§ 1.
Was die Erziehung bei dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem
ganzen Menschengeschlechte.
§ 2.
Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung
ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht.
§ 3.
Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, in der Pädagogik
Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in der Theologie kann
es gewiss sehr großen Nutzen haben und viele Schwierigkeiten heben, wenn man
sich die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts vorstellet.
§ 4.
Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben
könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte
nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch
kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten Dinge nur früher.
§ 5.
Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in welcher Ordnung sie die
Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht alles auf einmal beibringen
kann: ebenso hat auch Gott bei seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein
gewisses Maß halten müssen.
§ 6.
Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort
ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgeteilte, und nicht erworbene
Begriff unmöglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. Sobald ihn die sich
selbst überlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den
Einzigen Unermesslichen in mehrere Ermesslichere und gab jedem dieser Teile ein
Merkzeichen.
§ 7.
So entstand natürlicher Weise Vielgötterei und Abgötterei. Und wer weiß, wie
viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in diesen Irrwegen
würde herumgetrieben haben; ohngeachtet überall und zu allen Zeiten einzelne
Menschen erkannten, dass es Irrwege waren: wenn es Gott nicht gefallen hätte,
ihr durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung zu geben.
§ 8.
Da er aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr offenbaren
konnte, noch wollte: so wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner
besondern Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit
ihm ganz von vorne anfangen zu können.
§ 9.
Dies war das israelitische Volk, von welchem man gar nicht einmal weiß, was es
für einen Gottesdienst in Ägypten hatte. Denn an dem Gottesdienste der Ägypter
durften so verachtete Sklaven nicht teilnehmen: und der Gott seiner Väter war
ihm gänzlich unbekannt geworden.
§ 10.
Vielleicht, dass ihm die Ägypter allen Gott, alle Götter ausdrücklich
untersagt hatten; es in den Glauben gestürzt hatten, es habe gar keinen Gott,
gar keine Götter; Gott, Götter haben, sei nur ein Vorrecht der bessern
Ägypter: und das, um es mit so viel größerm Anscheine von Billigkeit
tyrannisieren zu dürfen. - Machen Christen es mit ihren Sklaven noch itzt viel
anders? -
§ 11.
Diesem rohen Volke also ließ sich Gott anfangs bloß als den Gott seiner Väter
ankündigen, um es nur erst mit der Idee eines auch ihm zustehenden Gottes
bekannt und vertraut zu machen.
§ 12.
Durch die Wunder, mit welchen er es aus Ägypten führte und in Kanaan
einsetzte, bezeugte er sich ihm gleich darauf als einen Gott, der mächtiger
sei, als irgendein andrer Gott.
§ 13.
Und indem er fortfuhr, sich ihm als den Mächtigsten von allen zu bezeugen, -
welches doch nur einer sein kann, - gewöhnte er es allmählich zu
dem Begriffe des Einigen.
§ 14.
Aber wie weit war dieser Begriff des Einigen noch unter dem wahren
transzendentalen Begriffe des Einigen, welchen die Vernunft so spät erst aus
dem Begriff des Unendlichen mit Sicherheit schließen lernen!
§15.
Zu dem wahren Begriffe des Einigen - wenn sich ihm auch schon die Besserem des
Volks mehr oder weniger näherten - konnte sich doch das Volk lange nicht
erheben: und dieses war die einzige wahre Ursache, warum es so oft seinen
Einigen Gott verließ und den Einigen, d. i. Mächtigsten, in irgendeinem andern
Gotte eines andern Volks zu finden glaubte.
§ 16.
Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, noch so
völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer moralischen
Erziehung fähig? Keiner andern, als die dem Alter der Kindheit entspricht. Der
Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen.
§ 17.
Auch hier also treffen Erziehung und Offenbarung zusammen. Noch konnte Gott seinem Volke keine andere Religion, kein anders Gesetz geben, als eines,
durch dessen Beobachtung oder Nichtbeobachtung es hier auf Erden glücklich oder unglücklich zu werden hoffte oder fürchtete. Denn weiter als auf dieses
Leben gingen noch seine Blicke nicht. Es wusste von keiner Unsterblichkeit der Seele; es sehnte sich nach keinem künftigen Leben. Ihm aber nun schon diese
Dinge zu offenbaren, welchen seine Vernunft noch so wenig gewachsen war: was würde es
bei Gott anders gewesen sein, als der Fehler des eiteln Pädagogen, der sein Kind lieber übereilen und mit ihm prahlen, als gründlich unterrichten will.
§ 18.
Allein wozu, wird man fragen, diese Erziehung eines so rohen Volkes, eines Volkes, mit welchem Gott so ganz von vorne anfangen musste? Ich antworte:
um in der Folge der Zeit einzelne Glieder desselben so viel sichrer zu Erziehern aller übrigen Völker brauchen zu können. Er erzog in ihm die künftigen Erzieher
des Menschengeschlechts. Das wurden Juden, das konnten nur Juden werden, nur Männer aus einem so erzogenen Volke.
§ 19.
Denn weiter. Als das Kind unter Schlägen und Liebkosungen aufgewachsen und nun zu Jahren des Verstandes gekommen war, stieß es der Vater auf
einmal in die Fremde; und hier erkannte es auf einmal das Gute, das es in seines Vaters Hause gehabt und nicht erkannt hatte.
§ 20.
Während dass Gott sein erwähltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung führte: waren die andern Völker des Erdbodens
bei dem Lichte der Vernunft ihren Weg fortgegangen. Die meisten derselben waren weit hinter dem erwählten Volke zurückgeblieben: nur einige waren ihm zuvorgekommen. Und
auch das geschieht bei Kindern, die man für sich aufwachsen lässt; viele bleiben ganz roh; einige bilden sich zum Erstaunen selbst.
§ 21.
Wie aber diese glücklichern Einige nichts gegen den Nutzen und die
Notwendigkeit der Erziehung beweisen: so beweisen die wenigen heidnischen Völker,
die selbst in der Erkenntnis Gottes vor dem erwählten Volke noch bis itzt einen Vorsprung zu haben schienen, nichts gegen die Offenbarung.
[...]
§ 34.
Noch hatte das jüdische Volk in seinem Jehova mehr den Mächtigsten, als den Weisesten aller Götter verehrt; noch hatte es ihn als einen eifrigen Gott mehr
gefürchtet, als geliebt: auch dieses zum Beweise, dass die Begriffe, die es von seinem höchsten einigen Gott hatte, nicht eben die rechten Begriffe waren, die
wir von Gott haben müssen. Doch nun war die Zeit da, dass diese seine Begriffe erweitert, veredelt, berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz
natürlichen Mittels bediente; eines bessern richtigern Maßstabes, nach welchem es ihn zu schätzen Gelegenheit bekam.
§ 35.
Anstatt dass es ihn bisher nur gegen die armseligen Götzen der kleinen benachbarten rohen Völkerschaften geschützt hatte, mit welchen es in beständiger
Eifersucht lebte: fing es in der Gefangenschaft unter dem weisen Perser an, ihn gegen das Wesen aller Wesen zu messen, wie das eine geübtere Vernunft
erkannte und verehrte.
§ 36.
Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung.
§ 37.
Das war der erste wechselseitige Dienst, den beide einander leisteten; und dem Urheber
beider ist ein solcher gegenseitiger Einfluss so wenig unanständig, das ohne ihm eines von
beiden überflüssig sein würde. [...]
§ 51.
Aber jedes Elementarbuch ist nur für ein gewisses Alter. Das ihm entwachsene
Kind länger, als die Meinung gewesen, dabei zu verweilen, ist schädlich. Denn
um dieses auf eine nur einigermaßen nützliche Art tun zu können, muss man
mehr hineinlegen, als darin liegt; mehr hineintragen, als es fassen kann. Man muss
der Anspielungen und Fingerzeige zu viel suchen und machen, die Allegorien zu
genau ausschütteln, die Beispiele zu umständlich deuten, die Worte zu stark
pressen. Das gibt dem Kinde einen kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand;
das macht es geheimnisreich, abergläubisch, voll Verachtung gegen alles Fassliche
und Leichte.
§ 52.
Die nämliche Weise, wie die Rabbinen ihre heiligen Bücher behandelten! Der
nämliche Charakter, den sie dem Geiste ihres Volks dadurch erteilten!
§ 53.
Ein bessrer Pädagog muss kommen und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus
den Händen reißen. - Christus kam.
§ 54.
Der Teil des Menschengeschlechts, den Gott in
einen Erziehungsplan hatte
fassen wollen - er hatte aber nur denjenigen in einen fassen wollen, der durch
Sprache, durch Handlung, durch Regierung, durch andere natürliche und
politische Verhältnisse in sich bereits verbunden war - war zu dem zweiten
großen Schritte der Erziehung reif.
§ 55.
Das ist: dieser Teil des Menschengeschlechts war in der Ausübung seiner
Vernunft so weit gekommen, dass er zu seinen moralischen Handlungen edlere,
würdigere Bewegungsgründe bedurfte und brauchen konnte, als zeitliche
Belohnungen und Strafen waren, die ihn bisher geleitet hatten. Das Kind wird
Knabe. Leckerei und Spielwerk weicht der aufkeimenden Begierde, ebenso frei,
ebenso geehrt, ebenso glücklich zu werden, als es sein älteres Geschwister
sieht.
§ 56.
Schon längst waren die Bessern von jenem Teile des Menschengeschlechts gewohnt,
sich durch einen Schatten solcher edlern Bewegungsgründe regieren zu lassen. Um nach diesem Leben auch nur in dem Andenken seiner Mitbürger fortzuleben,
tat der Grieche und Römer alles.
§ 57.
Es war Zeit, dass ein andres
wahres nach diesem Leben zu gewärtigendes
Leben Einfluss auf seine Handlungen gewönne.
§ 58.
Und so ward Christus der erste
zuverlässige, praktische Lehrer der
Unsterblichkeit der Seele.
§ 59.
Der erste zuverlässige Lehrer. - Zuverlässig durch die Weissagungen,
die in ihm erfüllt schienen; zuverlässig durch die Wunder, die er verrichtete;
zuverlässig durch seine eigene Wiederbelebung nach einem Tode, durch den er
seine Lehre versiegelt hatte. Ob wir noch itzt diese Wiederbelebung, diese
Wunder beweisen können: das lasse ich dahingestellt sein. So, wie ich es
dahingestellt sein lasse, wer die Person dieses Christus gewesen. Alles das kann
damals zur Annehmung seiner Lehre wichtig gewesen sein: itzt ist es zur
Erkennung der Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr.
§ 60.
Der erste praktische Lehrer. - Denn ein anders ist, die Unsterblichkeit
der Seele, als eine philosophische Spekulation, vermuten, wünschen, glauben:
ein anders, seine innern und äußern Handlungen darnach einrichten.
§ 61.
Und dieses wenigstens lehrte Christus zuerst. Denn ob es gleich bei manchen
Völkern auch schon vor ihm eingeführter Glaube war, dass böse Handlungen noch
in jenem Leben bestraft würden: so waren es doch nur solche, die der
bürgerlichen Gesellschaft Nachteil brachten, und daher auch schon in der
bürgerlichen Gesellschaft ihre Strafe hatten. Eine innere Reinigkeit des
Herzens in Hinsicht auf ein andres Leben zu empfehlen, war ihm allein
vorbehalten.
§ 62.
Seine Jünger haben diese Lehre getreulich fortgepflanzt. Und wenn sie auch kein
ander Verdienst hätten, als dass sie einer Wahrheit, die Christus nur allein
für die Juden bestimmt zu haben schien, einen allgemeinem Umlauf unter mehrern
Völkern verschafft hätten: so wären sie schon darum unter die Pfleger und
Wohltäter des Menschengeschlechts zu rechnen.
§ 63.
Dass sie aber diese eine große Lehre noch mit andern Lehren versetzten, deren
Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich war: wie konnte
das anders sein? Lasst uns sie darum nicht schelten, sondern vielmehr mit Ernst
untersuchen: ob nicht selbst diese. beigemischten Lehren ein neuer Richtungsstoß
für die menschliche Vernunft geworden. [...]
§ 81.
Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchste Stufen der Aufklärung
und Reinigkeit nie kommen? Nie?
§ 82.
Nie? - Lass mich diese Lästerung nicht denken, Allgütiger! — Die Erziehung
hat ihr Ziel; bei dem Geschlechte nicht weniger als bei dem Einzeln. Was
erzogen wird, wird zu Etwas erzogen.
§ 83.
Die schmeichelnden Aussichten, die man dem Jünglinge eröffnet; die Ehre, der
Wohlstand, die man ihm vorspiegelt: was sind sie mehr, als Mittel, ihn zum Manne
zu erziehen, der auch dann, wenn diese Aussichten der Ehre und des Wohlstandes
wegfallen, seine Pflicht zu tun vermögend sei.
§ 84.
Darauf zwecke die menschliche Erziehung ab: und die göttliche reiche dahin
nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur nicht auch mit
dem Ganzen gelingen? Lästerung! Lästerung!
§ 85.
Nein; sie wird kommen, sie wird gewiss kommen, die Zeit der Vollendung, da der
Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet,
von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen,
nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist, nicht
weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, die seinen flatterhaften
Blick ehedem bloß heften und stärken sollten, die innern bessern Belohnungen
desselben zu erkennen.
§ 86.
Sie wird gewiss kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die uns selbst
in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird. [...]
§ 91.
Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur lass mich dieser
Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. - Lass mich an dir nicht
verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurückzugehen! -
Es ist nicht war, dass die kürzeste Linie immer die gerade ist.
(aus: Lessings Werke, hrsg. v. Kurt Wölfel, Bd. 3, Insel Verlag, Frankfurt
a. M., 1967, 5. 544—547, 555—557, 560-561, 562. -
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ZUM TEXT
1 Entstehungsgeschichte
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„Die Rättin“
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023