Ungeachtet der Tatsache, dass das
▪ rezeptionsästhetische
Modell seit Mitte der siebziger Jahre in der Literaturwissenschaft
etwas in den Hintergrund getreten ist, zeigt sich in der Literaturdidaktik seit den neunziger Jahren
eine sehr verbreitete Hinwendung zu rezeptionsästhetischen Überlegungen.
Dies hat vor allem den Grund, dass ein Literaturunterricht, der sich
ausschließlich
werkimmanenter
Interpretationsmethoden bedient, nicht mehr so ohne weiteres mit
der überall geforderten Handlungsorientierung in Einklang zu bringen ist.
Statt begriffsbestimmter Textanalyse bzw. -interpretation rückten
nun "produktionsorientierte" Verfahren in den
Vordergrund,
die den unterschiedlichen Lektüreerfahrungen der Rezipienten bei
ihrer ▪
Sinnkonstruktion und Auseinandersetzung mit literarischen Texten die größte
Aufmerksamkeit schenkten.
In der
▪
Literaturdidaktik werden solche Methoden häufig unter dem Begriff
▪ "Literarisches
Rollenspiel" als Sammelbegriff zusammengefasst. (vgl.
Abraham/Kepser
22006, S.195) Dabei wird versucht, "sowohl die
persönliche Erfahrung der Leser bzw. Schüler in die Auseinandersetzung mit
dem literarischen Text einzubeziehen, als auch ein angemessenes Verständnis
für die Aussage und Form solcher Texte zu fördern." (Lensch
2000, S.11)
Auch wenn sich die Aufgabenstellungen des literarischen
Rollenspiels nicht allesamt auf rezeptionsästhetische Überlegungen
zurückführen lassen, kann man doch davon ausgehen, dass sich
Rezeptionsästhetik und das angeleitete literarische Rollenspiel gegenseitig
ergänzen, so wie von Martin
Lensch (2000, S.13) formuliert: "Beim Lesen werden über die
Unbestimmtheiten
Bedeutungen generiert, beim Spielen werden diese Bedeutungszuschreibungen
sichtbar, kommunizierbar und damit interpretierbar. Für das textbezogene ,
literarische Rollenspiel heißt das [...]: Wenn es nicht laienhaftes
Theaterspiel sein will, muss es mit den Leerstellen und Unbestimmtheiten
arbeiten. Das heißt: Spielen, was nicht im Buche steht. In diesem Sinne
eignet sich auch nicht jeder Text in gleicher Weise zum Spiel in der Gruppe,
vielmehr eröffnet er spezifische Möglichkeiten, zum Spiel, und das heißt:
zum Ausspielen von
Leerstellen
und Unbestimmtheiten."
Dennoch bleibt wohl, wie
Abraham/Kepser (22006, S.195) betonen, angesichts anderer
Varianten des literarischen Rollenspiels zu überlegen, ob man, um eine zu
enge rezeptionsästhetische Fundierung solcher Methoden zu vermeiden, in
diesem Zusammenhang nicht eher davon sprechen sollte, "dass der literarische
Text offene Sinnangebote macht, die vom Leser in einem Kontinuum zwischen
Konkretisieren und Interpretieren angenommen oder abgelehnt werden."
Dessen ungeachtet ist die weitere Entwicklung derartiger Methoden in der
▪
Literaturdidaktik, anknüpfend an das
sprachdidaktische Rollenspiel der
siebziger Jahre, doch in ganz erheblichem Maße von der Rezeptionsästhetik
beeinflusst worden.
Ihr Einfluss, aber auch andere Faktoren, haben schließlich zu
einem ganzen ▪
Katalog textproduktiver Verfahren
geführt, die sich um die Aufarbeitung der Lektüreerfahrungen der Leser,
die "Abenteuer des Lesers" (Lensch
2000, S.9, Hervorh.d.Verf.), bemühen.
Insbesondere in der
▪
Dramendidaktik haben solche, auf rezeptionsästhetischen Prämissen
beruhenden
▪
produktionsorientierten Konzepte großen Einfluss gewonnen und sind in
vielfacher Weise in den Unterricht eingegangen. (z. B.
Günter Waldmann (2001/52008,
vgl.
Lösener (2005,
S. 310ff.). (▪
produktive
Textarbeit)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023