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Bertram, Jochen: Ein würdiges Gedenken, 1988
▪ Dönhoff, Marion Gräfin: Ein verfehltes Kolleg, 1988
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Erlebte Rede - eine "gefährliche Form" - Die Analyse des
Literaturwissenschaftlers Jochen Vogt - 1990
(Am 10.11. 1988 hielt der damalige Bundestagspräsident
»Philipp Jenninger
(1932-2018) (CDU) zum Gedenken an die Reichspogromnacht
1938 vor dem Bundestag die folgende Rede:)
Meine Damen und Herren! Die Juden in Deutschland und in
aller Welt gedenken heute der Ereignisse vor 50 Jahren. Auch wir Deutschen
erinnern uns an das, was sich vor einem halben Jahrhundert in unserem Land
zutrug, und es ist gut. dass wir dies in beiden Staaten auf deutschem
Boden tun; denn unsere Geschichte lässt sich nicht aufspalten in Gutes
und Böses, und die Verantwortung für das Vergangene kann nicht verteilt
werden nach den geographischen Willkürlichkeiten der Nachkriegsordnung.
Ich begrüße zu dieser Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag den
Herrn Bundespräsidenten und den Herrn Botschafter des Staates Israel.
Mein besonderer Gruß gilt an diesem Tag allen jüdischen Mitbürgerinnen
und Mitbürgern in Deutschland, vor allem denen, die als unsere
Ehrengäste an dieser Gedenkstunde teilnehmen, dem Vorsitzenden und den
Mitgliedern des Direktoriums und des Zentralrates der Juden in Deutschland
und den Vertretern der christlichen Kirchen. […]
Viele von uns haben gestern auf Einladung des Zentralrates der Juden in
Deutschland an der Gedenkveranstaltung in der Synagoge in Frankfurt am
Main teilgenommen. Heute nun haben wir uns im Deutschen Bundestag
zusammengefunden, um hier im Parlament der Pogrome vom 9. und 10. November
1938 zu gedenken, weil nicht die Opfer, sondern wir, in deren Mitte die
Verbrechen geschahen, erinnern und Rechenschaft ablegen müssen, weil wir
Deutschen uns klar werden wollen über das Verständnis unserer Geschichte
und über Lehren für die politische Gestaltung unserer Gegenwart und
Zukunft.
(Zuruf)
- Bitte lassen Sie diese würdige Stunde in der vorgesehenen Form
ablaufen!
(Fortsetzung des Zurufs)
- Haben Sie Verständnis dafür, dass ich Sie herzlich bitte, sich jetzt
ruhig zu verhalten!
Die Opfer - die Juden überall auf der Welt - wissen nur zu genau, was der
November 1938 für ihren künftigen Leidensweg zu bedeuten hatte. - Wissen
auch wir es?
Was sich heute vor 50 Jahren mitten in Deutschland abspielte, das hatte es
seit dem Mittelalter in keinem zivilisierten Land mehr gegeben. Und,
schlimmer noch: Bei den Ausschreitungen handelte es sich nicht etwa um die
Äußerungen eines wie immer motivierten spontanen Volkszorns, sondern um
eine von der damaligen Staatsführung erdachte, angestiftete und
geförderte Aktion. […] Heute, meine Damen und Herren, stellen sich für
uns alle Fragen im vollen Wissen um Auschwitz. 1933 konnte sich kein
Mensch ausmalen, was ab 1941 Realität wurde. Aber eine über Jahrhunderte
gewachsene Judenfeindschaft hatte den Nährboden bereitet für eine
maßlose Propaganda und für die Überzeugung vieler Deutscher. dass die
Existenz der Juden tatsächlich ein Problem darstellte, dass es so etwas
wie eine Judenfrage wirklich gab. Die zwangsweise Umsiedlung aller Juden -
etwa nach Madagaskar, wie von den NS-Herrschern vorübergehend erwogen -
wäre vermutlich auf Zustimmung gestoßen.
Es ist wahr, dass die Nationalsozialisten große Anstrengungen
unternahmen, die Wirklichkeit des Massenmordes geheim zu halten. Wahr ist
aber auch, dass jedermann um die Nürnberger Gesetze wusste, dass alle
sehen konnten, was heute vor 50 Jahren in Deutschland geschah und dass die
Deportationen in aller Öffentlichkeit vonstatten gingen. Und wahr ist,
dass das millionenfache Verbrechen aus den Taten vieler einzelner bestand,
dass das Wirken der Einsatzgruppen nicht nur in der Wehrmacht, sondern
auch in der Heimat Gegenstand im Flüsterton geführter Gespräche zwar.
Unser früherer Kollege Adolf Arndt hat 20 Jahre nach Kriegsende in diesem
Haus den Satz gesprochen: »Das Wesentliche wurde gewusst.« -
Schließlich hatten doch die Machthaber dies geplant. Am Ende standen die
Juden allein. Ihr Schicksal stieß auf Blindheit und Herzenskälte.
Viele Deutsche ließen sich vom Nationalsozialismus blenden und
verführen. Viele ermöglichten durch ihre Gleichgültigkeit die
Verbrechen. Viele wurden selbst zu Verbrechern. Die Frage der Schuld und
ihrer Verdrängung muss jeder für sich selbst beantworten.
Wogegen wir uns aber gemeinsam wenden müssen, das ist das Infragestellen
der historischen Wahrheit, das Verrechnen der Opfer, das Ableugnen der
Fakten. Wer Schuld aufrechnen will, wer behauptet. es sei doch alles nicht
so - oder nicht ganz so - schlimm gewesen, der macht schon den Versuch zu
verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gibt.
Solche Bemühungen laufen nicht nur tendenziell auf eine Verleugnung der
Opfer hinaus - sie sind auch ganz sinnlos. Denn was immer in der Zukunft
geschehen oder von dem Geschehenen in Vergessenheit geraten mag: An
Auschwitz werden sich die Menschen bis an das Ende der Zeiten als eines
Teils unserer deutschen Geschichte erinnern.
Deshalb ist auch die Forderung sinnlos, mit der Vergangenheit endlich
Schluss zu machen. Unsere Vergangenheit wird nicht ruhen, sie wird auch
nicht vergehen. Und zwar unabhängig davon, dass die jungen Menschen eine
Schuld gar nicht treffen kann. Renate Harpprecht, eine Überlebende von
Auschwitz, hat dazu gesagt:
»Man kann sich sein Volk nicht aussuchen. Ich habe wir damals gewünscht.
nicht Jüdin zu sein, dann bin ich es aber in sehr bewusster Weise
geworden. Die jungen Deutschen müssen akzeptieren, dass sie Deutsche sind
- aus diesem Schicksal können sie sich nicht davonstehlen.«
Sie wollen sich, meine Damen und Herren, auch nicht davonstehlen. Sie
wollen vielmehr von uns wissen, wie es dazu kam. wie es dazu kommen
konnte. So nimmt die Beschäftigung mit den nationalsozialistischen
Verbrechen trotz des wachsenden zeitlichen Abstandes zu den Ereignissen
nicht ab, sondern gewinnt an Intensität. Auch für die Psyche eines
Volkes gilt, dass die Verarbeitung des Vergangenen nur in der
schmerzlichen Erfahrung der Wahrheit möglich ist. Diese Selbstbefreiung
in der Konfrontation mit dem Grauen ist weniger quälend als seine
Verdrängung.
»Aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen ist das Verlangen
vieler. Schon zu erkennen was war, um zu verstehen, was ist, und zu
erfassen, was sein wird, das scheint doch die Aufgabe zu sein, die der
Geschichtserkenntnis zugeschrieben wird.« - Diese Sätze schrieb im Mai
1946 Leo Baeck, der dem Tod im Konzentrationslager Theresienstadt
entronnen war.
Meine Damen und Herren. die Erinnerung wach zu halten und die
Vergangenheit als Teil unserer Identität als Deutsche anzunehmen - dies
allein verheißt uns Älteren wie den Jüngeren Befreiung von der Last der
Geschichte.[ …]
Im Rückblick wird deutlich, meine Damen und Herren, dass zwischen 1933
und 1938 tatsächlich eine Revolution in Deutschland stattfand - eine
Revolution, in der sich der Rechtsstaat in einen Un-rechts- und
Verbrechensstaat verwandelte, in ein Instrument zur Zerstörung genau der
rechtlichen und ethischen Normen und Fundamente, um deren Erhaltung und
Verteidigung es dem Staat - seinem Begriffe nach - eigentlich gehen
sollte.
Am Ende dieser Revolution war die NS-Herrschaft entscheidend gefestigt und
war im Rechtsbewusstsein der Menschen weit mehr vernichtet worden, als es
nach außen hin erkennbar sein mochte.
Deutschland hatte Abschied genommen von allen humanitären Ideen, die die
geistige Identität Europas ausmachten, der Abstieg in die Barbarei war
gewollt und vorsätzlich. Zu denen, die dafür das theoretische Rüstzeug
lieferten, zählte Roland Freisler, damals Staatssekretär im
Reichsjustizministerium. »Grundlage des neuen deutschen Rechtes« war
laut Freisler »die durch die nationalsozialistische Revolution gewandelte
deutsche Lebensanschauung... Das Rechtswollen des Volkes äußert sich
autoritativ in den Kundgebungen des Willensträgers des Volkes«, so sagte
er, »des Führers. Wenn der Führer außerhalb der Gesetze Grundsätze
rechtlichen Inhalts mit dem Willen nach Geltung und der Forderung nach
Beachtung äußert, so ist das eine ebenso unmittelbare
Rechtserkenntnisquelle wie das Gesetz. Hierher gehört vor allem das
Parteiprogramm der NSDAP.« Soweit Freisler.
Das hieß schlicht: die Rechtsprechung hatte der NS-Ideologie zu folgen,
denn das Wort des Führers war Gesetz.
Für das Schicksal der deutschen und europäischen Juden noch
verhängnisvoller als die Untaten und Verbrechen Hitlers waren vielleicht
seine Erfolge. Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der
distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein
Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem
politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt.
Wiedereingliederung der Saar, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht,
massive Aufrüstung, Abschluss des deutsch-britischen Flottenabkommens,
Besetzung des Rheinlandes, Olympische Sommerspiele in Berlin, »Anschluss«
Österreichs und «Großdeutsches Reich« und schließlich, nur wenige
Wochen vor den Novemberpogromen, Münchner Abkommen, Zerstückelung der
Tschechoslowakei - der Versailler Vertrag war wirklich nur noch ein Fetzen
Papier und das Deutsche Reich mit einem Mal die Hegemonialmacht des alten
Kontinents.
Für die Deutschen, die die Weimarer Republik überwiegend als eine
Abfolge außenpolitischer Demütigungen empfunden halten, musste dies
alles wie ein Wunder erscheinen. Und nicht genug damit: aus
Massenarbeitslosigkeit war Vollbeschäftigung, aus Massenelend so etwas
wie Wohlstand für breiteste Schichten geworden. Statt Verzweiflung und
Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen. Machte nicht
Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen
herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der
Vorsehung auserwählt, ein Führer. wie er einem Volk nur einmal in
tausend Jahren geschenkt wird?
Sicher, meine Damen und Herren. in freien Wahlen hatte Hitler niemals eine
Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht. Aber wer wollte bezweifeln,
dass 1938 eine große Mehrheit der Deutschen hinter ihm stand, sich mit
ihm und einer Politik identifizierte? Gewiss, einige querulantische
Nörgler wollten keine Ruhe geben und wurden von Sicherheitsdienst und
Gestapo verfolgt, aber die meisten Deutschen - und zwar aus allen
Schichten: aus dem Bürgertum wie aus der Arbeiterschaft - dürften 1938
überzeugt gewesen sein, in Hitler den größten Staatsmann unserer
Geschichte erblicken zu sollen.
Und noch eines darf nicht übersehen werden: Alle die Staunen erregenden
Erfolge Hitlers waren insgesamt und jeder für sich eine nachträgliche
Ohrfeige für das Weimarer System. Und Weimar war ja nicht nur
gleichbedeutend mit außenpolitischer Schwäche, mit Parteiengezänk und
Regierungswechseln, mit wirtschaftlichem Elend, mit Chaos,
Straßenschlachten und politischer Unordnung im weitesten Sinne, sondern
Weimar war ja auch ein Synonym für Demokratie und Parlamentarismus, für
Gewaltenteilung und Bürgerrechte, für Presse- und Versammlungsfreiheit
und schließlich auch für ein Höchstmaß jüdischer Emanzipation und
Assimilation.
Das heißt, Hitlers Erfolge diskreditierten nachträglich vor allem das
parlamentarisch verfasste, freiheitliche System, die Demokratie von Weimar
selbst. Da stellt sich für sehr viele Deutsche nicht einmal mehr die
Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoss vielleicht in einzelnen
Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging einem
persönlich doch besser als zuvor, und das Reich war doch unbezweifelbar
wieder groß. ja, größer und mächtiger als je zuvor. - Hatten nicht
eben erst die Führer Großbritanniens. Frankreichs und Italiens Hitler in
München ihre Aufwartung gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht
für möglich gehaltenen Erfolge verholfen? Und was die Juden anging:
Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt - so
hieß es damals -, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal
Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar
verdient. In ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach
die Propaganda - abgesehen von wilden, nicht ernst zu nehmenden
Übertreibungen - nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen
und Überzeugungen?
Und wenn es gar zu schlimm wurde, wie im November 1938,so konnte man sich
mit den Worten eines Zeitgenossen ja immer noch sagen: Was geht es uns an!
Seht weg, wenn euch graust. Es ist nicht unser Schicksal.[...]
(Philipp Jenninger: Rede zum Gedenken an den 9./10.10.
1938 vor dem Bundestag am 10.11.1988, Bundespressestelle)
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Bertram, Jochen: Ein würdiges Gedenken, 1988
▪ Dönhoff, Marion Gräfin: Ein verfehltes Kolleg, 1988
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023