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Barock (1600-1720)
▪
Lyrik des Barock
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Barocke Liebeslyrik
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Ehebruch
▪
Vorehelicher
und außerehelicher Geschlechtsverkehr
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Die Entwicklung sozial konstruierter Scham
in der frühen Neuzeit und im Barock
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(Literaturgeschichte:) Die höfische Form der Erotik im Barock
▪ Das Fieberliedlin von ▪ Martin Opitz
(1597-1639) gehört zu den sangbaren ▪
Liedern, die der Autor
in seinen jungen Jahren gedichtet hat. Es zählt zur ▪
deutschsprachigen Popularliteratur des ▪
Barock (1600-1720) und hat in der damaligen
Jugendkultur sicher seinen Platz gehabt, auch wenn oder vielleicht auch
gerade weil "Buhlereyen" dieser Art,
die kaum ein Blatt vor den Mund nahmen, sicher auch auf harsche Kritik, vor
allem aus religiösen, aber auch sonst auf Sittenstrenge achtenden
bürgerlichen Kreisen getroffen sind.
Die "offensive Weltlichkeit dieser erotischen Dichtung" (Wels
2018,
S.327), die mehr oder weniger explizite und konkrete Beschreibung des
Beischlafs (vgl.
Blecken 22009, S.34) und "die Erregung der Seelen und Leiber,
von welcher die zugesprochene Liebesvereinigung zeugt" (Brode
1988, S.14) passte jedenfalls nicht in das Selbstkonzept des Dichters,
mit dem er sich mit seiner Sammlung öffentlich präsentieren wollte. Zudem
entsprach dies auch dem Stellenwert des Liedes im Schaffen des Autors nicht,
in dem es mit seiner erotischen Ausdrücklichkeit und der "Beschreibung eines
Orgasmus" (Wels
2018, S.325) eine Ausnahmestellung unter den zahlreichen »Buhlereyen«
einnimmt, die auch in den »Teutschen
Poemeta zahlreich vorhanden sind.
Es ist ein "exstatisches Liebesgedicht" (Brode
1988, S.14), das in der Beschreibung des Verhaltens und in der
Wechselrede der einander körperlich Liebenden darstellt, wie sich die
Erregung beider "im Fortgang der vier Strophen steigert wie eine
unaufhaltsame Krankheit zum Tode." (ebd.)
Schon die ersten beiden Verse beschreiben, dass der Mann und die Frau sich
in einem leidenschaftlichen Liebesspiel befinden, das sie wie ein Fieber
ergriffen hat ("fiebers schmertz").
Noch findet der Liebhaber Worte, mit denen er sein Begehren seiner Geliebten
gegenüber ausdrücken kann, versichert er ihr ganz zugetan zu sein und seine
Erregung weiter zu steigern.
Als diese steigt und er mehr und mehr erregt wird, kann er kaum noch
sprechen ("Die
Sprache ließ schon nach") und ist der Physiologie der Erregung
"ausgeliefert" (Hitze, steigender Puls), die in jetzt, da er sich
offensichtlich mit ihr vereinigt hat, ihm große Lust bereitet ("Empfund
[...]
Weil er bey
jhr wahr/ lust vnd freuden").
Die Geliebte schließt die Augen ("schlug
die augen nieder"), als sie gewahr wird, wie er, ganz von Sinnen ("fiel
in den todt", "Geist würd auß zu fahrn")
auf seinen Orgasmus zusteuert und er dabei seinen hochroten Kopf ("Sein Hertz wurd matt/ die adern sprungen")
hin und her bewegt.
Wie zur Bestätigung, dass auch sie den sexuellen Verkehr als lustvoll erlebt
hat, aber auch ihm den Höhepunkt zugesteht, äußert sie, dass sie sich
geradezu schwerelos treiben lasse ("Jch schwimme wegen dein").
Der Mann, der nach seinem Orgasmus, die Sprache wiedergefunden hat,
umschmeichelt sie dafür mit zärtlichen Worten ("Vnd ich
[...] muß geben
Für dich mein Seelelein")
Die beiden letzten Verse runden das Ganze ab und rechtfertigen noch einmal
die körperliche Vereinigung der Geliebten ("So
ist er in der Schoß gestorben/
Die er so treulich hatt erworben."), indem sie zugleich "die uralte
Vorstellung des Liebestodes" (Brode
1988, S.14) evozieren. Damit das Lied nicht auch als Darstellung eines
Ehebruchs missverstanden wurde, könnte der Verweis darauf am Ende sein, dass
der Liebhaber den sexuellen Vollzug "treulich"
erworben hat.
Auch wenn allgemein gesagt werden kann, dass sich der sexuelle Verkehr der
beiden "als Vorgang des Leidens und Sterbens, als Rauscherfahrung" (ebd.,
S.15) darstellt, "welche zur Entgrenzung und Sprengung von Leib und
Bewußtsein führt" (ebd.),
ist es männliche Sexualität und der männliche Orgasmus, den das Lied
gestaltet. Die Frau gibt sich dem Mann hin und wird nie als Subjekt eigener
sexueller Bedürfnisse dargestellt.
Eine selbstbestimmten Sexualität wurde Frauen im patriarchalischen und
religiösen Diskurs der Zeit ohnehin nicht zugestanden, auch wenn man die in
diesem Diskurs entwickelten Normen und Vorstellungen nicht 1: 1 als Ausdruck
der tatsächlichen sexuellen Praktiken unter Eheleuten verstehen darf, die
sich da ▪
nicht so leicht hineinreden ließen.
Feststeht aber,
dass die Ehepartner der damaligen Zeit "im ehelichen Bett nicht
allein (waren) – der Schatten des Beichtvaters wachte über ihrem
Treiben." (Flandrin
1992, S.159)
Da kam dann zur Sprache,
wenn der Mann sich seiner Frau "wie einer Dirne", einer Geliebten
oder einer Mätresse gleich zur Befriedigung seiner "Fleischeslust"
näherte, wenn Männer "ihre Frauen in ihrem eigenen Bett tausend
Geilheiten, tausend Schlüpfrigkeiten, tausend neue Stellungen,
Wendungen, Arten" (»Pierre
de Bourdeille, seigneur de Brantôme (1540-1614), zit. n.
ebd.,
S.161) lehrten. Zugleich aber, und das ist ja eine "christliche
Erfindung" (ebd.,
S.162), ging die christliche Sexualmoral mit ihrer Definition
gegenseitiger ehelicher Pflichten (debitum) von der "Gleichheit
zwischen Mann und Frau auf dem Gebiet der Sexualität" aus, "die in
der westlichen Welt den traditionell gültigen Vorstellungen
widersprach" (ebd.). Jeder der beiden, ob Mann oder Frau, "hatte, wie Paulus
sagt, das Verfügungsrecht über den Körper des anderen." (ebd.,
S.151).
Trotzdem drohte den Frauen in der Wirklichkeit wohl eher das
Schicksal sexueller Unterwerfung unter den Willen des Mannes. So
bleibt denn auch "zu fragen, welches Recht auf Lust sie bei diesem
Handel hatte, der auf ihre Neigungen wahrscheinlich wenig Rücksicht
nahm." (ebd.)
Für die Theologen war das eher ein theoretisches Problem, auf das
sie auch eine theoretische Antwort hatten: "man glaubte, die Lust
stelle sich bei der Frau wie beim Mann automatisch im Augenblick der
Ejakulation ein." (ebd.)
Dass sich daraus eine Kaskade von Fragen und Antworten ergab, wie z.
B. "ob es nötig war, dass die Frau beim Beischlaf zum Samenerguss
kam" (ebd.)
oder ob der sexuelle Verkehr so lange anzudauern hatte, bis dies
erreicht war und vieles mehr kann hier nur angedeutet werden. Solche
kasuistischen Erörterungen trugen neben anderen Faktoren zu der
"zunehmenden Angst vor den Abgründen des Unterleibs" (ebd.)
bei und gehören zu den internalisierten Regeln, die diese
Sexualmoral zu einem Motor der ▪
Sozialdisziplinierung
werden ließen.
Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an die Dämonisierung der weiblichen Sexualität in den
Hexenverbrennungen des 16. Jahrhunderts, die "das Stereotyp der
alten Frau vom Land, die sich zügellos dem Satan hingibt,
(verbreiteten) " (Muchembled
2008, S.111)
Zur Vertiefung:
»Die
Wissenschaft vom Höhepunkt: Wie Frauen und Männer den Orgasmus erleben (GEO
KOMPAKT Nr. 43 0)6/15
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Die Entwicklung sozial konstruierter Scham
in der frühen Neuzeit und im Barock
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(Literaturgeschichte:) Die höfische Form der Erotik im Barock
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023