docx-Download -
pdf-Download
▪
Bertram, Jochen: Ein würdiges Gedenken, 1988
▪ Dönhoff, Marion Gräfin: Ein verfehltes Kolleg, 1988
▪
Erlebte Rede - eine "gefährliche Form" - Die Analyse des
Literaturwissenschaftlers Jochen Vogt - 1990
Unter Bezugnahme auf den nachfolgenden Auszug aus der
▪ Rede
Philipp Jenningers 1988 bemerkt
Jochen Vogt (geb. 1943) zwar, dass die damals herrschende
"Allparteienempörung" über die Äußerungen zwar kaum mehr
nachvollziehbar sei, aber erzähltechnisch erklärbar bliebe.
Dabei beruft
er sich auf
Roy
Pascal (1977, S.136), der im Zusammenhang mit der manchmal schwer
vorzunehmenden Abgrenzung von Erzählerstimme und Figurenstimme betone,
dass die
erlebte
Rede in nichtfiktionalen Texten eine "gefährliche" Form
sei. Denn anders als in einem fiktionalen literarischen Text erfordere der
nichtfiktionale Text die klare Unterscheidung dieser Stimmen voneinander.
Auszug aus der
Rede des damaligen
Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger anlässlich des 50-jährigen
Gedenkens an die Reichspogromnacht 1938:
»Hitlers Erfolge diskreditierten nachträglich vor allem das
parlamentarisch verfasste, freiheitliche System, die Demokratie von Weimar
selbst. Da stellt sich für sehr viele Deutsche nicht einmal mehr die
Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoss vielleicht in einzelnen
Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging einem
persönlich doch besser als zuvor, und das Reich war doch unbezweifelbar
wieder groß. ja, größer und mächtiger als je zuvor. - Hatten nicht
eben erst die Führer Großbritanniens. Frankreichs und Italiens Hitler in
München ihre Aufwartung gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht
für möglich gehaltenen Erfolge verholfen? Und was die Juden anging:
Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt - so
hieß es damals -, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal
Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar
verdient. In ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach
die Propaganda - abgesehen von wilden, nicht ernst zu nehmenden
Übertreibungen - nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen
und Überzeugungen?«
Die erzähltechnische Erklärung für die so genannte
"Allparteienempörung", die zum Rücktritt Jenningers führte,
sieht
Vogt (1990,
S.177) zumindest auch in einer "Fehlrezeption, derjenigen, die den
Redner hernach so scharf kritisierten."
"Für Erzähltheoretiker" sei es keine Frage: "Der
Sprecher hat jene Bewussteinshaltung Dritter Personen in regelrechter
erlebter Rede wiedergegeben, deutlich erkennbar an der Reihung
rhetorischer
Fragesätze, an typischen Interjektionen und einem zusätzlichen verbum
dicendi. Diese Form sollte wahrscheinlich jene Gedanken eindrücklich
und authentisch machen, als 'Volkes Stimme' wirken lassen."
In Wirklichkeit hätten aber die meisten Zuhörer entgegen der Absicht
Jenningers diese Passagen "dem Redner selbst zugeschrieben und als
Rechtfertigung der beschriebenen Einstellung gedeutet." Die Ursache
dieses Rezeptionsfehler bestand demnach darin, "die erlebte Rede
nicht als
Personenrede
erkannt zu haben". (S.177)
So mündet denn auch Vogts Urteil über den Vorfall und Redner darin,
dass Jenninger "durch Verwendung der fiktionalisierenden Technik in
einem Text, welcher der Kommunikationssituation nach öffentliche Rede,
der Sache nach Geschichtsschreibung war, Missverständnis provoziert
hat." Denn, so führt er sinngemäß fort, seien solche
syntaktisch-stilistischen Formen, wenn sie mündlich vorgetragen würden,
noch bedeutend schwerer zu erkennen. (vgl.
Vogt
1990, S.177f., Anm.22)
docx-Download -
pdf-Download
▪
Bertram, Jochen: Ein würdiges Gedenken, 1988
▪ Dönhoff, Marion Gräfin: Ein verfehltes Kolleg, 1988
▪
Erlebte Rede - eine "gefährliche Form" - Die Analyse des
Literaturwissenschaftlers Jochen Vogt - 1990
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023