein vorsichtig ab, von dem
Dasein dieser Kanzel hatte er bisher gar nicht gewusst. Da bemerkte er
zufällig hinter der nächsten Bankreihe einen Kirchendiener, der dort in
einem hängenden, faltigen, schwarzen Rock stand, in der linken Hand eine
Schnupftabakdose hielt und ihn betrachtete. Was will denn der Mann? dachte
K. Bin ich ihm verdächtig? Will er ein Trinkgeld? Als sich aber nun der
Kirchendiener von K. bemerkt sah, zeigte er mit der Rechten, zwischen zwei
Fingern hielt er noch eine Prise Tabak, in irgendeiner unbestimmten
Richtung. Sein Benehmen war fast unverständlich, K. wartete noch ein
Weilchen, aber der Kirchendiener hörte nicht auf, mit der Hand etwas zu
zeigen und bekräftigte es noch durch Kopfnicken. »Was will er denn?« fragte
K. leise, er wagte es nicht, hier zu rufen; dann aber zog er die Geldtasche
und drängte sich durch die nächste Bank, um zu dem Mann zu kommen. Doch
dieser machte sofort eine abwehrende Bewegung mit der Hand, zuckte die
Schultern und hinkte davon. Mit einer ähnlichen Gangart, wie es dieses
eilige Hinken war, hatte K. als Kind das Reiten auf Pferden nachzuahmen
versucht. »Ein kindischer Alter«, dachte K., »sein Verstand reicht nur noch
zum Kirchendienst aus. Wie er stehen bleibt, wenn ich stehe, und wie er
lauert, ob ich weitergehen will.« Lächelnd folgte K. dem Alten durch das
ganze Seitenschiff fast bis zur Höhe des Hauptaltars, der Alte hörte nicht
auf, etwas zu zeigen, aber K. drehte sich absichtlich nicht um, das Zeigen
hatte keinen anderen Zweck, als ihn von der Spur des Alten abzubringen.
Schließlich ließ er wirklich von ihm, er wollte ihn nicht zu sehr ängstigen,
auch wollte er die Erscheinung, für den Fall, dass der Italiener doch noch
kommen sollte, nicht ganz verscheuchen.
Als er in das Hauptschiff trat,
um seinen Platz zu suchen, auf dem er das Album liegengelassen hatte,
bemerkte er an einer Säule, fast angrenzend an die Bänke des Altarchors,
eine kleine Nebenkanzel, ganz einfach, aus kahlem, bleichem Stein. Sie war
so klein, dass sie aus der Ferne wie eine noch leere Nische erschien,
[→HL 151] die
für die Aufnahme einer Heiligenstatue bestimmt war. Der Prediger konnte
gewiss keinen vollen Schritt von der Brüstung zurücktreten. Außerdem begann
die steinerne Einwölbung der Kanzel ungewöhnlich tief und stieg, zwar ohne
jeden Schmuck, aber derartig geschweift in die Höhe, dass ein mittelgroßer
Mann dort nicht aufrecht stehen konnte, sondern sich dauernd über die
Brüstung vorbeugen musste. Das Ganze war wie zur Qual des Predigers
bestimmt, es war unverständlich, wozu man diese Kanzel benötigte, da man
doch die andere, große und so kunstvoll geschmückte zur Verfügung hatte.
K. wäre auch diese kleine
Kanzel gewiss nicht aufgefallen, wenn nicht oben eine Lampe befestigt
gewesen wäre, wie man sie kurz vor einer Predigt bereitzustellen pflegt.
Sollte jetzt etwa eine Predigt stattfinden? In der leeren Kirche? K. sah an
der Treppe hinab, die an die Säule sich anschmiegend zur Kanzel führte und
so schmal war, als sollte sie nicht für Menschen, sondern nur zum Schmuck
der Säule dienen. Aber unten an der Kanzel, K. lächelte vor Staunen, stand
wirklich der Geistliche, hielt die Hand am Geländer, bereit aufzusteigen,
und sah auf K. hin. Dann nickte er ganz leicht mit dem Kopf, worauf K. sich
bekreuzigte und verbeugte, was er schon früher hätte tun sollen. Der
Geistliche gab sich einen kleinen Aufschwung und stieg mit kurzen, schnellen
Schritten die Kanzel hinauf. Sollte wirklich eine Predigt beginnen? War
vielleicht der Kirchendiener doch nicht so ganz vom Verstand verlassen und
hatte K. dem Prediger zutreiben wollen, was allerdings in der leeren Kirche
äußerst notwendig gewesen war? Übrigens gab es ja noch irgendwo vor einem
Marienbild ein altes Weib, das auch hätte kommen sollen. Und wenn es schon
eine Predigt sein sollte, warum wurde sie nicht von der Orgel eingeleitet?
Aber die blieb still und blinkte nur schwach aus der Finsternis ihrer großen
Höhe.
K. dachte daran, ob er sich
jetzt nicht eiligst entfernen sollte, wenn er es jetzt nicht tat, war keine
Aussicht, dass er es während der Predigt tun könnte, er musste dann bleiben,
solange sie dauerte, im Bureau verlor er soviel Zeit, auf den Italiener zu
warten, war er längst nicht mehr verpflichtet, er sah auf seine Uhr, es war
elf. Aber konnte denn wirklich gepredigt werden? Konnte K. allein die
Gemeinde darstellen? Wie, wenn er ein Fremder gewesen wäre, der nur die
Kirche besichtigen wollte? Im Grunde war er auch nichts anderes. Es war
unsinnig, daran zu denken, dass gepredigt werden sollte, jetzt um elf Uhr,
an einem Werktag, bei grässlichstem Wetter. Der Geistliche - ein Geistlicher
war es zweifellos, ein junger Mann mit glattem, dunklem Gesicht - ging
offenbar nur [→HL 152] hinauf, um die Lampe zu löschen, die irrtümlich angezündet
worden war.
Es war aber nicht so, der
Geistliche prüfte vielmehr das Licht und schraubte es noch ein wenig auf,
dann drehte er sich langsam der Brüstung zu, die er vom an der kantigen
Einfassung mit beiden Händen erfasste. So stand er eine Zeitlang und
blickte, ohne den Kopf zu rühren, umher. K. war ein großes Stück
zurückgewichen und lehnte mit den Ellbogen an der vordersten Kirchenbank.
Mit unsicheren Augen sah er irgendwo, ohne den Ort genau zu bestimmen, den
Kirchendiener, mit krummem Rücken, friedlich, wie nach beendeter Aufgabe,
sich zusammenkauern. Was für eine Stille herrschte jetzt im Dom! Aber K.
musste sie stören, er hatte nicht die Absicht, hier zu bleiben; wenn es die
Pflicht des Geistlichen war, zu einer bestimmten Stunde, ohne Rücksicht auf
die Umstände, zu predigen, so mochte er es tun, es würde auch ohne K.s
Beistand gelingen, ebenso wie die Anwesenheit K.s die Wirkung gewiss nicht
steigern würde. Langsam setzte sich also K. in Gang, tastete sich auf den
Fußspitzen an der Bank hin, kam dann in den breiten Hauptweg und ging dort
ganz ungestört, nur dass der steinerne Boden unter dem leisesten Schritt
erklang und die Wölbungen schwach, aber ununterbrochen, in vielfachem,
gesetzmäßigem Fortschreiten davon widerhallten. K. fühlte sich ein wenig
verlassen, als er dort, vom Geistlichen vielleicht beobachtet, zwischen den
leeren Bänken allein hindurchging, auch schien ihm die Größe des Doms gerade
an der Grenze des für Menschen noch Erträglichen zu liegen. Als er zu seinem
früheren Platz kam, haschte er förmlich, ohne weiteren Aufenthalt, nach dem
dort liegen gelassenen Album und nahm es an sich. Fast hatte er schon das
Gebiet der Bänke verlassen und näherte sich dem freien Raum, der zwischen
ihnen und dem Ausgang lag, als er zum ersten Mal die Stimme des Geistlichen
hörte. Eine mächtige, geübte Stimme. Wie durchdrang sie den zu ihrer
Aufnahme bereiten Dom! Es war aber nicht die Gemeinde, die der Geistliche
anrief, es war ganz eindeutig, und es gab keine Ausflüchte, er rief: »Josef
K.!«
K. stockte und sah vor sich auf
den Boden. Vorläufig war er noch frei, er konnte noch weitergehen und durch
eine der drei kleinen, dunklen Holztüren, die nicht weit vor ihm waren, sich
davonmachen. Es würde eben bedeuten, dass er nicht verstanden hatte, oder
dass er zwar verstanden hatte, sich aber darum nicht kümmern wollte. Falls
er sich aber umdrehte, war er festgehalten, denn dann hatte er das
Geständnis gemacht, dass er gut verstanden hatte, dass er wirklich der
Angerufene war und dass er auch folgen wollte. Hätte der Geistliche nochmals
gerufen, wäre K. gewiss
[→HL
153] fortgegangen, aber da alles still blieb, solange K.
auch wartete, drehte er doch ein wenig den Kopf, denn er wollte sehen, was
der Geistliche jetzt mache. Er stand ruhig auf der Kanzel wie früher, es war
aber deutlich zu sehen, dass er K.s Kopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein
kindliches Versteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K. nicht vollständig
umgedreht hätte. Er tat es und wurde vom Geistlichen durch ein Winken des
Fingers näher gerufen. Da jetzt alles offen geschehen konnte, lief er - er
tat es auch aus Neugierde und um die Angelegenheit abzukürzen - mit langen,
fliegenden Schritten der Kanzel entgegen. Bei den ersten Bänken machte er
halt, aber dem Geistlichen schien die Entfernung noch zu groß, er streckte
die Hand aus und zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle
knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er musste auf diesem Platz den
Kopf schon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehen. »Du bist
Josef K.«, sagte der Geistliche und erhob eine Hand auf der Brüstung in
einer unbestimmten Bewegung. »Ja«, sagte K., er dachte daran, wie offen er
früher immer seinen Namen genannt hatte, seit einiger Zeit war er ihm eine
Last, auch kannten jetzt seinen Namen Leute, mit denen er zum ersten Mal
zusammenkam, wie schön war es, sich zuerst vorzustellen und dann erst
gekannt zu werden. »Du bist angeklagt«, sagte der Geistliche besonders
leise. »Ja«, sagte K., »man hat mich davon verständigt.« »Dann bist du der,
den ich suche«, sagte der Geistliche. »Ich bin der Gefängniskaplan.« »Ach
so«, sagte K. »Ich habe dich hierher rufen lassen«, sagte der Geistliche,
»um mit dir zu sprechen.« »Ich wusste es nicht«, sagte K. »Ich bin hier
hergekommen, um einem Italiener den Dom zu zeigen.« »lass das
Nebensächliche«, sagte der Geistliche. »Was hältst du in der Hand? Ist es
ein Gebetbuch?« »Nein«, antwortete K., »es ist ein Album der städtischen
Sehenswürdigkeiten.« »Leg es aus der Hand«, sagte der Geistliche. K. warf es
so heftig weg, dass es aufklappte und mit zerdrückten Blättern ein Stück
über den Boden schleifte. »Weißt du, dass dein Prozess schlecht steht?«
fragte der Geistliche. »Es scheint mir auch so«, sagte K. »Ich habe mir alle
Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Allerdings habe ich die Eingabe noch
nicht fertig.« »Wie stellst du dir das Ende vor?« fragte der Geistliche.
»Früher dachte ich, es müsse gut enden«, sagte K., »jetzt zweifle ich daran
manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt du es?« »Nein«,
sagte der Geistliche, »aber ich fürchte, es wird schlecht enden. Man hält
dich für schuldig. Dein Prozess wird vielleicht über ein niedriges Gericht
gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig deine Schuld für
erwiesen.« »Ich bin aber nicht
[→HL 154] schuldig«, sagte K., »es ist ein Irrtum. Wie
kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle
Menschen, einer wie der andere.« »Das ist richtig«, sagte der Geistliche,
»aber so pflegen die Schuldigen zu reden.« »Hast auch du ein Vorurteil gegen
mich?« fragte K. »Ich habe kein Vorurteil gegen dich«, sagte der Geistliche.
»Ich danke dir«, sagte K., »alle anderen aber, die an dem Verfahren
beteiligt sind, haben ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es auch den
Unbeteiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger.« »Du missverstehst
die Tatsachen«, sagte der Geistliche, »das Urteil kommt nicht mit einemmal,
das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.« »So ist es also«, sagte K.
und senkte den Kopf. »Was willst du nächstens in deiner Sache tun?« fragte
der Geistliche. »Ich will noch Hilfe suchen«, sagte K. und hob den Kopf, um
zu sehen, wie der Geistliche es beurteile. »Es gibt noch gewisse
Möglichkeiten, die ich nicht ausgenützt habe.« »Du suchst zuviel fremde
Hilfe«, sagte der Geistliche missbilligend, »und
besonders bei Frauen.
Merkst du denn nicht, dass es nicht die wahre Hilfe ist?« »Manchmal und
sogar oft könnte ich dir recht geben«, sagte K., »aber nicht immer.
Die
Frauen haben eine große Macht.
Wenn ich einige Frauen, die ich kenne, dazu
bewegen könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müsste ich
durchdringen. Besonders bei diesem
Gericht, das fast nur aus Frauenjägern
besteht. Zeig dem Untersuchungsrichter eine Frau aus der Ferne, und er
überrennt, um nur rechtzeitig hinzukommen, den Gerichtstisch und den
Angeklagten.« Der Geistliche neigte den Kopf zur Brüstung, jetzt erst schien
die Überdachung der Kanzel ihn niederzudrücken. Was für ein Unwetter mochte
draußen sein? Das war kein trüber Tag mehr, das war schon tiefe Nacht. Keine
Glasmalerei der großen Fenster war imstande, die dunkle Wand auch nur mit
einem Schimmer zu unterbrechen. Und gerade jetzt begann der Kirchendiener,
die Kerzen auf dem Hauptaltar, eine nach der anderen, auszulöschen. »Bist du
mir böse?« fragte K. den Geistlichen. »Du weißt vielleicht nicht, was für
einem Gericht du dienst.« Er bekam keine Antwort. »Es sind doch nur meine
Erfahrungen«, sagte K. Oben blieb es noch immer still. »Ich wollte dich
nicht beleidigen«, sagte K. Da schrie der Geistliche zu K. hinunter: »Siehst
du denn nicht zwei Schritte weit?« Es war im Zorn geschrien, aber
gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und, weil er selbst
erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen schreit.
Nun schwiegen beide lange.
Gewiss konnte der Geistliche in dem Dunkel, das unten herrschte, K. nicht
genau erkennen, während K. den Geistlichen im Licht der kleinen Lampe
deutlich [→HL 155] sah. Warum kam der Geistliche nicht herunter? Eine Predigt hatte er
ja nicht gehalten, sondern K. nur einige Mitteilungen gemacht, die ihm, wenn
er sie genau beachtete, wahrscheinlich mehr schaden als nützen würden. Wohl
aber schien K. die gute Absicht des Geistlichen zweifellos zu sein, es war
nicht unmöglich, dass er sich mit ihm, wenn er herunterkäme, einigen würde,
es war nicht unmöglich, dass er von ihm einen entscheidenden und annehmbaren
Rat bekäme, der ihm zum Beispiel zeigen würde, nicht etwa wie der Prozess zu
beeinflussen war, sondern wie man aus dem Prozess ausbrechen, wie man ihn
umgehen, wie man außerhalb des Prozesses leben könnte. Diese Möglichkeit
musste bestehen, K. hatte in der letzten Zeit öfters an sie gedacht. wusste
aber der Geistliche eine solche Möglichkeit, würde er sie vielleicht, wenn
man ihn darum bat, verraten, obwohl er selbst zum Gerichte gehörte und
obwohl er, als K. das Gericht angegriffen hatte, sein sanftes Wesen
unterdrückt und K. sogar angeschrien hatte.
»Willst du nicht
herunterkommen?« sagte K. »Es ist doch keine Predigt zu halten. Komm zu mir
herunter.« »Jetzt kann ich schon kommen«, sagte der Geistliche, er bereute
vielleicht sein Schreien. Während er die Lampe von ihrem Haken löste, sagte
er: »Ich musste zuerst aus der Entfernung mit dir sprechen. Ich lasse mich
sonst zu leicht beeinflussen und vergesse meinen Dienst.«
K. erwartete ihn unten an der
Treppe. Der Geistliche streckte ihm schon von einer oberen Stufe im
Hinuntergehen die Hand entgegen. »Hast du ein wenig Zeit für mich?« fragte
K. »Soviel Zeit, als du brauchst«, sagte der Geistliche und reichte K. die
kleine Lampe, damit er sie trage. Auch in der Nähe verlor sich eine gewisse
Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. »Du bist sehr freundlich zu mir«,
sagte K., sie gingen nebeneinander im dunklen Seitenschiff auf und ab. »Du
bist eine Ausnahme unter allen, die zum Gericht gehören. Ich habe mehr
Vertrauen zu dir als zu irgend jemandem von ihnen, so viele ich schon kenne.
Mit dir kann ich offen reden.« »Täusche dich nicht«, sagte der Geistliche.
»Worin sollte ich mich denn täuschen?« fragte K. »In dem Gericht täuschst du
dich«, sagte der Geistliche, »in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt
es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem
Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber
der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der
Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. «Es
ist möglich», sagt der Türhüter, «jetzt aber nicht». Da das Tor zum Gesetz
offen steht wie immer und der Türhüter bei-[→HL
156]seite tritt, bückt sich der Mann,
um durch das Tor in das Innere zu sehen.
Als der Türhüter das merkt,
lacht er und sagt: «Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meinem
Verbot hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der
unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger
als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr
vertragen.» Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet,
das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er
jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große
Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen, tartarischen Bart, entschließt er
sich doch, lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der
Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich
niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche,
eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der
Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragte ihn nach seiner
Heimat aus und nach vielem anderen, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie
sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagte er ihm immer wieder, dass
er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit
vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den
Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: «Ich
nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.» Während
der vielen Jahre beobachtete der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er
vergisst die anderen Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige
Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen
Zufall in den ersten Jahren laut, später, als er alt wird, brummt er nur
noch vor sich hin. Er wird kindisch, und da er in dem jahrelangen Studium
des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er
auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird
sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler
wird oder ob ihn nur die Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im
Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun
lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle
Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter
noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper
nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm
hinunterneigen, denn die Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des
Mannes verändert. «Was willst du denn jetzt noch wissen?» fragt der
Türhüter, «du bist unersättlich.» «Alle streben doch nach dem Gesetz», sagt
der Mann, «wieso [→HL 157]
kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlas
verlangt hat?» Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon am Ende ist, und um
sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: «Hier konnte
niemand sonst Einlas erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich
bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.»«
»Der Türhüter hat also den Mann
getäuscht«, sagte K. sofort, von der Geschichte sehr stark angezogen. »Sei
nicht übereilt«, sagte der Geistliche, »übernimm nicht die fremde Meinung
ungeprüft. Ich habe dir die Geschichte im Wortlaut der Schrift erzählt. Von
Täuschung steht darin nichts.« »Es ist aber klar«, sagte K., »und deine
erste Deutung war ganz richtig. Der Türhüter hat die erlösende Mitteilung
erst dann gemacht, als sie dem Manne nicht mehr helfen konnte.« »Er wurde
nicht früher gefragt«, sagte der Geistliche, »bedenke auch, dass er nur
Türhüter war, und als solcher hat er seine Pflicht erfüllt.« »Warum glaubst
du, dass er seine Pflicht erfüllt hat?« fragte K., »er hat sie nicht
erfüllt. Seine Pflicht war es vielleicht, alle Fremden abzuwehren, diesen
Mann aber, für den der Eingang bestimmt war, hätte er einlassen müssen.« »Du
hast nicht genug Achtung vor der Schrift und veränderst die Geschichte«,
sagte der Geistliche. »Die Geschichte enthält über den Einlas ins Gesetz
zwei wichtige Erklärungen des Türhüters, eine am Anfang, eine am Ende. Die
eine Stelle lautet: dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne, und
die andere: dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Bestände zwischen
diesen beiden Erklärungen ein Widerspruch, dann hättest du recht, und der
Türhüter hätte den Mann getäuscht. Nun besteht aber kein Widerspruch. Im
Gegenteil, die erste Erklärung deutet sogar auf die zweite hin. Man könnte
fast sagen, der Türhüter ging über seine Pflicht hinaus, indem er dem Mann
eine zukünftige Möglichkeit des Einlasses in Aussicht stellte. Zu jener Zeit
scheint es nur seine Pflicht gewesen zu sein, den Mann abzuweisen, und
tatsächlich wundern sich viele Erklärer der Schrift darüber, dass der
Türhüter jene Andeutung überhaupt gemacht hat, denn er scheint die
Genauigkeit zu lieben und wacht streng über sein Amt. Durch viele Jahre
verlässt er seinen Posten nicht und schließt das Tor erst ganz zuletzt, er
ist sich der Wichtigkeit seines Dienstes sehr bewusst, denn er sagt: «Ich
bin mächtig», er hat Ehrfurcht vor den Vorgesetzten, denn er sagt: «Ich bin
nur der unterste Türhüter», er ist nicht geschwätzig, denn während der
vielen Jahre stellt er nur, wie es heißt, «teilnahmslose Fragen», er ist
nicht be-[→HL 158]stechlich, denn er sagt über ein Geschenk: «Ich nehme es nur an,
damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben», er ist, wo es um
Pflichterfüllung geht, weder zu rühren noch zu erbittern, denn es heißt von
dem Mann, «er ermüdet den Türhüter durch sein Bitten», schließlich deutet
auch sein Äußeres auf einen pedantischen Charakter hin, die große Spitznase
und der lange, dünne, schwarze, tartarische Bart. Kann es einen
pflichttreueren Türhüter geben? Nun mischen sich aber in den Türhüter noch
andere Wesenszüge ein, die für den, der Einlas verlangt, sehr günstig sind
und welche es immerhin begreiflich machen, dass er in jener Andeutung einer
zukünftigen Möglichkeit über seine Pflicht etwas hinausgehen konnte. Es ist
nämlich nicht zu leugnen, dass er ein wenig einfältig und im Zusammenhang
damit ein wenig eingebildet ist. Wenn auch seine Äußerungen über seine Macht
und über die Macht der anderen Türhüter und über deren sogar für ihn
unerträglichen Anblick - ich sage, wenn auch alle diese Äußerungen an sich
richtig sein mögen, so zeigt doch die Art, wie er diese Äußerungen
vorbringt, dass seine Auffassung durch Einfalt und Überhebung getrübt ist.
Die Erklärer sagen hierzu: «Richtiges Auffassen einer Sache und
missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.»
Jedenfalls aber muss man annehmen, dass jene Einfalt und Überhebung, so
geringfügig sie sich vielleicht auch äußern, doch die Bewachung des Eingangs
schwächen, es sind Lücken im Charakter des Türhüters. Hiezu kommt noch, dass
der Türhüter seiner Naturanlage nach freundlich zu sein scheint, er ist
durchaus nicht immer Amtsperson.
Gleich in den ersten
Augenblicken macht er den Spaß, dass er den Mann trotz dem ausdrücklich
aufrechterhaltenen Verbot zum Eintritt einlädt, dann schickt er ihn nicht
etwa fort, sondern gibt ihm, wie es heißt, einen Schemel und lässt ihn
seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Die Geduld, mit der er durch alle
die Jahre die Bitten des Mannes erträgt, die kleinen Verhöre, die Annahme
der Geschenke, die Vornehmheit, mit der er es zulässt, dass der Mann neben
ihm laut den unglücklichen Zufall verflucht, der den Türhüter hier
aufgestellt hat - alles dieses lässt auf Regungen des Mitleids schließen.
Nicht jeder Türhüter hätte so gehandelt. Und schließlich beugt er sich noch
auf einen Wink hin tief zu dem Mann hinab, um ihm Gelegenheit zur letzten
Frage zu geben. Nur eine schwache Ungeduld - der Türhüter weiß ja, dass
alles zu Ende ist - spricht sich in den Worten aus: «Du bist unersättlich.»
Manche gehen sogar in dieser Art der Erklärung noch weiter und meinen, die
Worte «Du bist unersättlich» drücken eine Art freundschaftlicher Bewunderung
aus, die allerdings von Herablassung nicht frei ist. Jedenfalls schließt
sich so die Gestalt des Türhüters anders ab, als du es glaubst.« »Du kennst
die Geschichte genauer als ich und längere Zeit«, sagte K.
[→HL 159] Sie schwiegen ein
Weilchen. Dann sagte K.: »Du glaubst also, der Mann wurde nicht getäuscht?«
»Missverstehe mich nicht«, sagte der Geistliche, »ich zeige dir nur die
Meinungen, die darüber bestehen. Du musst nicht zuviel auf Meinungen achten.
Die Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck
der Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar eine Meinung, nach
welcher gerade der Türhüter der Getäuschte ist.« »Das ist eine weitgehende
Meinung«, sagte K. »Wie wird sie begründet?« »Die Begründung«, antwortete
der Geistliche, »geht von der Einfalt des Türhüters aus. Man sagt, dass er
das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg, den er vor dem
Eingang immer wieder abgehen muss. Die Vorstellungen, die er von dem Innern
hat, werden für kindlich gehalten, und man nimmt an, dass er das, wovor er
dem Manne Furcht machen will, selbst fürchtet. Ja, er fürchtet es mehr als
der Mann, denn dieser will ja nichts anderes als eintreten, selbst als er
von den schrecklichen Türhütern des Innern gehört hat, der Türhüter dagegen
will nicht eintreten, wenigstens erfährt man nichts darüber. Andere sagen
zwar, dass er bereits im Innern gewesen sein muss, denn er ist doch einmal
in den Dienst des Gesetzes aufgenommen worden, und das könne nur im Innern
geschehen sein. Darauf ist zu antworten, dass er wohl auch durch einen Ruf
aus dem Innern zum Türhüter bestellt worden sein könnte und dass er
zumindest tief im Innern nicht gewesen sein dürfte, da er doch schon den
Anblick des dritten Türhüters nicht mehr ertragen kann. Außerdem aber wird
auch nicht berichtet, dass er während der vielen Jahre außer der Bemerkung
über die Türhüter irgend etwas von dem Innern erzählt hätte. Es könnte ihm
verboten sein, aber auch vom Verbot hat er nichts erzählt. Aus alledem
schließt man, dass er über das Aussehen und die Bedeutung des Innern nichts
weiß und sich darüber in Täuschung befindet. Aber auch über den Mann vom
Lande soll er sich in Täuschung befinden, denn er ist diesem Mann
untergeordnet und weiß es nicht. dass er den Mann als einen Untergeordneten
behandelt, erkennt man aus vielem, das dir noch erinnerlich sein dürfte.
dass er ihm aber tatsächlich untergeordnet ist, soll nach dieser Meinung
ebenso deutlich hervorgehen. Vor allem ist der Freie dem Gebundenen
übergeordnet. Nun ist der Mann tatsächlich frei, er kann hingehen, wohin er
will, nur der Eingang in das Gesetz ist ihm verboten, und überdies nur von
einem einzelnen, vom Türhüter. Wenn er sich auf den Schemel seitwärts vom
Tor niedersetzt und dort sein Leben lang bleibt, so geschieht dies
freiwillig, die Geschichte erzählt von keinem Zwang. Der Türhüter dagegen
ist durch sein Amt an seinen Posten gebunden, er darf
[→HL 160] sich nicht auswärts
entfernen, allem Anschein nach aber auch nicht in das Innere gehen, selbst
wenn er es wollte. Außerdem ist er zwar im Dienst des Gesetzes, dient aber
nur für diesen Eingang, also auch nur für diesen Mann, für den dieser
Eingang allein bestimmt ist. Auch aus diesem Grunde ist er ihm
untergeordnet. Es ist anzunehmen, dass er durch viele Jahre, durch ein
ganzes Mannesalter gewissermaßen nur leeren Dienst geleistet hat, denn es
wird gesagt, dass ein Mann kommt, also jemand im Mannesalter, dass also der
Türhüter lange warten musste, ehe sich sein Zweck erfüllte, und zwar so
lange warten musste, als es dem Mann beliebte, der doch freiwillig kam. Aber
auch das Ende des Dienstes wird durch das Lebensende des Mannes bestimmt,
bis zum Ende also bleibt er ihm untergeordnet. Und immer wieder wird betont,
dass von alledem der Türhüter nichts zu wissen scheint. Daran wird aber
nichts Auffälliges gesehen, denn nach dieser Meinung befindet sich der
Türhüter noch in einer viel schwereren Täuschung, sie betrifft seinen
Dienst. Zuletzt spricht er nämlich vom Eingang und sagt: «Ich gehe jetzt und
schließe ihn», aber am Anfang heißt es, dass das Tor zum Gesetz offen steht
wie immer, steht es aber immer offen, immer, das heißt unabhängig von der
Lebensdauer des Mannes, für den es bestimmt ist, dann wird es auch der
Türhüter nicht schließen können. Darüber gehen die Meinungen auseinander, ob
der Türhüter mit der Ankündigung, dass er das Tor schließen wird, nur eine
Antwort geben oder seine Dienstpflicht betonen oder den Mann noch im letzten
Augenblick in Reue und Trauer setzen will. Darin aber sind viele einig, dass
er das Tor nicht wird schließen können. Sie glauben sogar, dass er,
wenigstens am Ende, auch in seinem Wissen dem Manne untergeordnet ist, denn
dieser sieht den Glanz, der aus dem Eingang des Gesetzes bricht, während der
Türhüter als solcher wohl mit dem Rücken zum Eingang steht und auch durch
keine Äußerung zeigt, dass er eine Veränderung bemerkt hätte.« »Das ist gut
begründet«, sagte K., der einzelne Stellen aus der Erklärung des Geistlichen
halblaut für sich wiederholt hatte. »Es ist gut begründet, und ich glaube
nun auch, dass der Türhüter getäuscht ist. Dadurch bin ich aber von meiner
früheren Meinung nicht abgekommen, denn beide decken sich teilweise. Es ist
unentscheidend, ob der Türhüter klar sieht oder getäuscht wird. Ich sagte,
der Mann wird getäuscht. Wenn der Türhüter klar sieht, könnte man daran
zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist, dann muss sich seine
Täuschung notwendig auf den Mann übertragen. Der Türhüter ist dann zwar kein
Betrüger, aber so einfältig, dass er sofort aus dem Dienst gejagt werden
müsste. Du musst doch bedenken, dass die
[→HL 161] Täuschung, in der sich der Türhüter
befindet, ihm nichts schadet, dem Mann aber tausendfach.« »Hier stößt du auf
eine Gegenmeinung«, sagte der Geistliche. »Manche sagen nämlich, dass die
Geschichte niemandem ein Recht gibt, über den Türhüter zu urteilen. Wie er
uns auch erscheinen mag, ist er doch ein Diener des Gesetzes, also zum
Gesetz gehörig, also dem menschlichen Urteil entrückt. Man darf dann auch
nicht glauben, dass der Türhüter dem Manne untergeordnet ist. Durch seinen
Dienst auch nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein, ist
unvergleichlich mehr, als frei in der Welt zu leben. Der Mann kommt erst zum
Gesetz, der Türhüter ist schon dort. Er ist vom Gesetz zum Dienst bestellt,
an seiner Würdigkeit zu zweifeln, hieße am Gesetz zweifeln.« »Mit dieser
Meinung stimme ich nicht überein«, sagte K. kopfschüttelnd, »denn wenn man
sich ihr anschließt, muss man alles, was der Türhüter sagt, für wahr halten.
dass das aber nicht möglich ist, hast du ja selbst ausführlich begründet.«
»Nein«, sagte der Geistliche, »man muss nicht alles für wahr halten, man
muss es nur für notwendig halten.« »Trübselige Meinung«, sagte K. »Die Lüge
wird zur Weltordnung gemacht.«
K. sagte das abschließend, aber
sein Endurteil war es nicht. Er war zu müde, um alle Folgerungen der
Geschichte übersehen zu können, es waren auch ungewohnte Gedankengänge, in
die sie ihn führte, unwirkliche Dinge, besser geeignet zur Besprechung für
die Gesellschaft der Gerichtsbeamten als für ihn. Die einfache Geschichte
war unförmlich geworden, er wollte sie von sich abschütteln, und der
Geistliche, der jetzt ein großes Zartgefühl bewies, duldete es und nahm K.s
Bemerkung schweigend auf, obwohl sie mit seiner eigenen Meinung gewiss nicht
übereinstimmte. Sie gingen eine Zeitlang schweigend weiter, K. hielt sich
eng neben dem Geistlichen, ohne zu wissen, wo er sich befand. Die Lampe in
seiner Hand war längst erloschen. Einmal blinkte gerade vor ihm das silberne
Standbild eines Heiligen nur mit dem Schein des Silbers und spielte gleich
wieder ins Dunkel über. Um nicht vollständig auf den Geistlichen angewiesen
zu bleiben, fragte ihn K.: »Sind wir jetzt nicht in der Nähe des
Haupteinganges?« »Nein«, sagte der Geistliche, »wir sind weit von ihm
entfernt. Willst du schon fortgehen?« Obwohl K. gerade jetzt nicht daran
gedacht hatte, sagte er sofort: »Gewiss, ich muss fortgehen. Ich bin
Prokurist einer Bank, man wartet auf mich, ich bin nur hergekommen, um einem
ausländischen Geschäftsfreund den Dom zu zeigen.«
»Nun«, sagte der Geistliche,
und reichte K. [→HL 162]
die Hand, »dann geh.« »Ich kann mich aber im Dunkel allein
nicht zurechtfinden«, sagte K. »Geh links zur Wand«, sagte der Geistliche,
»dann weiter die Wand entlang, ohne sie zu verlassen, und du wirst einen
Ausgang finden.« Der Geistliche hatte sich erst ein paar Schritte entfernt,
aber K. rief schon sehr laut: »Bitte, warte noch!« »Ich warte«, sagte der
Geistliche. »Willst du nicht noch etwas von mir?« fragte K. »Nein«, sagte
der Geistliche. »Du warst früher so freundlich zu mir«, sagte K., »und hast
mir alles erklärt, jetzt aber entlässt du mich, als läge dir nichts an mir.«
»Du musst doch fortgehen«, sagte der Geistliche. »Nun ja«, sagte K., »sieh
das doch ein.« »Sieh du zuerst ein, wer ich bin«, sagte der Geistliche. »Du
bist der Gefängniskaplan«, sagte K. und ging näher zum Geistlichen hin,
seine sofortige Rückkehr in die Bank war nicht so notwendig, wie er sie
dargestellt hatte, er konnte recht gut noch hier bleiben. »Ich gehöre also
zum Gericht«, sagte der Geistliche. »Warum sollte ich also etwas von dir
wollen. Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst,
und es entlässt dich, wenn du gehst.«
ENDE
Am Vorabend seines
einunddreißigsten Geburtstages - es war gegen neun Uhr abends, die Zeit der
Stille auf den Straßen - kamen zwei Herren in K.s Wohnung. In Gehröcken,
bleich und fett, mit scheinbar unverrückbaren Zylinderhüten. Nach einer
kleinen Förmlichkeit bei der Wohnungstür wegen des ersten Eintretens
wiederholte sich die gleiche Förmlichkeit in größerem Umfange vor K.s Tür.
Ohne dass ihm der Besuch angekündigt gewesen wäre, saß K., gleichfalls
schwarz angezogen, in einem Sessel in der Nähe der Tür und zog langsam neue,
scharf sich über die Finger spannende Handschuhe an, in der Haltung, wie man
Gäste erwartet. Er stand gleich auf und sah die Herren neugierig an. »Sie
sind also für mich bestimmt?« fragte er. Die Herren nickten, einer zeigte
mit dem Zylinderhut in der Hand auf den anderen. K. gestand sich ein, dass
er einen anderen Besuch erwartet hatte. Er ging zum Fenster und sah noch
einmal auf die dunkle Straße. Auch fast alle Fenster auf der anderen
Straßenseite waren schon dunkel, in vielen die Vorhänge herabgelassen. In
einem beleuchteten Fenster des Stockwerkes spielten kleine Kinder hinter
einem Gitter miteinander und tasteten, noch unfähig, sich von ihren Plätzen
fortzubewegen, mit den Händchen nacheinander. »Alte, unterge-[→HL
163]ordnete
Schauspieler schickt man um mich«, sagte sich K. und sah sich um, um sich
nochmals davon zu überzeugen. »Man sucht auf billige Weise mit mir fertig zu
werden.« K. wendete sich plötzlich ihnen zu und fragte: »An welchem Theater
spielen Sie?« »Theater?« fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den
anderen um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem
widerspenstigsten Organismus kämpft. »Sie sind nicht darauf vorbereitet,
gefragt zu werden«, sagte sich K. und ging seinen Hut holen.
Schon auf der Treppe wollten sich die Herren in K. einhängen, aber K. sagte:
»Erst auf der Gasse, ich bin nicht krank.« Gleich aber vor dem Tor hängten
sie sich in ihn in einer Weise ein, wie K. noch niemals mit einem Menschen
gegangen war. Sie hielten die Schultern eng hinter den seinen, knickten die
Arme nicht ein, sondern benützten sie, um K.s Arme in ihrer ganzen Länge zu
umschlingen, unten erfassten sie K.s Hände mit einem schulmäßigen,
eingeübten, unwiderstehlichen Griff. K. ging straff gestreckt zwischen
ihnen, sie bildeten jetzt alle drei eine solche Einheit, dass, wenn man
einen von ihnen zerschlagen hätte, alle zerschlagen gewesen wären. Es war
eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses bilden kann.
Unter den Laternen versuchte K.
öfters, so schwer es bei diesem engen Aneinander ausgeführt werden konnte,
seine Begleiter deutlicher zu sehen, als es in der Dämmerung seines Zimmers
möglich gewesen war. »Vielleicht sind es Tenöre«, dachte er im Anblick ihres
schweren Doppelkinns. Er ekelte sich vor der Reinlichkeit ihrer Gesichter.
Man sah förmlich noch die säubernde Hand, die in ihre Augenwinkel gefahren,
die ihre Oberlippe gerieben, die die Falten am Kinn ausgekratzt hatte. Als
K. das bemerkte, blieb er stehen, infolgedessen blieben auch die andern
stehen; sie waren am Rand eines freien, menschenleeren, mit Anlagen
geschmückten Platzes. »Warum hat man gerade Sie geschickt!« rief er mehr,
als er fragte. Die Herren wussten scheinbar keine Antwort, sie warteten mit
dem hängenden, freien Arm, wie Krankenwärter, wenn der Kranke sich ausruhen
will. »Ich gehe nicht weiter«, sagte K. versuchsweise. Darauf brauchten die
Herren nicht zu antworten, es genügte, dass sie den Griff nicht lockerten
und K. von der Stelle wegzuheben versuchten, aber K. widerstand. »Ich werde
nicht mehr viel Kraft brauchen, ich werde jetzt alle anwenden«, dachte er.
Ihm fielen die Fliegen ein, die mit zerreißenden Beinchen von der Leimrute
wegstrebten. »Die Herren werden schwere Arbeit haben.«
Da stieg vor ihnen aus einer
tiefer gelegenen Gasse auf einer
[→HL 164] kleinen Treppe
Fräulein Bürstner zum Platz
empor. Es war nicht ganz sicher, ob sie es war, die Ähnlichkeit war freilich
groß. Aber K. lag auch nichts daran, ob es bestimmt Fräulein Bürstner war,
bloß die Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm gleich zum Bewusstsein.
Es war nichts Heldenhaftes, wenn er widerstand, wenn er jetzt den Herren
Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt in der Abwehr noch den letzten
Schein des Lebens zu genießen versuchte. Er setzte sich in Gang, und von der
Freude, die er dadurch den Herren machte, ging noch etwas auf ihn selbst
über. Sie duldeten es jetzt, dass er die Wegrichtung bestimmte, und er
bestimmte sie nach dem Weg, den das Fräulein vor ihnen nahm, nicht etwa,
weil er sie einholen, nicht etwa, weil er sie möglichst lange sehen wollte,
sondern nur deshalb, um die Mahnung, die sie für ihn bedeutete, nicht zu
vergessen. »Das einzige, was ich jetzt tun kann«, sagte er sich, und das
Gleichmaß seiner Schritte und der Schritte der beiden anderen bestätigte
seine Gedanken, »das einzige, was ich jetzt tun kann, ist, bis zum Ende den
ruhig einteilenden Verstand behalten. Ich wollte immer mit zwanzig Händen in
die Welt hineinfahren und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das
war unrichtig. Soll ich nun zeigen, dass nicht einmal der einjährige Prozess
mich belehren konnte? Soll ich als ein begriffsstutziger Mensch abgehen?
Soll man mir nachsagen dürfen, dass ich am Anfang des Prozesses ihn beenden
wollte und jetzt, an seinem Ende, ihn wieder beginnen will? Ich will nicht,
dass man das sagt. Ich bin dafür dankbar, dass man mir auf diesem Weg diese
halbstummen, verständnislosen Herren mitgegeben hat und dass man es mir
überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen.«
Das Fräulein war inzwischen in
eine Seitengasse eingebogen, aber K. konnte sie schon entbehren und überließ
sich seinen Begleitern. Alle drei zogen nun in vollem Einverständnis über
eine Brücke im Mondschein, jeder kleinen Bewegung, die K. machte, gaben die
Herren jetzt bereitwillig nach, als er ein wenig zum Geländer sich wendete,
drehten auch sie sich in ganzer Front dorthin. Das im Mondlicht glänzende
und zitternde Wasser teilte sich um eine kleine Insel, auf der, wie
zusammengedrängt, Laubmassen von Bäumen und Sträuchern sich aufhäuften.
Unter ihnen, jetzt unsichtbar, führten Kieswege mit bequemen Bänken, auf
denen K. in manchem Sommer sich gestreckt und gedehnt hatte. »Ich wollte ja
gar nicht Stehen bleiben«, sagte er zu seinen Begleitern, beschämt durch
ihre Bereitwilligkeit. Der eine schien dem anderen hinter K.s Rücken einen
sanften Vorwurf wegen des missverständlichen Stehenbleibens zu machen, dann
gingen sie weiter.[→HL 165] Sie kamen durch einige ansteigende Gassen, in denen hie
und da Polizisten standen oder gingen; bald in der Ferne, bald in nächster
Nähe. Einer mit buschigem Schnurrbart, die Hand am Griff des Säbels, trat
wie mit Absicht nahe an die nicht ganz unverdächtige Gruppe. Die Herren
stockten, der Polizeimann schien schon den Mund zu öffnen, da zog K. mit
Macht die Herren vorwärts. Öfters drehte er sich vorsichtig um, ob der
Polizeimann nicht folgte; als sie aber eine Ecke zwischen sich und dem
Polizeimann hatten, fing K. zu laufen an, die Herren mussten trotz großer
Atemnot auch mit laufen.
So kamen sie rasch aus der
Stadt hinaus, die sich in dieser Richtung fast ohne Übergang an die Felder
anschloss. Ein kleiner Steinbruch, verlassen und öde, lag in der Nähe eines
noch ganz städtischen Hauses. Hier machten die Herren halt, sei es, dass
dieser Ort von allem Anfang an ihr Ziel gewesen war, sei es, dass sie zu
erschöpft waren, um noch weiter zu laufen. Jetzt ließen sie K. los, der
stumm wartete, nahmen die Zylinderhüte ab und wischten sich, während sie
sich im Steinbruch umsahen, mit den Taschentüchern den Schweiß von der
Stirn. Überall lag der Mondschein mit seiner Natürlichkeit und Ruhe, die
keinem anderen Licht gegeben ist.
Nach Austausch einiger
Höflichkeiten hinsichtlich dessen, wer die nächsten Aufgaben auszuführen
habe - die Herren schienen die Aufträge ungeteilt bekommen zu haben -, ging
der eine zu K. und zog ihm den Rock, die Weste und schließlich das Hemd aus.
K. fröstelte unwillkürlich, worauf ihm der Herr einen leichten, beruhigenden
Schlag auf den Rücken gab. Dann legte er die Sachen sorgfältig zusammen, wie
Dinge, die man noch gebrauchen wird, wenn auch nicht in allernächster Zeit.
Um K. nicht ohne Bewegung der immerhin kühlen Nachtluft auszusetzen, nahm er
ihn unter den Arm und ging mit ihm ein wenig auf und ab, während der andere
Herr den Steinbruch nach irgendeiner passenden Stelle absuchte. Als er sie
gefunden hatte, winkte er, und der andere Herr geleitete K. hin. Es war nahe
der Bruchwand, es lag dort ein losgebrochener Stein. Die Herren setzten K.
auf die Erde nieder, lehnten ihn an den Stein und betteten seinen Kopf
obenauf. Trotz aller Anstrengung, die sie sich gaben, und trotz allem
Entgegenkommen, das ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehr
gezwungene und unglaubwürdige. Der eine Herr bat daher den anderen, ihm für
ein Weilchen das Hinlegen K.s allein zu überlassen, aber auch dadurch wurde
es nicht besser.
Schließlich ließen sie K. in
einer Lage, die nicht einmal die beste von den bereits erreichten Lagen war.
Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm
[→HL 166] aus einer Scheide, die an
einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes, beiderseitig
geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht.
Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg
das Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wusste
jetzt genau, dass es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand
zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er
tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig
konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die
Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu
nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk
des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren
die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und
dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte
die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer,
der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle?
War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es
solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben
will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo
war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und
spreizte alle Finger.
Aber an K.s Gurgel legten sich
die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz
stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die
Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die
Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die
Scham ihn überleben. [→HL
167]
FRAGMENTE
B.s FREUNDIN
In der nächsten Zeit war es K.
unmöglich, mit Fräulein Bürstner auch nur wenige Worte zu sprechen. Er
versuchte auf die verschiedenste Weise, an sie heranzukommen, sie aber
wusste es immer zu verhindern. Er kam gleich nach dem Bureau nach Hause, blieb
in seinem Zimmer, ohne das Licht anzudrehen, auf dem Kanapee sitzen und
beschäftigte sich mit nichts anderem, als das Vorzimmer zu beobachten. Ging
etwa das Dienstmädchen vorbei und schloss die Tür des scheinbar leeren
Zimmers, so stand er nach einem Weilchen auf und öffnete sie wieder. Des
Morgens stand er um eine Stunde früher auf als sonst, um vielleicht Fräulein Bürstner allein treffen zu können, wenn sie ins Bureau ging. Aber keiner
dieser Versuche gelang. Dann schrieb er ihr einen
Brief sowohl ins Bureau als
auch in die Wohnung, suchte darin nochmals sein Verhalten zu rechtfertigen,
bot sich zu jeder Genugtuung an, versprach, niemals die Grenzen zu
überschreiten, die sie ihm setzen würde, und bat nur, ihm die Möglichkeit zu
geben, einmal mir ihr zu sprechen, besonders da er auch bei Frau Grubach
nichts veranlassen könnte, solange er sich nicht vorher mit ihr beraten
habe, schließlich teilte er ihr mit, dass er den nächsten Sonntag während
des ganzen Tages in seinem Zimmer auf ein Zeichen von ihr warten werde, das
ihm die Erfüllung seiner Bitte in Aussicht stellen oder das ihm wenigstens
erklären solle, warum sie die Bitte nicht erfüllen könne, obwohl er doch
versprochen habe, sich in allem ihr zu fügen. Die Briefe kamen nicht zurück,
aber es erfolgte auch keine Antwort. Dagegen gab es Sonntag ein Zeichen,
dessen Deutlichkeit genügend war. Gleich früh bemerkte K. durch das
Schlüsselloch eine besondere Bewegung im Vorzimmer, die sich bald aufklärte.
Eine Lehrerin des Französischen, sie war übrigens
eine Deutsche und hieß
Montag, ein schwaches, blasses, ein wenig hinkendes Mädchen, das bisher ein
eigenes Zimmer bewohnt hatte, übersiedelte in das Zimmer des Fräulein
Bürstner. Stundenlang sah man sie durch das Vorzimmer schlürfen. Immer war
noch ein Wäschestück oder ein Deckchen oder ein Buch vergessen, das
besonders geholt und in die neue Wohnung hinübergetragen werden musste.
Als Frau Grubach K. das Frühstück brachte - sie überließ, seitdem sie K. so
erzürnt hatte, auch nicht die geringste Bedienung dem Dienstmädchen -,
konnte sich K. nicht zurückhalten, sie zum
[→HL 168] ersten Mal seit fünf Tagen
anzusprechen. »Warum ist denn heute ein solcher Lärm im Vorzimmer?« fragte
er, während er den Kaffee eingoss, »könnte das nicht eingestellt werden?
muss denn gerade am Sonntag aufgeräumt werden?« Obwohl K. nicht zu Frau
Grubach aufsah, bemerkte er doch, dass sie, wie erleichtert, aufatmete.
Selbst diese strengen Fragen
K.s fasste sie als Verzeihung oder als Beginn der Verzeihung auf. »Es wird
nicht aufgeräumt, Herr K.«, sagte sie, »Fräulein Montag übersiedelt nur zu
Fräulein Bürstner und schafft ihre Sachen hinüber.« Sie sagte nichts weiter,
sondern wartete, wie K. es aufnehmen und ob er ihr gestatten würde,
weiterzureden. K. stellte sie aber auf die Probe, rührte nachdenklich den
Kaffee mit dem Löffel und schwieg. Dann sah er zu ihr auf und sagte: »Haben
Sie schon Ihren früheren Verdacht wegen Fräulein Bürstner aufgegeben?« »Herr
K.«, rief Frau Grubach, die nur auf diese Frage gewartet hatte, und hielt K.
ihre gefalteten Hände hin. »Sie haben eine gelegentliche Bemerkung letzthin
so schwer genommen. Ich habe ja nicht im entferntesten daran gedacht, Sie
oder irgend jemand zu kränken. Sie kennen mich doch schon lange genug, Herr
K., um davon überzeugt sein zu können. Sie wissen gar nicht, wie ich die
letzten Tage gelitten habe! Ich sollte meine Mieter verleumden! Und Sie,
Herr K., glaubten es! Und sagten, ich solle Ihnen kündigen! Ihnen kündigen!«
Der letzte Ausruf erstickte schon unter Tränen, sie hob die Schürze zum
Gesicht und schluchzte laut.
»Weinen Sie doch nicht, Frau
Grubach«, sagte K. und sah zum Fenster hinaus, er dachte nur an Fräulein
Bürstner und daran, dass sie ein fremdes Mädchen in ihr Zimmer aufgenommen
hatte. »Weinen Sie doch nicht«, sagte er nochmals, als er sich ins Zimmer
zurückwandte und Frau Grubach noch immer weinte. »Es war ja damals auch von
mir nicht so schlimm gemeint. Wir haben eben einander gegenseitig
missverstanden. Das kann auch alten Freunden einmal geschehen.« Frau Grubach
rückte die Schürze unter die Augen, um zu sehen, ob K. wirklich versöhnt
sei. »Nun ja, es ist so«, sagte K. und wagte nun, da, nach dem Verhalten der
Frau Grubach zu schließen, der Hauptmann nichts verraten hatte, noch
hinzuzufügen: »Glauben Sie denn wirklich, dass ich mich wegen eines fremden
Mädchens mit Ihnen verfeinden könnte?« »Das ist es ja eben, Herr K.«, sagte
Frau Grubach, es war ihr Unglück, dass sie, sobald sie sich nur irgendwie
freier fühlte, gleich etwas Ungeschicktes sagte. »Ich frage mich immerfort:
Warum nimmt sich Herr K. so sehr des Fräulein Bürstner an? Warum zankt er
ihretwegen mit mir, obwohl er weiß, dass mir jedes böse Wort von ihm den
Schlaf nimmt? Ich habe ja über das Fräulein
[→HL 169] nichts anderes gesagt, als was
ich mit eigenen Augen gesehen habe.« K. sagte dazu nichts, er hätte sie mit
dem ersten Wort aus dem Zimmer jagen müssen, und das wollte er nicht. Er
begnügte sich damit, den Kaffee zu trinken und Frau Grubach ihre
Überflüssigkeit fühlen zu lassen. Draußen hörte man wieder den schleppenden
Schritt des Fräulein Montag, welche das ganze Vorzimmer durchquerte. »Hören
Sie es?« fragte K. und zeigte mit der Hand nach der Tür. »Ja«, sagte Frau
Grubach und seufzte, »ich wollte ihr helfen und auch vom Dienstmädchen
helfen lassen, aber sie ist eigensinnig, sie will alles selbst übersiedeln.
Ich wundere mich über Fräulein Bürstner. Mir ist es oft lästig, dass ich
Fräulein Montag in Miete habe, Fräulein Bürstner aber nimmt sie sogar zu
sich ins Zimmer.« »Das muss Sie gar nicht kümmern«, sagte K. und zerdrückte
die Zuckerreste in der Tasse. »Haben Sie denn dadurch einen Schaden?«
»Nein«, sagte Frau Grubach, »an und für sich ist es mir ganz willkommen, ich
bekomme dadurch ein Zimmer frei und kann dort meinen Neffen, den Hauptmann,
unterbringen. Ich fürchtete schon längst, dass er Sie in den letzten Tagen,
während derer ich ihn nebenan im Wohnzimmer wohnen lassen musste, gestört
haben könnte. Er nimmt nicht viel Rücksicht.« »Was für Einfälle!« sagte K.
und stand auf, »davon ist ja keine Rede. Sie scheinen mich wohl für
überempfindlich zu halten, weil ich diese Wanderungen des Fräulein Montag -
jetzt geht sie wieder zurück - nicht vertragen kann.« Frau Grubach kam sich
recht machtlos vor. »Soll ich, Herr K., sagen, dass sie den restlichen Teil
der Übersiedlung aufschieben soll? Wenn Sie wollen, tue ich es sofort.«
»Aber sie soll doch zu Fräulein Bürstner übersiedeln!« sagte K. »Ja«, sagte
Frau Grubach, sie verstand nicht ganz, was K. meinte. »Nun also«, sagte K.,
»dann muss sie doch ihre Sachen hinübertragen.« Frau Grubach nickte nur.
Diese stumme Hilflosigkeit, die äußerlich nicht anders aussah als Trotz,
reizte K. noch mehr. Er fing an, im Zimmer vom Fenster zur Tür auf und ab zu
gehen und nahm dadurch Frau Grubach die Möglichkeit, sich zu entfernen, was
sie sonst wahrscheinlich getan hätte.
Gerade war K. einmal wieder bis
zur Tür gekommen, als es klopfte. Es war das Dienstmädchen, welches meldete,
dass Fräulein Montag gern mit Herrn K. ein paar Worte sprechen möchte und
dass sie ihn deshalb bitte, ins Esszimmer zu kommen, wo sie ihn erwarte. K.
hörte das Dienstmädchen nachdenklich an, dann wandte er sich mit einem fast
höhnischen Blick nach der erschrockenen Frau Grubach um. Dieser Blick schien
zu sagen, dass K. diese Einladung des Fräulein Montag schon längst
vorausgesehen habe und dass sie auch sehr gut mit der Quälerei
zusammen-[→HL 170]passe, die er diesen Sonntagvormittag von den Mietern der Frau
Grubach erfahren musste. Er schickte das Dienstmädchen zurück mit der
Antwort, dass er sofort komme, ging dann zum Kleiderkasten, um den Rock zu
wechseln und hatte als Antwort für Frau Grubach, welche leise über die
lästige Person jammerte, nur die Bitte, sie möge das Frühstücksgeschirr
schon forttragen. »Sie haben ja fast nichts angerührt«, sagte Frau Grubach.
»Ach, tragen Sie es doch weg!« rief K., es war ihm, als sei irgendwie allem
Fräulein Montag beigemischt und mache es widerwärtig.
Als er durch das Vorzimmer
ging, sah er nach der geschlossenen Tür von Fräulein Bürstners Zimmer. Aber
er war nicht dorthin eingeladen, sondern in das Esszimmer, dessen Tür er
aufriss, ohne zu klopfen.
Es war ein sehr langes, aber
schmales, einfenstriges Zimmer. Es war dort nur so viel Platz vorhanden,
dass man in den Ecken an der Türseite zwei Schränke schief hatte aufstellen
können, während der übrige Raum vollständig von dem langen Speisetisch
eingenommen war, der in der Nähe der Tür begann und bis knapp zum großen
Fenster reichte, welches dadurch fast unzugänglich geworden war. Der Tisch
war bereits gedeckt, und zwar für viele Personen, da am Sonntag fast alle
Mieter hier zu Mittag aßen.
Als K. eintrat, kam Fräulein
Montag vom Fenster her an der einen Seite des Tisches entlang K. entgegen.
Sie grüßten einander stumm. Dann sagte Fräulein Montag, wie immer den Kopf
ungewöhnlich aufgerichtet: »Ich weiß nicht, ob Sie mich kennen.« K. sah sie
mit zusammengezogenen Augen an. »Gewiss«, sagte er, »Sie wohnen doch schon
längere Zeit bei Frau Grubach.« »Sie kümmern sich aber, wie ich glaube,
nicht viel um die Pension«, sagte Fräulein Montag. »Nein«, sagte K. »Wollen
Sie sich nicht setzen?« sagte Fräulein Montag. Sie zogen beide schweigend
zwei Sessel am äußersten Ende des Tisches hervor und setzten sich einander
gegenüber. Aber Fräulein Montag stand gleich wieder auf, denn sie hatte ihr
Handtäschchen auf dem Fensterbrett liegengelassen und ging es holen; sie
schleifte durch das ganze Zimmer.
Als sie, das Handtäschchen
leicht schwenkend, wieder zurückkam, sagte sie: »Ich möchte nur im Auftrag
meiner Freundin ein paar Worte mit Ihnen sprechen. Sie wollte selbst kommen,
aber sie fühlt sich heute ein wenig unwohl. Sie möchten sie entschuldigen
und mich statt ihrer anhören. Sie hätte ihnen auch nichts anderes sagen
können, als ich Ihnen sagen werde. Im Gegenteil, ich glaube, ich kann Ihnen
sogar mehr sagen, da ich doch verhältnismäßig unbeteiligt bin. Glauben Sie
nicht auch?« »Was wäre denn zu sagen?« antwortete K., der dessen müde war,
die Augen des Fräu-[→HL 171]lein Montag fortwährend auf seine Lippe gerichtet zu
sehen. Sie maßte sich dadurch eine Herrschaft schon darüber an, was er erst
sagen wollte. »Fräulein Bürstner will mir offenbar die persönliche
Aussprache, um die ich sie gebeten habe, nicht bewilligen.« »Das ist es«,
sagte Fräulein Montag, »oder vielmehr, so ist es gar nicht, Sie drücken es
sonderbar scharf aus. Im allgemeinen werden doch Aussprachen weder
bewilligt, noch geschieht das Gegenteil. Aber es kann geschehen, dass man
Aussprachen für unnötig hält, und so ist es eben hier. Jetzt, nach Ihrer
Bemerkung, kann ich ja offen reden. Sie haben meine Freundin schriftlich
oder mündlich um eine Unterredung gebeten. Nun weiß aber meine Freundin, so
muss ich wenigstens annehmen, was diese Unterredung betreffen soll, und ist
deshalb aus Gründen, die ich nicht kenne, überzeugt, dass es niemandem
Nutzen bringen würde, wenn die Unterredung wirklich zustande käme. Im
übrigen erzählte sie mir erst gestern und nur ganz flüchtig davon, sie sagte
hierbei, dass auch Ihnen jedenfalls nicht viel an der Unterredung liegen
könne, denn Sie wären nur durch einen Zufall auf einen derartigen Gedanken
gekommen und würden selbst auch ohne besondere Erklärung, wenn nicht schon
jetzt, so doch sehr bald die Sinnlosigkeit des Ganzen erkennen. Ich
antwortete darauf, dass das richtig sein mag, dass ich es aber zur
vollständigen Klarstellung doch für vorteilhaft hielte, Ihnen eine
ausdrückliche Antwort zukommen zu lassen. Ich bot mich an, diese Aufgabe zu
übernehmen, nach einigem Zögern gab meine Freundin mir nach. Ich hoffe, nun
aber auch in Ihrem Sinne gehandelt zu haben; denn selbst die kleinste
Unsicherheit in der geringfügigsten Sache ist doch immer quälend, und wenn
man sie, wie in diesem Falle, leicht beseitigen kann, so soll es doch besser
sofort geschehen.« »Ich danke Ihnen«, sagte K. sofort, stand langsam auf,
sah Fräulein Montag an, dann über den Tisch hin, dann aus dem Fenster - das
gegenüberliegende Haus stand in der Sonne - und ging zur Tür. Fräulein
Montag folgte ihm ein paar Schritte, als vertraue sie ihm nicht ganz. Vor
der Tür mussten aber beide zurück weichen, denn sie öffnete sich, und der
Hauptmann Lanz trat ein. K. sah ihn zum ersten Mal aus der Nähe. Er war ein
großer, etwa vierzigjähriger Mann mit braungebranntem, fleischigem Gesicht.
Er machte eine leichte Verbeugung, die auch K. galt, ging dann zu Fräulein
Montag und küsste ihr ehrerbietig die Hand. Er war sehr gewandt in seinen
Bewegungen. Seine Höflichkeit gegen Fräulein Montag stach auffallend von der
Behandlung ab, die sie von K. erfahren hatte. Trotzdem schien Fräulein
Montag K. nicht böse zu sein, denn sie wollte ihn sogar, wie K. zu bemerken
glaubte, dem Hauptmann vor-[→HL
172]stellen. Aber K. wollte nicht vorgestellt werden,
er wäre nicht imstande gewesen, weder dem Hauptmann noch Fräulein Montag
gegenüber irgendwie freundlich zu sein, der Handkuss hatte sie für ihn zu
einer Gruppe verbunden, die ihn unter dem Anschein äußerster Harmlosigkeit
und Uneigennützigkeit von Fräulein Bürstner abhalten wollte. K.
glaubte
jedoch, nicht nur das zu erkennen, er erkannte auch, dass Fräulein Montag
ein gutes, allerdings zweischneidiges Mittel gewählt hatte. Sie übertrieb
die Bedeutung der Beziehung zwischen Fräulein Bürstner und K., sie übertrieb
vor allem die Bedeutung der erbetenen Aussprache und versuchte, es
gleichzeitig so zu wenden, als ob es K. sei, der alles übertreibe. Sie
sollte sich täuschen, K. wollte nichts übertreiben, er wusste, dass Fräulein
Bürstner ein kleines Schreibmaschinenfräulein war, das ihm nicht lange
Widerstand leisten sollte. Hierbei zog er absichtlich gar nicht in
Berechnung, was er von Frau Grubach über Fräulein Bürstner erfahren hatte.
Das alles überlegte er, während er kaum grüßend das Zimmer verließ. Er
wollte gleich in sein Zimmer gehen, aber ein kleines Lachen des Fräulein
Montag, das er hinter sich aus dem Esszimmer hörte, brachte ihn auf den
Gedanken, dass er vielleicht beiden, dem Hauptmann wie Fräulein Montag, eine
Überraschung bereiten könnte. Er sah sich um und horchte, ob aus irgendeinem
der umliegenden Zimmer eine Störung zu erwarten wäre, es war überall still,
nur die Unterhaltung aus dem Esszimmer war zu hören und aus dem Gang, der
zur Küche führte, die Stimme der Frau Grubach. Die Gelegenheit schien
günstig, K. ging zur Tür von Fräulein Bürstners Zimmer und klopfte leise. Da
sich nichts rührte, klopfte er nochmals, aber es erfolgte noch immer keine
Antwort. Schlief sie? Oder war sie wirklich unwohl? Oder verleugnete sie
sich nur deshalb, weil sie ahnte, dass es nur K. sein konnte, der so leise
klopfte? K. nahm an, dass sie sich verleugne, und klopfte stärker, öffnete
schließlich, da das Klopfen keinen Erfolg hatte, vorsichtig und nicht ohne
das Gefühl, etwas Unrechtes und überdies Nutzloses zu tun, die Tür. Im
Zimmer war niemand. Es erinnerte übrigens kaum mehr an das Zimmer, wie es K.
gekannt hatte. An der Wand waren nun zwei Betten hintereinander aufgestellt,
drei Sessel in der Nähe der Tür waren mit Kleidern und Wäsche überhäuft, ein
Schrank stand offen. Fräulein Bürstner war wahrscheinlich fortgegangen,
während Fräulein Montag im Esszimmer auf K. eingeredet hatte. K. war dadurch
nicht sehr bestürzt, er hatte kaum mehr erwartet, Fräulein Bürstner so
leicht zu treffen, er hatte diesen Versuch fast nur aus Trotz gegen Fräulein
Montag gemacht. Um so peinlicher war es ihm aber, als er, während er die Tür
wieder schloss, in der offenen
[→HL 173]
Tür des Esszimmers Fräulein Montag und den
Hauptmann sich unterhalten sah. Sie standen dort vielleicht schon, seitdem
K. die Tür geöffnet hatte, sie vermieden jeden Anschein, als ob sie K. etwa
beobachteten, sie unterhielten sich leise und verfolgten K.s Bewegungen mit
den Blicken nur so, wie man während eines Gesprächs zerstreut umherblickt.
Aber auf K. lagen diese Blicke doch schwer, er beeilte sich, an der Wand
entlang in sein Zimmer zu kommen.
STAATSANWALT
Trotz der Menschenkenntnis und
Welterfahrung, welche K. während seiner langen Dienstzeit in der Bank
erworben hatte, war ihm doch die Gesellschaft seines Stammtisches immer als
außerordentlich achtungswürdig erschienen und er leugnete sich selbst
gegenüber niemals, dass es für ihn eine große Ehre war einer solchen
Gesellschaft anzugehören. Sie bestand fast ausschließlich aus Richtern,
Staatsanwälten und Advokaten, auch einige ganz junge Beamte und
Advokatursgehilfen waren zugelassen, sie saßen aber ganz unten am Tisch und
durften sich in die Debatten nur einmischen, wenn besondere Fragen an sie
gestellt wurden. Solche Fragestellungen aber hatten meist nur den Zweck die
Gesellschaft zu belustigen, besonders Staatsanwalt Hasterer der gewöhnlich
K.s Nachbar war liebte es auf diese Weise die jungen Herren zu beschämen.
Wenn er die große stark behaarte Hand mitten auf dem Tisch spreizte und sich
zum untern Tischende wandte, horchte schon alles auf. Und wenn dann dort
einer die Frage aufnahm aber entweder sie nicht einmal enträtseln konnte
oder nachdenklich in sein Bier sah oder statt zu reden bloß mit den Kiefern
schnappte oder gar - das war das Ärgste - in unaufhaltsamem Schwall eine
falsche oder unbeglaubigte Meinung vertrat, dann drehten sich die ältern
Herren lächelnd auf ihren Sitzen und es schien ihnen erst jetzt behaglich zu
werden. Die wirklich ernsten fachgemäßen Gespräche blieben nur ihnen
vorbehalten.
Anmerkung: Dieses Fragment hätte sich unmittelbar an das siebente Kapitel
des Romans angeschlossen. Sein Beginn ist auf jenes Blatt geschrieben, das
auch die Abschrift der Schlusssätze jenes Kapitels enthält.
K. war in diese Gesellschaft
durch einen Advokaten, den Rechtsvertreter der Bank gebracht worden. Es
hatte eine Zeit gegeben, da K. mit diesem Advokaten in der Bank lange
Besprechungen bis spät in den Abend hatte führen müssen und es hatte sich
dann von selbst gefügt, dass er mit dem Advokaten an dessen Stammtisch
gemeinsam genachtmahlt und an der Gesellschaft Gefallen gefunden hatte. Er
sah hier lauter gelehrte, angesehene,
[→HL 174] in gewissem Sinne mächtige Herren,
deren Erholung darin bestand, dass sie schwierige mit dem gewöhnlichen Leben
nur entfernt zusammenhängende Fragen zu lösen suchten und hiebei sich
abmühten. Wenn er selbst natürlich nur wenig eingreifen konnte, so bekam er
doch die Möglichkeit vieles zu erfahren, was ihm früher oder später auch in
der Bank Vorteil bringen konnte und außerdem konnte er zum Gericht
persönliche Beziehungen anknüpfen, die immer nützlich waren. Aber auch die
Gesellschaft schien ihn gern zu dulden. Als geschäftlicher Fachmann war er
bald anerkannt und seine Meinung in solchen Dingen galt - wenn es dabei auch
nicht ganz ohne Ironie abging - als etwas Unumstößliches. Es geschah nicht
selten, dass zwei, die eine Rechtsfrage verschieden beurteilten, K. seine
Ansicht über den Tatbestand abverlangten und dass dann K.s Name in allen
Reden und Gegenreden wiederkehrte und bis in die abstraktesten
Untersuchungen gezogen wurde, denen K. längst nicht mehr folgen konnte.
Allerdings klärte sich ihm allmählich vieles auf, besonders da er in
Staatsanwalt Hasterer einen guten Berater an seiner Seite hatte, der ihm
auch freundschaftlich näher trat. K. begleitete ihn sogar öfters in der
Nacht nachhause. Er konnte sich aber lange nicht daran gewöhnen Arm in Arm
neben dem riesigen Mann zu gehn, der ihn in seinem Radmantel ganz
unauffällig hätte verbergen können.
Im Laufe der Zeit aber fanden
sie sich derartig zusammen, dass alle Unterschiede der Bildung, des Berufes,
des Alters sich verwischten. Sie verkehrten mit einander, als hätten sie
seit jeher zu einander gehört und wenn in ihrem Verhältnis äußerlich
manchmal einer überlegen schien, so war es nicht Hasterer sondern K., denn
seine praktischen Erfahrungen behielten meistens Recht, da sie so
unmittelbar gewonnen waren, wie es vom Gerichtstisch aus niemals geschehen
kann.
Diese Freundschaft wurde
natürlich am Stammtisch bald allgemein bekannt, es geriet halb in
Vergessenheit, wer K. in die Gesellschaft gebracht hatte, nun war es
jedenfalls Hasterer der K. deckte; wenn K.s Berechtigung hier zu sitzen auf
Zweifel stoßen würde, konnte er sich mit gutem Recht auf Hasterer berufen.
Dadurch aber erlangte K. eine besonders bevorzugte Stellung, denn Hasterer
war ebenso angesehn als gefürchtet. Die Kraft und Gewandtheit seines
juristischen Denkens waren zwar sehr bewundernswert, doch waren in dieser
Hinsicht viele Herren ihm zumindest ebenbürtig, keiner jedoch reichte an ihn
heran in der Wildheit, mit welcher er seine Meinung verteidigte. K. hatte
den Eindruck, dass Hasterer, wenn er seinen Gegner nicht überzeu-[→HL
175]gen konnte,
ihn doch wenigstens in Furcht setzte, schon vor seinem gestreckten
Zeigefinger wichen viele zurück. Es war dann als ob der Gegner vergessen
würde, dass er in Gesellschaft von guten Bekannten und Kollegen war, dass es
sich doch nur um theoretische Fragen handelte, dass ihm in Wirklichkeit
keinesfalls etwas geschehen konnte - aber er verstummte und Kopfschütteln
war schon Mut. Ein fast peinlicher Anblick war es, wenn der Gegner weit
entfernt saß, Hasterer erkannte, dass auf die Entfernung hin keine Einigung
zustande kommen könnte, wenn er nun etwa den Teller mit dem Essen
zurückschob und langsam aufstand, um den Mann selbst aufzusuchen. Die in der
Nähe beugten dann die Köpfe zurück, um sein Gesicht zu beobachten.
Allerdings waren das nur verhältnismäßig seltene Zwischenfälle, vor allem
konnte er fast nur über juristische Fragen in Erregung geraten, und zwar
hauptsächlich über solche, welche Prozesse betrafen, die er selbst geführt
hatte oder führte. Handelte es sich nicht um solche Fragen, dann war er
freundlich und ruhig, sein Lachen war liebenswürdig und seine Leidenschaft
gehörte dem Essen und Trinken. Es konnte sogar geschehn, dass er der
allgemeinen Unterhaltung gar nicht zuhörte, sich zu K. wandte, den Arm über
dessen Sessellehne legte, ihn halblaut über die Bank ausfragte, dann selbst
über seine eigene Arbeit sprach oder auch von seinen Damenbekanntschaften
erzählte, die ihm fast soviel zu schaffen machten wie das Gericht. Mit
keinem andern in der Gesellschaft sah man ihn derartig reden und tatsächlich
kam man oft, wenn man etwas von Hasterer erbitten wollte - meistens sollte
eine Versöhnung mit einem Kollegen bewerkstelligt werden - zunächst zu K.
und bat ihn um seine Vermittlung, die er immer gerne und leicht durchführte.
Er war überhaupt, ohne etwa seine Beziehung zu Hasterer in dieser Hinsicht
auszunützen, allen gegenüber sehr höflich und bescheiden und er verstand es,
was noch wichtiger als Höflichkeit und Bescheidenheit war, zwischen den
Rangabstufungen der Herren richtig zu unterscheiden und jeden seinem Range
gemäß zu behandeln. Allerdings belehrte ihn Hasterer darin immer wieder, es
waren dies die einzigen Vorschriften, die Hasterer selbst in der erregtesten
Debatte nicht verletzte. Darum richtete er auch an die jungen Herren unten
am Tisch, die noch fast gar keinen Rang besaßen, immer nur allgemeine
Ansprachen, als wären es nicht einzelne, sondern bloß ein zusammengeballter
Klumpen. Gerade diese Herren aber erwiesen ihm die größten Ehren und wenn er
gegen elf Uhr sich erhob, um nachhause zu gehn, war gleich einer da, der ihm
beim Anziehn des schweren Mantels behilflich war und ein anderer der mit
großer Verbeugung die Türe vor ihm öffnete und sie
[→HL 176]
natürlich auch noch
festhielt wenn K. hinter Hasterer das Zimmer verließ.
Während in der ersten Zeit K.
Hasterer oder auch dieser K. ein Stück Wegs begleitete, endeten später
solche Abende in der Regel damit, dass Hasterer K. bat mit ihm in seine
Wohnung zu kommen und ein Weilchen bei ihm zu bleiben. Sie saßen dann noch
wohl eine Stunde bei Schnaps und Zigarren. Diese Abende waren Hasterer so
lieb, dass er nicht einmal auf sie verzichten wollte, als er während einiger
Wochen ein Frauenzimmer namens Helene bei sich wohnen hatte.
Es war eine
dicke ältliche Frau mit gelblicher Haut und schwarzen Locken, die sich um
ihre Stirn ringelten. K. sah sie zunächst nur im Bett, sie lag dort
gewöhnlich recht schamlos, pflegte einen Lieferungsroman zu lesen und
kümmerte sich nicht um das Gespräch der Herren. Erst wenn es spät wurde,
streckte sie sich, gähnte und warf auch, wenn sie auf andere Weise die
Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken konnte, ein Heft ihres Romans nach Hasterer. Dieser stand dann lächelnd auf und K. verabschiedete sich. Später
allerdings als Hasterer Helene's müde zu werden anfing, störte sie die
Zusammenkünfte empfindlich. Sie erwartete nun immer die Herren vollständig
angekleidet und zwar gewöhnlich in einem Kleid, das sie wahrscheinlich für
sehr kostbar und kleidsam hielt, das aber in Wirklichkeit ein altes
überladenes Ballkleid war und besonders unangenehm durch einige Reihen
langer Fransen auffiel, mit denen es zum Schmuck behängt war. Das genaue
Aussehn dieses Kleides kannte K. gar nicht, er weigerte sich gewissermaßen
sie anzusehn und saß stundenlang mit halbgesenkten Augen da, während sie
sich wiegend durch das Zimmer ging oder in seiner Nähe saß und später als
ihre Stellung immer unhaltbarer wurde, in ihrer Not sogar versuchte, durch
Bevorzugung K.s Hasterer eifersüchtig zu machen. Es war nur Not, nicht
Bosheit, wenn sie sich mit dem entblößten rundlichen fetten Rücken über den
Tisch lehnte, ihr Gesicht K. näherte und ihn so zwingen wollte,
aufzublicken. Sie erreichte damit nur, dass K. sich nächstens weigerte zu
Hasterer zu gehn, und als er nach einiger Zeit doch wieder hinkam, war
Helene endgültig fortgeschickt; K. nahm das als selbstverständlich hin. Sie
blieben an diesem Abend besonders lange beisammen, feierten auf Hasterers
Anregung Bruderschaft und K. war auf dem Nachhauseweg vom Rauchen und
Trinken fast ein wenig betäubt.
Gerade am nächsten Morgen
machte der Direktor in der Bank im Laufe eines geschäftlichen Gespräches die
Bemerkung, er glaube gestern Abend K. gesehen zu haben. Wenn er sich nicht
getäuscht habe, so sei K. Arm in Arm mit dem Staatsanwalt
[→HL 177] Hasterer gegangen.
Der Direktor schien das so merkwürdig zu finden, dass er - allerdings
entsprach dies auch seiner sonstigen Genauigkeit - die Kirche nannte, an
deren Längsseite in der Nähe des Brunnens jene Begegnung stattgefunden habe.
Hätte er eine Luftspiegelung beschreiben wollen, er hätte sich nicht anders
ausdrücken können. K. erklärte ihm nun, dass der Staatsanwalt sein Freund
sei und dass sie wirklich gestern Abend an der Kirche vorübergegangen wären.
Der Direktor lächelte erstaunt und forderte K. auf, sich zu setzen. Es war
einer jener Augenblicke, wegen deren K. den Direktor so liebte, Augenblicke,
in denen aus diesem schwachen kranken hüstelnden mit der
verantwortungsvollsten Arbeit überlasteten Mann eine gewisse Sorge um
K.s
Wohl und um seine Zukunft ans Licht kam, eine Sorge, die man allerdings nach
Art anderer Beamten, die beim Direktor ähnliches erlebt hatten, kalt und
äußerlich nennen konnte, die nichts war als ein gutes Mittel, wertvolle
Beamte durch das Opfer von zwei Minuten für Jahre an sich zu fesseln - wie
es auch sein mochte, K. unterlag dem Direktor in diesen Augenblicken.
Vielleicht sprach auch der Direktor mit K. ein wenig anders als mit den
andern, er vergaß nämlich nicht etwa seine übergeordnete Stellung, um auf
diese Weise mit K. gemein zu werden - dies tat er vielmehr regelmäßig im
gewöhnlichen geschäftlichen Verkehr - hier aber schien er gerade
K.s
Stellung vergessen zu haben und sprach mit ihm wie mit einem Kind oder wie
mit einem unwissenden jungen Menschen, der sich erst um eine Stellung
bewirbt und aus irgendeinem unverständlichen Grunde das Wohlgefallen des
Direktors erregt. K. hätte gewiss eine solche Redeweise weder von einem
andern noch vom Direktor selbst geduldet, wenn ihm nicht die Fürsorge des
Direktors wahrhaftig erschienen wäre oder wenn ihn nicht wenigstens die
Möglichkeit dieser Fürsorge, wie sie sich ihm in solchen Augenblicken
zeigte, vollständig bezaubert hätte. K. erkannte seine Schwäche; vielleicht
hatte sie ihren Grund darin, dass in dieser Hinsicht wirklich noch etwas
Kindisches in ihm war, da er die Fürsorge des eigenen Vaters, der sehr jung
gestorben war, niemals erfahren hatte, bald von zuhause fortgekommen war und
die Zärtlichkeit der Mutter, die halbblind noch draußen in dem
unveränderlichen Städtchen lebte und die er zuletzt vor etwa zwei Jahren
besucht hatte, immer eher abgelehnt als hervorgelockt hatte.
"Von dieser Freundschaft wusste
ich gar nichts", sagte der Direktor und nur ein schwaches freundliches
Lächeln milderte die Strenge dieser Worte. [→HL
178]
ZU ELSA
Eines Abends wurde K. knapp vor
dem Weggehn telephonisch angerufen und aufgefordert sofort in die
Gerichtskanzlei zu kommen. Man warne ihn davor ungehorsam zu sein. Seine
unerhörten Bemerkungen darüber, dass die Verhöre unnütz seien, kein Ergebnis
haben und keines haben können, dass er nicht mehr hinkommen werde, dass er
telephonische oder schriftliche Einladungen nicht beachten und Boten aus der
Türe werfen werde - alle diese Bemerkungen seien protokolliert und hätten
ihm schon viel geschadet. Warum wolle er sich denn nicht fügen? Sei man
nicht etwa ohne Rücksicht auf Zeit und Kosten bemüht in seine verwickelte
Sache Ordnung zu bringen? Wolle er darin mutwillig stören und es zu
Gewaltmaßregeln kommen lassen, mit denen man ihn bisher verschont habe? Die
heutige Vorladung sei ein letzter Versuch. Er möge tun was er wolle, jedoch
bedenken, dass das hohe Gericht seiner nicht spotten lassen könne.
Nun hatte K. für diesen Abend
Elsa seinen Besuch angezeigt und konnte schon aus diesem Grunde nicht zu
Gericht kommen, er war froh darüber, sein Nichterscheinen vor Gericht
dadurch rechtfertigen zu können, wenn er auch natürlich niemals von dieser
Rechtfertigung Gebrauch machen würde und außerdem sehr wahrscheinlich auch
dann nicht zu Gericht gegangen wäre, wenn er für diesen Abend nicht die
geringste sonstige Verpflichtung gehabt hätte. Immerhin stellte er im
Bewusstsein seines guten Rechtes durch das Telephon die Frage, was geschehen
würde, wenn er nicht käme. "Man wird Sie zu finden wissen", war die Antwort.
"Und werde ich dafür bestraft werden, weil ich nicht freiwillig gekommen
bin", fragte K. und lächelte in Erwartung dessen, was er hören würde.
"Nein", war die Antwort. "Vorzüglich", sagte K., "was für einen Grund sollte
ich dann aber haben, der heutigen Vorladung Folge zu leisten. " "Man pflegt
die Machtmittel des Gerichtes nicht auf sich zu hetzen", sagte die schwächer
werdende und schließlich vergehende Stimme. "Es ist sehr unvorsichtig, wenn
man das nicht tut", dachte K. im Weggehn, "man soll doch versuchen die
Machtmittel kennen zu lernen. "
Ohne zu zögern fuhr er zu
Elsa.
Behaglich in die Wagenecke gelehnt, die Hände in den Taschen des Mantels -
es begann schon kühl zu werden überblickte er die lebhaften Straßen. Mit
einer gewissen Zufriedenheit dachte er daran, dass er dem Gericht, falls es
wirklich in Tätigkeit war, nicht geringe Schwierigkeiten bereitete. Er hatte
sich nicht deutlich ausgesprochen, ob er zu Gericht kommen würde oder nicht;
der Richter wartete also, viel-[→HL
179]leicht wartete sogar die ganze Versammlung,
nur K. würde zur besondern Enttäuschung der Galerie nicht erscheinen.
Unbeirrt durch das Gericht fuhr er dorthin wohin er wollte. Einen Augenblick
lang war er nicht sicher, ob er nicht aus Zerstreutheit dem Kutscher die
Gerichtsadresse angegeben hatte, er rief ihm daher laut Elsas Adresse zu;
der Kutscher nickte, ihm war keine andere gesagt worden. Von da an vergaß K.
allmählich an das Gericht und die Gedanken an die Bank begannen ihn wieder
wie in frühern Zeiten ganz zu erfüllen.
KAMPF MIT DEM
DIREKTOR-STELLVERTRETER
Eines Morgens fühlte sich K.
viel frischer und widerstandsfähiger als sonst. An das Gericht dachte er
kaum; wenn es ihm aber einfiel, schien es ihm als könne diese ganz
unübersichtlich große Organisation an irgend einer allerdings verborgenen im
Dunkel erst zu ertastenden Handhabe leicht gefasst, ausgerissen und
zerschlagen werden. Sein außergewöhnlicher Zustand verlockte K. sogar den
Direktor-Stellvertreter einzuladen in sein Bureau zu kommen und eine
geschäftliche Angelegenheit, die schon seit einiger Zeit drängte, gemeinsam
zu besprechen. Immer bei solchem Anlass tat der Direktor-Stellvertreter so,
als hätte sich sein Verhältnis zu K. in den letzten Monaten nicht im
Geringsten geändert. Ruhig kam er wie in den frühern Zeiten des ständigen
Wettbewerbes mit K., ruhig hörte er K.s Ausführungen an, zeigte durch
kleine vertrauliche ja kameradschaftliche Bemerkungen seine Teilnahme und
verwirrte K. nur dadurch, worin man aber keine Absicht sehen musste, dass er
sich durch nichts von der geschäftlichen Hauptsache ablenken ließ, förmlich
bis in den Grund seines Wesens aufnahmsbereit für diese Sache war, während
K.s Gedanken vor diesem Muster von Pflichterfüllung sofort nach allen
Seiten zu schwärmen anfingen und ihn zwangen, die Sache selbst fast ohne
Widerstand dem Direktor-Stellvertreter zu überlassen. Einmal war es so
schlimm, dass K. schließlich nur bemerkte, wie der Direktor-Stellvertreter
plötzlich aufstand und stumm in sein Bureau zurückkehrte. K. wusste nicht
was geschehen war, es war möglich dass die Besprechung regelrecht
abgeschlossen war, ebenso möglich aber war es, dass sie der
Direktor-Stellvertreter abgebrochen hatte, weil ihn K. unwissentlich
gekränkt oder weil er Unsinn gesprochen hatte oder weil es dem
Direktor-Stellvertreter unzweifelhaft geworden war, dass K. nicht zuhörte
und mit an-[→HL 180]dern Dingen beschäftigt war. Es war aber sogar möglich, dass K.
eine lächerliche Entscheidung getroffen oder dass der
Direktor-Stellvertreter sie ihm entlockt hatte und dass er sich jetzt
beeilte sie zum Schaden K.s zu verwirklichen. Man kam übrigens auf diese
Angelegenheit nicht mehr zurück, K. wollte nicht an sie erinnern und der
Direktor-Stellvertreter blieb verschlossen; es ergaben sich allerdings
vorläufig auch weiterhin keine sichtbaren Folgen. Jedenfalls war aber K.
durch den Vorfall nicht abgeschreckt worden, wenn sich nur eine passende
Gelegenheit ergab und er nur ein wenig bei Kräften war, stand er schon bei
der Tür des Direktor-Stellvertreters um zu ihm zu gehn oder ihn zu sich
einzuladen. Es war keine Zeit mehr sich vor ihm zu verstecken, wie er es
früher getan hatte. Er hoffte nicht mehr auf einen baldigen entscheidenden
Erfolg, der ihn mit einem Mal von allen Sorgen befreien und von selbst das
alte Verhältnis zum Direktor-Stellvertreter herstellen würde. K. sah ein,
dass er nicht ablassen dürfe, wich er zurück, so wie es vielleicht die
Tatsachen forderten, dann bestand die Gefahr, dass er
möglicherweise niemals
mehr vorwärts kam. Der Direktor-Stellvertreter durfte nicht im Glauben
gelassen werden, dass K. abgetan sei, er durfte mit diesem Glauben nicht
ruhig in seinem Bureau sitzen, er musste beunruhigt werden, er musste so oft
als möglich erfahren dass K. lebte und dass er wie alles was lebte, eines
Tages mit neuen Fähigkeiten überraschen konnte, so ungefährlich er auch
heute schien. Manchmal sagte sich zwar K., dass er mit dieser Methode um
nichts anderes als um seine Ehre kämpfe, denn Nutzen konnte es ihm
eigentlich nicht bringen, wenn er sich in seiner Schwäche immer wieder dem
Direktor-Stellvertreter entgegenstellte, sein Machtgefühl stärkte und ihm
die Möglichkeit gab Beobachtungen zu machen und seine Maßnahmen genau nach
den augenblicklichen Verhältnissen zu treffen. Aber K. hätte sein Verhalten
gar nicht ändern können, er unterlag Selbsttäuschungen, er
glaubte manchmal
mit Bestimmtheit, er dürfe sich gerade jetzt unbesorgt mit dem
Direktor-Stellvertreter messen, die unglückseligsten Erfahrungen belehrten
ihn nicht, was ihm bei zehn Versuchen nicht gelungen war,
glaubte er mit dem
elften durchsetzen zu können trotzdem alles immer ganz einförmig zu seinen
Ungunsten abgelaufen war. Wenn er nach einer solchen Zusammenkunft
erschöpft, in Schweiß, mit leerem Kopf zurückblieb, wusste er nicht, ob es
Hoffnung oder Verzweiflung gewesen war, die ihn an den
Direktor-Stellvertreter gedrängt hatte, ein nächstes Mal war es aber wieder
vollständig eindeutig nur Hoffnung, mit der er zu der Türe des
Direktor-Stellvertreters eilte.
[→HL 181]
So war es auch heute. Der
Direktor-Stellvertreter trat gleich ein, blieb dann nahe bei der Tür stehn,
putzte einer neu angenommenen Gewohnheit gemäß seinen Zwicker und sah zuerst
K. und dann, um sich nicht allzu auffallend mit K. zu beschäftigen, auch das
ganze Zimmer genauer an. Es war als benütze er die Gelegenheit, um die
Sehkraft seiner Augen zu prüfen. K. widerstand den Blicken, lächelte sogar
ein wenig und lud den Direktor-Stellvertreter ein sich zu setzen. Er selbst
warf sich in seinen Lehnstuhl, rückte ihn möglichst nahe zum
Direktor-Stellvertreter, nahm gleich die nötigen Papiere vom Tisch und
begann seinen Bericht. Der Direktor-Stellvertreter schien zunächst kaum
zuzuhören. Die Platte von K.s Schreibtisch war von einer niedrigen
geschnitzten Balustrade umgeben. Der ganze Schreibtisch war vorzügliche
Arbeit und auch die Balustrade saß fest im Holz. Aber der
Direktor-Stellvertreter tat, als habe er gerade jetzt dort eine Lockerung
bemerkt, und versuchte den Fehler dadurch zu beseitigen, dass er mit dem
Zeigefinger auf die Balustrade loshieb. K. wollte daraufhin seinen Bericht
unterbrechen, was aber der Direktor-Stellvertreter nicht duldete, da er wie
er erklärte, alles genau höre und auffasse. Während ihm aber vorläufig K.
keine sachliche Bemerkung abnötigen konnte, schien die Balustrade besondere
Maßregeln zu verlangen, denn der Direktor-Stellvertreter zog jetzt sein
Taschenmesser hervor, nahm als Gegenhebel K.s Lineal und versuchte die
Balustrade hochzuheben, wahrscheinlich um sie dann leichter desto tiefer
einstoßen zu können. K. hatte in seinen Bericht einen ganz neuartigen
Vorschlag aufgenommen, von dem er sich eine besondere Wirkung auf den
Direktor-Stellvertreter versprach und als er jetzt zu diesem Vorschlag
gelangte, konnte er gar nicht innehalten, so sehr nahm ihn die eigene Arbeit
gefangen oder vielmehr so sehr freute er sich an dem immer seltener
werdenden Bewusstsein, dass er hier in der Bank noch etwas zu bedeuten habe
und dass seine Gedanken die Kraft hatten, ihn zu rechtfertigen. Vielleicht
war sogar diese Art sich zu verteidigen nicht nur in der Bank sondern auch
im Prozess die beste, viel besser vielleicht als jede andere Verteidigung,
die er schon versucht hatte oder plante. In der Eile seiner Rede hatte K.
gar nicht Zeit, den Direktor-Stellvertreter ausdrücklich von seiner Arbeit
an der Balustrade abzuziehn, nur zwei oder dreimal strich er während des
Vorlesens mit der freien Hand wie beruhigend über die Balustrade hin, um
damit, fast ohne es selbst genau zu wissen, dem Direktor-Stellvertreter zu
zeigen, dass die Balustrade keinen Fehler habe und dass selbst wenn sich
einer vorfinden sollte, augenblicklich das Zuhören wichtiger und auch
anständiger sei als [→HL 182] alle Verbesserungen. Aber den Direktor-Stellvertreter
hatte, wie dies bei lebhaften nur geistig tätigen Menschen oft geschieht,
diese handwerksmäßige Arbeit in Eifer gebracht, ein Stück der Balustrade war
nun wirklich hochgezogen und es handelte sich jetzt darum die Säulchen
wieder in die zugehörigen Löcher hineinzubringen. Das war schwieriger als
alles bisherige. Der Direktor-Stellvertreter musste aufstehn und mit beiden
Händen versuchen die Balustrade in die Platte zu drücken. Es wollte aber
trotz alles Kraftverbrauches nicht gelingen. K. hatte während des Vorlesens
- das er übrigens viel mit freier Rede untermischte nur undeutlich
wahrgenommen, dass der Direktor-Stellvertreter sich erhoben hatte. Trotzdem
er die Nebenbeschäftigung des Direktor-Stellvertreters kaum jemals ganz aus
den Augen verlor, hatte er doch angenommen, dass die Bewegung des
Direktor-Stellvertreters doch auch mit seinem Vortrag irgendwie
zusammenhing, auch er stand also auf und den Finger unter eine Zahl gedrückt
reichte er dem Direktor-Stellvertreter ein Papier entgegen. Der
Direktor-Stellvertreter aber hatte inzwischen eingesehn, dass der Druck der
Hände nicht genügte, und so setzte er sich kurz entschlossen mit seinem
ganzen Gewicht auf die Balustrade. Jetzt glückte es allerdings, die Säulchen
fuhren knirschend in die Löcher, aber ein Säulchen knickte in der Eile ein
und an einer Stelle brach die zarte obere Leiste entzwei. "Schlechtes Holz",
sagte der Direktor-Stellvertreter ärgerlich, ließ vom Schreibtisch ab und
setzte ...
DAS HAUS
Ohne zunächst eine bestimmte
Absicht damit zu verbinden, hatte K. bei verschiedenen Gelegenheiten in
Erfahrung zu bringen gesucht, wo das Amt seinen Sitz habe, von welchem aus
die erste Anzeige in seiner Sache erfolgt war. Er erfuhr es ohne
Schwierigkeiten, sowohl Titorelli als auch Wolfhart nannten ihm auf die
erste Frage hin die genaue Nummer des Hauses. Später vervollständigte
Titorelli mit einem Lächeln, das er immer für geheime ihm nicht zur
Begutachtung vorgelegte Pläne bereit hatte, die Auskunft dadurch, dass er
behauptete, gerade dieses Amt habe nicht die geringste Bedeutung, es spreche
nur aus, was ihm aufgetragen werde und sei nur das äußerste Organ der großen
Anklagebehörde selbst, die allerdings für Parteien unzugänglich sei. Wenn
man also etwas von der Anklagebehörde wünsche - es gäbe
[→HL 183] natürlich immer
viele Wünsche, aber es sei nicht immer klug, sie auszusprechen - dann müsse
man sich allerdings an das genannte untergeordnete Amt wenden, doch werde
man dadurch weder selbst zur eigentlichen Anklagebehörde dringen, noch
seinen Wunsch jemals dorthin leiten.
K. kannte schon das Wesen des
Malers, er widersprach deshalb nicht, erkundigte sich auch nicht weiter
sondern nickte nur und nahm das Gesagte zur Kenntnis. Wieder schien ihm wie
schon öfters in der letzten Zeit, dass Titorelli soweit es auf Quälerei
ankam, den Advokaten reichlich ersetzte. Der Unterschied bestand nur darin,
dass K. Titorelli nicht so preisgegeben war und ihn, wann es ihm beliebte,
ohne Umstände hätte abschütteln können, dass ferner Titorelli überaus
mitteilsam, ja geschwätzig war wenn auch früher mehr als jetzt und dass
schließlich K. sehr wohl auch seinerseits Titorelli quälen konnte.
Und das tat er auch in dieser
Sache, sprach öfters von jenem Haus in einem Ton, als verschweige er
Titorelli etwas, als habe er Beziehungen mit jenem Amte angeknüpft, als
seien sie aber noch nicht so weit gediehn, um ohne Gefahr bekannt gemacht
werden zu können, suchte ihn dann aber Titorelli zu nähern Angaben zu
drängen, lenkte K. plötzlich ab und sprach lange nicht mehr davon. Er hatte
Freude von solchen kleinen Erfolgen, er
glaubte dann, nun verstehe er schon
viel besser diese Leute aus der Umgebung des Gerichts, nun könne er schon
mit ihnen spielen, rücke fast selbst unter sie ein, bekomme wenigstens für
Augenblicke die bessere Übersicht, welche ihnen gewissermaßen die erste
Stufe des Gerichtes ermöglichte, auf der sie standen. Was machte es, wenn er
seine Stellung hier unten doch endlich verlieren sollte? Dort war auch dann
noch eine Möglichkeit der Rettung, er musste nur in die Reihen dieser Leute
schlüpfen, hatten sie ihm infolge ihrer Niedrigkeit oder aus andern Gründen
in seinem Prozesse nicht helfen können, so konnten sie ihn doch aufnehmen
und verstecken, ja sie konnten sich, wenn er alles genügend überlegt und
geheim ausführte, gar nicht dagegen wehren, ihm auf diese Weise zu dienen,
besonders Titorelli nicht, dessen naher Bekannter und Wohltäter er doch
jetzt geworden war.
Von solchen und ähnlichen
Hoffnungen nährte sich K. nicht etwa täglich, im allgemeinen unterschied er
noch genau und hütete sich irgendeine Schwierigkeit zu übersehn oder zu
überspringen, aber manchmal - meistens waren es Zustände vollständiger
Erschöpfung am Abend nach der Arbeit - nahm er Trost aus den geringsten und
überdies vieldeutigsten Vorfällen des Tages. Gewöhnlich lag er dann auf dem
Kanapee seines Bureaus - er konn-[→HL
184]te sein Bureau nicht mehr verlassen, ohne
eine Stunde lang auf dem Kanapee sich zu erholen - und fügte in Gedanken
Beobachtung an Beobachtung. Er beschränkte sich nicht peinlich auf die
Leute, welche mit dem Gericht zusammenhingen, hier im Halbschlaf mischten
sich alle, er vergaß dann an die große Arbeit des Gerichtes, ihm war als sei
er der einzige Angeklagte und alle andern gingen durcheinander wie Beamte
und Juristen auf den Gängen eines Gerichtsgebäudes, noch die
stumpfsinnigsten hatten das Kinn zur Brust gesenkt, die Lippen aufgestülpt
und den starren Blick verantwortungsvollen Nachdenkens. Immer traten dann
als geschlossene Gruppe die Mieter der Frau Grubach auf, sie standen
beisammen Kopf an Kopf mit offenen Mäulern wie ein anklagender Chor. Es
waren viele Unbekannte unter ihnen, denn K. kümmerte sich schon seit langem
um die Angelegenheiten der Pension nicht im Geringsten. Infolge der vielen
Unbekannten machte es ihm aber Unbehagen sich näher mit der Gruppe
abzugeben, was er aber manchmal tun musste, wenn er dort Fräulein Bürstner
suchte. Er überflog z. B. die Gruppe und plötzlich glänzten ihm zwei
gänzlich fremde Augen entgegen und hielten ihn auf. Er fand dann Fräulein Bürstner nicht, aber als er dann, um jeden Irrtum zu vermeiden nochmals
suchte, fand er sie gerade in der Mitte der Gruppe, die Arme um zwei Herren
gelegt, die ihr zur Seite standen. Es machte unendlich wenig Eindruck auf
ihn, besonders deshalb da dieser Anblick nichts neues war, sondern nur die
unauslöschliche Erinnerung an eine Photographie vom Badestrand, die er
einmal in Fräulein Bürstners Zimmer gesehen hatte. Immerhin trieb dieser
Anblick K. von der Gruppe weg und wenn er auch noch öfters hierher
zurückkehrte so durcheilte er nun mit langen Schritten das Gerichtsgebäude
kreuz und quer. Er kannte sich immer sehr gut in allen Räumen aus, verlorene
Gänge, die er nie gesehen haben konnte, erschienen ihm vertraut, als wären
sie seine Wohnung seit jeher, Einzelheiten drückten sich ihm mit
schmerzlichster Deutlichkeit immer wieder ins Hirn, ein Ausländer z. B.
spazierte in einem Vorsaal, er war gekleidet ähnlich einem Stierfechter, die
Taille war eingeschnitten wie mit Messern, sein ganz kurzes ihn steif
umgebendes Röckchen bestand aus gelblichen grobfädigen Spitzen und dieser
Mann ließ sich, ohne sein Spazierengehn einen Augenblick einzustellen,
unaufhörlich von K. bestaunen. Gebückt umschlich ihn K. und staunte ihn mit
angestrengt aufgerissenen Augen an. Er kannte alle Zeichnungen der Spitzen,
alle fehlerhaften Fransen, alle Schwingungen des Röckchens und hatte sich
doch nicht sattgesehn. Oder vielmehr er hatte sich schon längst
[→HL 185]
sattgesehn
oder noch richtiger er hatte es niemals ansehen wollen aber es ließ ihn
nicht. "Was für Maskeraden bietet das Ausland!" dachte er und riss die Augen
noch stärker auf. Und im Gefolge dieses Mannes blieb er bis er sich auf dem
Kanapee herumwarf und das Gesicht ins Leder drückte.
FAHRT ZUR MUTTER
Plötzlich beim Mittagessen fiel
ihm ein er solle seine Mutter besuchen. Nun war schon das Frühjahr fast zu
Ende und damit das dritte Jahr seitdem er sie nicht gesehen hatte. Sie hatte
ihn damals gebeten an seinem Geburtstag zu ihr zu kommen, er hatte auch
trotz mancher Hindernisse dieser Bitte entsprochen und hatte ihr sogar das
Versprechen gegeben jeden Geburtstag bei ihr zu verbringen, ein Versprechen,
das er nun allerdings schon zweimal nicht gehalten hatte. Dafür wollte er
aber jetzt nicht erst bis zu seinem Geburtstag warten, obwohl dieser schon
in vierzehn Tagen war, sondern sofort fahren. Er sagte sich zwar, dass kein
besonderer Grund vorlag gerade jetzt zu fahren, im Gegenteil, die
Nachrichten, die er regelmäßig alle zwei Monate von einem Vetter erhielt,
der in jenem Städtchen ein Kaufmannsgeschäft besaß und das Geld, welches K.
für seine Mutter schickte, verwaltete, waren beruhigender als jemals früher.
Das Augenlicht der Mutter war zwar am Erlöschen, aber das hatte K. nach den
Aussagen der Ärzte schon seit Jahren erwartet, dagegen war ihr sonstiges
Befinden ein besseres geworden, verschiedene Beschwerden des Alters waren
statt stärker zu werden zurückgegangen, wenigstens klagte sie weniger. Nach
der Meinung des Vetters hing dies vielleicht damit zusammen, dass sie seit
den letzten Jahren - K. hatte schon bei seinem Besuch leichte Anzeichen
dessen fast mit Widerwillen bemerkt - unmäßig fromm geworden war. Der Vetter
hatte in einem Brief sehr anschaulich geschildert, wie die alte Frau, die
sich früher nur mühselig fortgeschleppt hatte, jetzt an seinem Arm recht gut
ausschritt, wenn er sie Sonntags zur Kirche führte. Und dem Vetter durfte K.
glauben, denn er war gewöhnlich ängstlich und übertrieb in seinen Berichten
eher das Schlechte als das Gute.
Aber wie es auch sein mochte,
K. hatte sich jetzt entschlossen zu fahren; er hatte neuerdings unter
anderem Unerfreulichem eine gewisse Wehleidigkeit an sich festgestellt, ein
fast haltloses Bestreben allen seinen Wünschen nachzugeben - nun, in diesem
Fall diente diese Untugend wenigstens einem guten Zweck.
[→HL 186]
Er trat zum Fenster, um seine
Gedanken ein wenig zu sammeln, ließ dann gleich das Essen abtragen, schickte
den Diener zu Frau Grubach um seine Abreise ihr anzuzeigen und die
Handtasche zu holen, in die Frau Grubach einpacken möge was ihr notwendig
scheine, gab dann Herrn Kühne einige geschäftliche Aufträge für die Zeit
seiner Abwesenheit, ärgerte sich diesmal kaum darüber, dass Herr Kühne in
einer Unart die schon zur Gewohnheit geworden war, die Aufträge mit
seitwärts gewendetem Gesicht entgegennahm, als wisse er ganz genau was er zu
tun habe und erdulde diese Auftragerteilung nur als Zeremonie, und ging
schließlich zum Direktor. Als er diesen um einen zweitägigen Urlaub
ersuchte, da er zu seiner Mutter fahren müsse, fragte der Direktor
natürlich, ob K.s Mutter etwa krank sei. "Nein", sagte K. ohne weitere
Erklärung. Er stand in der Mitte des Zimmers, die Hände hinten verschränkt.
Mit zusammengezogener Stirn dachte er nach. Hatte er vielleicht die
Vorbereitungen zur Abreise übereilt? War es nicht besser hier zu bleiben?
Was wollte er dort? Wollte er etwa aus Rührseligkeit hinfahren? Und aus
Rührseligkeit hier möglicherweise etwas Wichtiges versäumen, eine
Gelegenheit zum Eingriff, die sich doch jetzt jeden Tag jede Stunde ergeben
konnte, nachdem der Prozess nun schon wochenlang scheinbar geruht hatte und
kaum eine bestimmte Nachricht an ihn gedrungen war? Und würde er überdies
die alte Frau nicht erschrecken, was er natürlich nicht beabsichtigte, was
aber gegen seinen Willen sehr leicht geschehen konnte, da jetzt vieles gegen
seinen Willen geschah. Und die Mutter verlangte gar nicht nach ihm. Früher
hatten sich in den Briefen des Vetters die dringenden Einladungen der Mutter
regelmäßig wiederholt, jetzt schon lange nicht. Der Mutter wegen fuhr er
also nicht hin, das war klar. Fuhr er aber in irgendeiner Hoffnung
seinetwegen hin, dann war er ein vollkommener Narr und würde sich dort in
der schließlichen Verzweiflung den Lohn seiner Narrheit holen. Aber als
wären alle diese Zweifel nicht seine eigenen, sondern als suchten sie ihm
fremde Leute beizubringen, verblieb er, förmlich erwachend, bei seinem
Entschluss zu fahren. Der Direktor hatte sich indessen zufällig oder was
wahrscheinlicher war aus besonderer Rücksichtnahme gegen K. über eine
Zeitung gebeugt, jetzt hob auch er die Augen, reichte aufstehend K. die Hand
und wünschte ihm, ohne eine weitere Frage zu stellen, glückliche Reise.
K. wartete dann noch, in seinem
Bureau auf und abgehend, auf den Diener, wehrte fast schweigend den
Direktor-Stellvertreter ab, der mehrere Male hereinkam um sich nach dem
Grund von K.s Abreise zu erkundigen, und eilte, als er die Handtasche
end-[→HL 187]lich hatte,
sofort hinunter zu dem schon vorherbestellten Wagen. Er war schon auf der
Treppe, da erschien oben im letzten Augenblicke noch der Beamte Kullich, in
der Hand einen angefangenen Brief, zu dem er offenbar von K. eine Weisung
erbitten wollte. K. winkte ihm zwar mit der Hand ab, aber begriffsstützig,
wie dieser blonde großköpfige Mensch war, missverstand er das Zeichen und
raste das Papier schwenkend in lebensgefährlichen Sprüngen hinter K. her.
Dieser war darüber so erbittert, dass er, als ihn Kullich auf der Freitreppe
einholte, den Brief ihm aus der Hand nahm und zerriss. Als K. sich dann im
Wagen umdrehte, stand Kullich, der seinen Fehler wahrscheinlich noch immer
nicht eingesehen hatte, auf dem gleichen Platz und blickte dem
davonfahrenden Wagen nach, während der Portier neben ihm tief die Mütze zog.
K. war also doch noch einer der obersten Beamten der Bank, wollte er es
leugnen, würde ihn der Portier widerlegen. Und die Mutter hielt ihn sogar
trotz aller Widerrede für den Direktor der Bank und dies schon seit Jahren.
In ihrer Meinung würde er nicht sinken, wie auch sonst sein Ansehen Schaden
gelitten hatte. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass er sich gerade vor
der Abfahrt davon überzeugt hatte, dass er noch immer einem Beamten, der
sogar mit dem Gericht Verbindungen hatte, einen Brief wegnehmen und ohne
jede Entschuldigung zerreißen durfte. Das allerdings, was er am liebsten
getan hätte, hatte er nicht tun dürfen, Kullich zwei laute Schläge auf seine
bleichen runden Wangen zu geben.
Dieses Werk (Der Prozess, von
Franz Kafka (Kapiteleinteilung Malcolm Pasley)), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023