Rezeptionsästhetisches Modell

Grundgedanken

Martin Lensch (2000)


"Die unterschiedliche Wirkungsweise von Texten ist das zentrale Thema der literarischen Rezeptionsästhetik. Sie versucht zu erfassen, welche Qualitäten des Textes und welche Eigenarten des menschlichen Bewusstseins die verschiedenen Lesearten literarischer Werke entstehen lassen. [...] Es geht nicht mehr nur um die Frage, was uns der Leser mitteilen will, sondern auch um die Entdeckungen, die der Leser macht, wenn er den Text liest. Die Abenteuer des Leser - das ist ihr Interesse. Kernstück jenes Teils der Rezeptionsästhetik, den Roman Ingarden und Wolfgang Iser repräsentieren, sind folgende Gedanken: Ein literarisches Werk ist kein für sich bestehendes Objekt, das jedem Betrachter zu jeder Zeit den gleichen Anblick bietet. Vielmehr sind Texte von Unbestimmtheiten gekennzeichnet, das heißt, sie sind nicht auf eindeutige Ansichten des Textgegenstandes und Sinngehalte festlegbar, sondern auf die Vorstellungskraft des Lesers angewiesen, der diese Textgehalte vervollständigen muss, damit Bedeutung und Sinn überhaupt entstehen kann. Der virtuelle Interaktionsprozess zwischen Text und Leser wird sowohl von den Textstrukturen als auch von den Erfahrungen und Werthaltungen des Lesers geprägt. Literatur bildet Wirklichkeit damit nicht ab, vielmehr entfalten sich ihre Wirklichkeitsangebote erst, wenn der Leser sie wahrnimmt, aufnimmt und in seiner Phantasie ausmalt. Eine entscheidende Bedeutung kommt dabei den Unbestimmtheitsstellen zu, die - metaphorisch gesprochen - die offenen Einfallstore für die Phantasie des Lesers in den Text sind. Diese Unbestimmtheitsstellen sind nicht sein Mangel, sondern sein eigentliches Wirkungspotential: Die Wirkung geht von dem aus, was nicht geschrieben ist. Dieser Prozess des objektiv im Text verankerten, subjektiv realisierten Potentials ermöglicht und erfordert es, bisher Unbekanntes aus dem Hintergrund der eigenen Erfahrungsgeschichte zu beleuchten. Gespeist werden diese Lücken aus dem Vorrat von Haltungen, Einstellungen und Bildern, über den Leser zum Zeitpunkt des Leseakts verfügen."

(aus: Martin Lensch, Spielen, was (nicht) im Buche steht. Die Bedeutung der Leerstelle für das literarische Rollenspiel, Münster: Waxmann 2000, S.9f.) 
 


   Arbeitsanregungen:
  1. Fassen Sie die dargestellten Grundgedanken in Stichworten zusammen.
  2. Versuchen Sie, einzelne Thesen zu erläutern.