Viele Varianten in Abgrenzung zum
Drama der geschlossenen Form
Das
▪
Drama der offenen Form
weist im Hinblick auf die dramaturgischen Formparameter von
Handlung, Personal, Raum, Zeit, Sprache und Komposition
bestimmte idealtypische Formelemente auf, die meist ex negativo
aus typischen Merkmalen des
▪ Dramas der
geschlossenen Form abgeleitet werden. (vgl.
Pfister 1977, S. 322) Dass diese "negative Kontrastfolie" (Boehnisch
2012, S. 142) aber nur in ausgesuchten Beispielkontexten
funktioniert und selbst darin vergleichsweise "vage" bleiben
muss (ebd.),
sei hier nur am Rande vermerkt.Dementsprechend ändern sich in
der offenen Form im Vergleich zur geschlossenen auch nicht die
grundlegenden Elemente des Dramas, sondern lediglich " ihre
syntaktisch-dramaturgische Verknüpfung." (ebd., S. 140)
Die beiden Idealtypen des Dramas, die
Volker Klotz (Geschlossene und offene Form im
Drama, 1960) auf der Basis seines deskriptiven Ansatzes, der
empirisch-historische und überhistorisch typisierende Aspekte
miteinander verbindet, dienen heutzutage unter Beachtung der dem Modell innewohnenden
"Tendenz zur mechanistischen Antithetik" (Pfister
1977,
S. 319) als Analyseraster und Beschreibungsmodelle der Dramenanalyse.
Grundsätzlich darf die Konstruktion der beiden Idealtypen
und ihrer "formalen Komponentenbündel" (Asmuth
62004,
S.49) freilich nicht so verstanden werden, als ob sich damit die
tatsächliche Vielfalt von Dramenformen erfassen ließe. Dies gilt
für beide Formtypen, aber um einiges mehr für die Dramen, die
der offenen Form zugeordnet werden können.
Das Ganze in Ausschnitten: Welt und
Welterfahrung in fragmentierter Form
Wo die geschlossene Komposition des Dramas auf einer
szenisch präsentierten Ideenwelt mit einer "idealistischen
Ideologie von Harmonie, Mäßigung und Ausgewogenheit" (Boehnisch
2012, S. 139) basiert, die sich in den streng stilisierten
Kompositionsprinzipien des Dramentyps bis hin zur sprachlichen
Gestalt mit ihrer "austarierten und zu Sentenzen neigenden
Figurenrede" (ebd.,
S.140) niederschlägt, zeigt das offene Drama ein grundsätzlich
anderes Gesicht.
Das offene Drama präsentiert eine "offene, aspekthafte
Darstellung einer fragmentierten, zusammenhanglosen modernen
Welt" (ebd.,
S.141), die sich auch "der klaren, rationalen sprachlichen
Artikulation entzieht." (ebd.)
In der Kunst-Sprache des geschlossenen Dramas werden die
Widersprüche und Gegensätze der Welt noch kognitiv und rational
aufgehoben, während im offenen Drama die Sprache auf
Kollisionskurs mit der Realität geht und die Figuren, die sie
sprechen, können sie als Mittel der Welterfassung und -erklärung
kaum mehr nutzen, "ergehen sich in leeren Floskeln, zerbrochenem
Satzbau und scheinen zuweilen »von der Sprache gesprochen« zu
werden." (ebd.)
Oder wie von
Klotz (1960,
S.) formuliert: "Wird im geschlossenen Drama die Wirklichkeit
emporgeläutert auf die Ebene wohlgefügter Verssprache, wird das
Stofflich-Sperrige dort eingemeindet, gezähmt und stilisiert in
den exclusiven Raum hierarchisch geordneter Syntax und gekürter
Bildlichkeit – so sucht die Sprache hier der Wirklichkeit auf
gleicher Ebene rückhaltlos und unmittelbar Ausdruck zu
schaffen."
Klotz (1960,
S.) spricht in diesem Zusammenhang von der "induktiven Sicht und
Bauweise" der Syntax, deren Ausgangspunkt der einzelne Satzteil
sei und stilistisch Parataxen bevorzugt: "Der Zusammenhang
jedoch, wie bei den Szenen, bleibt im Unterlogischen,
Außergrammatischen, polyperspektivische Weltsicht hintertreibt
jegliche wertende Unterordnung, jegliche Staffelung nach einer
einheitlichen Fluchtlinie. Die Satzbewegung springt von Punkt zu
Punkt, sie ergreift die Wirklichkeit als eine ständig wechselnde
Aspektfolge, wobei sinnliche Anschaulichkeit allemal die
rationale Verstrebung überdeckt."
Statt einheitlichem Kompositionskonzept vielfältige Formen der
Szenenverknüpfung
"Das Ganze in Ausschnitten" (Klotz 1960,
S.) , d. h. die "offene, aspekthafte Darstellung einer
fragmentierten, zusammenhanglosen modernen Welt" (Boehnisch
2012, S.141), wie sie die offenen Formen des Dramas
darbietet, passt naturgemäß nicht in ein streng stilisiertes
Kompositionsmodell wie es ein idealtypisches Drama der
geschlossenen Form mit seiner "idealistischen Ideologie von
Harmonie, Mäßigung und Ausgewogenheit" (Boehnisch
2012, S. 139) und seiner "austarierten und zu Sentenzen neigenden
Figurenrede" (ebd.,
S.140) aufweist.
Die fragmentierte Welt ist eben kein "geschlossenes Ganzes,
Gerundetes" (Klotz 1960,
S.) und dementsprechend gibt das offene Drama auch auf, diese
Totalität in der Idee darzustellen. Und damit bleibt auch die
Finalität der Handlung, wie sie das geschlossene Drama
auszeichnet, auf der Strecke.
Statt den Fokus auf das dramatische Ganze zu richten, gerät
im offenen Drama eine "allseitige empirische Totalität" (Klotz 1960,
S.) zur Darstellung, die eine "sinnliche Überfülle der
Situation, des dramatischen Augenblicks" (Boehnisch
2012, S. 140) präsentiert, die sich sowohl auf die Art der
Verknüpfung der Szenen sondern auch auf die Art ihrer
sprachlichen Bewältigung auswirkt.
Um die "auseinander strebenden Geschehnispartikel", wie
Klotz (1960,
S.) die wohl kleinsten bedeutungstragenden dramatischen
Ereignismomente bezeichnet, in einen kohärenten Zusammenhang zu
bringen, muss das offene Drama seine "isolierten, autonomen
Szenen" (Boehnisch
2012, S. 141) mit Hilfe
rekurrenter dramatischer Mittel miteinander verknüpfen.
Beispiele für Damen der offenen Form
Zu dem Idealtypus der offenen Form gehören eine Vielzahl von
Dramen mit unterschiedlichen Formen, die vor allem eines
gemeinsam haben: Sie weichen vom Idealtypus der geschlossenen
Form ab.
Dies betrifft
(1977, S. 322 die Dramen des
▪
Sturm und Drang, Büchners Dramen, das
naturalistische Drama ebenso wie das satirische Drama, das
epische Theater, das absurde Theater oder auch das
Dokumentartheater, die außer dieser gemeinsamen Abweichung wenig
Gemeinsamkeiten aufweisen.
In jedem Fall lässt sich in der Realität wohl kaum ein Drama
finden, das sämtliche Kriterien erfüllt, die vom Idealtyp der
offenen Form vorgeben werden. Dennoch: Als Analyseraster und
Beschreibungsmodell kann das Ganze bei der Dramenanalyse
verwendet werden, insbesondere dann wenn einzelne Kriterien
angewendet werden, ohne den Anspruch auf eine lupenreine
Zuordnung zum Idealtyp.
Musterbeispiele/Prototypen, z. B.
Grundsätzlich darf diese Konstruktion von Idealtypen freilich
nicht so verstanden werden, als ob sich damit die tatsächliche
Vielfalt von Dramenformen erfassen ließe.
Die Merkmale des offenen Dramas im Überblick
|
Offene Form |
Handlung |
-
Szenen besitzen relative Autonomie und damit ein
Eigengewicht
-
Zusammenhang der Szenen (Kohärenz) wird
mit
unterschiedlichen kompositorischen Elementen
hergestellt
-
mehrsträngige Fabel (multiple Plotstrukturen,
Polymethie)
-
ohne finale Ausrichtung der Handlung und ohne
Fokussierung auf eine dramatische Gesamtidee
|
Zeit |
|
Raum |
-
Vielheit der Orte, Schauplätze und Räume
-
keine räumlichen Begrenzungen
-
Ortswechsel häufig
-
Ort nimmt als dynamische Größe Einfluss auf des
Verhalten der Figuren (Katalysatorfunktion)
|
Personal / Figuren |
-
unbegrenzte Figurenzahl
-
zahlreiche Neben- und Randfiguren
-
Standeszugehörigkeit bedeutungslos
-
Figuren sind von ihrer Herkunft, Milieu und dem
sie sonst wie prägenden gesellschaftlichen
Kontext sowie der Fülle, der auf sie
einwirkenden Elemente in ihrer Wahrnehmung,
ihrem Horizont und ihrer Gefühlswelt beschränkt
-
Welt als anonymer Antagonist, Figuren als Opfer
der Umstände
|
Sprache |
-
kein einheitlicher Sprachstil (Stilpluralismus)
-
Prosaform
-
Umgangssprache mit Tendenz zu kurzen Hauptsätzen
(Parataxen)
oder
Ellipsen
-
große Bedeutung der Körperlichkeit der Figuren
und ihres mimisch-gestischen Verhaltens
-
Welt ist mit Sprache allein nicht zu fassen
-
Sprache angefüllt mit leeren Floskeln,
zerbrochenem Satzbau, die die fragmentierte und
in sich widersprüchliche Weltsicht nahezu
eigendynamisch ausstellt
|
Komposition |
- aspekthafte Darstellung einer
fragmentierten, von Widersprüchen geprägten,
zusammenhanglosen Welt
- unvermittelter Anfang und offenes,
unvermitteltes Ende
- Verknüpfung der Szenen durch
rekurrente dramaturgische Prinzipien, z. B.
durch
- Komplementäre, um ein Thema kreisende
Handlungsstränge
- Variation und Opposition der Szenen
- zyklische Muster der Szenenfolge oder
Wiederholungen bestimmter Elemente
- Leitmotive, metaphorische Bildketten
- Isotopien: kleinste als Ganzes Bedeutung
tragende dramatische Einheiten, die aus
einer Struktur sprachlicher und
nichtsprachlicher (theatralischer) Zeichen
bestehen
- aber auch: bewusste Betonung des
Ausschnitthaften bzw. Fragmentarischen einer
Szene (Aposiopese)
|
(vgl. u. a.
Klotz 1960;
Pfister 1977;
Müller 1988;
Asmuth 62004; Boehnisch
2012,
Fricke/Zymner 1993;
Schößler 2017,
Becker/Hummel/Sander 22018)
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
|