Franz Kafka gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern
des 20. Jahrhunderts. Über kaum einen anderen Autor wurde so
viel geschrieben und gerätselt wie über Kafka. In seinen
Prosawerken gibt er meist einem angst- und schuldgequälten,
in auswegloser Lage verfangenem Daseinsgefühl eine
Bildgestalt.
In Kafkas Parabel „Heimkehr“ beschreibt der Ich-
Erzähler seine Gefühle, als er nach langen Jahren vor dem
elterlichen Anwesen steht. Die Gegenstände und Gebäude sind
ihm noch teilweise vertraut. Als er sich gedanklich ins
Innere des väterlichen Hofes bewegt, spürt er das
Desinteresse seines Vaters an seiner Rückkehr und
beschließt, den Hof nicht zu betreten.
Als der Sohn zum väterlichen Anwesen zurückkehrt
betrachtet er zunächst die offenkundige Verwahrlosung des
Hofes, die durch eine feindlich blickende Katze noch
verstärkt wird. Nur ein an einer Stange flatterndes Tuch
ruft in ihm Jugenderinnerungen wach. In Gedanken begibt er
sich in das Innere des Hauses, in die Küche, spürt jedoch,
dass niemand ein Verlangen nach seinem Besuch hat und
erinnert sich an die Kälte, mit dem ihn sein Vater in der
Kindheit begegnete.
Dieses Gefühl erweckt in ihm Selbstzweifel über den Sinn
seiner Rückkehr.
Er erkennt schließlich, dass er auch nicht bereit ist,
das Geheimnis seiner Entwicklung preiszugeben und
beschließt, das väterliche Haus nicht zu betreten.
Die Komposition des Textes entspricht einer
Gedankenbewegung des Ankommenden, der zu-nächst den
verwahrlosten elterlichen Hof betrachtet, sich dann
gedanklich in das Innere bewegt und sich schließlich
entschließt, nicht heimzukehren.
Es handelt sich damit um ein deutlich Zeit dehnendes
Erzählen, denn der eigentliche Gedankengang dürfte kürzer
sein, als die Zeit, die der Leser benötigt, diese Parabel
vorzutragen.
Der Blickwinkel des Ich-Erzählers ist dabei vollkommen
subjektiv. Wir erfahren alle Beschreibungen und Empfindungen
nur aus seiner Perspektive.
Ordnend wirken dabei nur die genannten Orte und die
markant hervortretenden rhetorischen Fragen.
Auffällig ist die Einfachheit des Satzbaus und der
Wortwahl. Die Sätze sind größtenteils einfach gebaut,
Satzreihen herrschen vor. Es liegen viele Parataxen und
Parallelismen vor: „Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur
durchschritten“ (Z.1); „Wer wird mich empfangen? Wer wartet
hinter der Tür der Küche?“ (Z.7). Gekoppelt mit einer
Verdopplung der Aussage deutet dies darauf hin, dass der
Ich-Erzähler damit versucht, Sicherheit in dieser für ihn
fremden Umgebung zu finden. Dies wird insbesondere in der
Doppelung der Aussage „Ich bin zurückgekehrt.“ (Z.1) und
„Ich bin angekommen.“ (Z.6) deutlich.
Den Interrogativsätzen, die auf das bevorstehende,
erwartete Geschehen hinweisen, auf die dann aber nicht die
erlösende Antwort wie zum Beispiel „Eltern, Mutter, Vater“
folgt, sondern wiederum Beobachtungen, die ihrerseits
eigentlich den nächsten Schritt – eine Handlung – nach sich
ziehen müssten, folgen zunächst Beobachtungen wie „Rauch
kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird
gekocht“, beides Zeichen, die normalerweise ein sofortiges
Eintreten vermuten ließen, das aber nicht erfolgt. Auch die
häufige Verwendung der Personalpronomina „ich“ und „du“ beim
inneren Monolog sowie des Possessivpronomens „mein“, das
hier aber weniger Besitz als vielmehr einen Versuch der
Bestimmung der Zugehörigkeit darstellt, die sich vor allem
über den Vater vollzieht („meines Vaters Haus“), drücken ein
Suchen nach Zugehörigkeit aus. Die Unsicherheit bleibt
jedoch, was ebenso der Konjunktiv zum Ausdruck bringt.
Die Zweifel kommen auch durch die Beschreibung der
Umgebung zum Ausdruck. Bildhaft spiegeln sich darin die
Gefühle des Ich-Erzählers wieder. So werden hier Adjektive
und Adverbien verwendet, die Haus und Hof beschreiben
sollen, dabei aber immer wieder den Gemütszustand des
Ich-Erzählers wiedergeben („unbrauchbar“, „unsicher“,
„fremd“ – „Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück
neben Stück“), geschweige denn ihn zu dieser Deutung des
„Unwillkommen-Seins“ veranlassen, wenn es zu Beginn bereits
heißt: „Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät,
ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die
Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal
im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind.“ Auf
das Sehen nach der Ankunft („ich blicke mich um“) folgt die
Frage nach dem Sich-Fühlen und da sich hier keine Gewissheit
einstellen will, folgt das (In sich Hinein)Hören als dritter
logischer Schritt, wodurch die Wahrnehmungen und –
unbewussten – Deutungen automatisch zum Bildbereich führen.
Diese Wahrnehmungen beeinflussen den Protagonisten in seinem
Handeln.
Am Ende bleibt der Ich-Erzähler stehen. Er verhält sich
passiv. War er derjenige, der zu Beginn noch selbst aktiv
war, kommt am Ende durch die statischen Verben „stehen“ und
„sitzen“ Passivität der Beteiligten sitzen, werden aktiv.
Der Heimkehrer kehrt nur zögernd nach Hause zurück. Das
heimatliche Anwesen wirkt nicht freundlich. Der einst
vertraute Hof ist verwahrlost und ungepflegt, eine „Pfütze
in der Mitte“. Auch ist ihm der Weg durch sinnlose
Gegenstände verstellt. Hervorzuheben ist das Partizip
„verfahren“, welches auf sein Verhältnis zum elterlichen Hof
schließen lässt. Diese Verfahrenheit steigert das Verb
„verstellt“. In den Jahren seiner Abwesenheit hat sich viel
aufgetürmt, was ihm die Rückkehr verstellt. Das einzige
Lebewesen, die Katze auf dem Geländer, wirkt feindlich und
bedrohend. Das Verb „lauern“ deutet eine versteckte Gefahr
an, die ihm vom elterlichen Hause droht. Er findet ein
Erinnerungsstück aus seiner Kindheit, das „zerrissene Tuch“.
Das als Adjektiv verwendete Partizip deutet seine Erkenntnis
am Ende der Parabel voraus, nämlich das entfremdete
Verhältnis zu seinem Vater. Er spürt, dass alle Bindungen an
die Kindheit, sein Elternhaus zerrissen sind.
Seine Gedanken dringen in das Innere des Hauses, die
Küche als Lebensraum. Das Bild der Gemütlichkeit, der
abendliche Kaffee wird durch die Kälte gebrochen, die die
Gebäude ausstrahlen („kalt steht Stück neben Stück“). Diese
Kälte symbolisiert gleichzeitig sein Verhältnis zum Vater
und er empfindet, dass er nicht willkommen ist. Wie in
seiner Kindheit ist jeder nur mit sich selbst beschäftigt
und zeigt kein Interesse an dem anderen „jedes (ist) mit
seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt“.
Es stellt sich bei ihm die Erkenntnis der Sinnlosigkeit
und Nutzlosigkeit seiner Heimkehr ein und dies, wie aus der
Apposition deutlich wird, obgleich er der Sohn des Hauses
ist: „Was kann ich ihnen nützen – des Landwirts Sohn“.
Zunehmend distanziert er sich. Die Bedeutung dieses
inneren Abstands verdeutlicht die Repetitio von „nur von der
Ferne“ und das Partizip „stehend“. Es bedeutet, dass es nur
eines Schrittes zur Umkehr bedarf: „Nur von der Ferne horche
ich, nur von der Ferne horche ich stehend…“
Als letzte Erinnerung an seine Kindheit nimmt er völlig
Belangloses, etwas Technisches wahr, „einen leichten
Uhrenschlag“.
Ihm wird klar, dass er nicht fröhlich ins Haus treten
kann, er die Tür nicht öffnen wird. So wenig ihn jetzt noch
das Anliegen oder die vergangene Kälte seines Vaters
interessiert, so wenig möchte er etwas von sich preisgeben:
„Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis
wahren will?“
Im Gegensatz zum biblischen Gleichnis des verlorenen
Sohnes zerstört Kafka die Heimkehridylle. Da gab es keine
liebevolle Kindheit, da gibt es keinen Vater, der sich über
die Rückkehr freut und dem Sohn ein Fest ausrichtet. Der
Heimkehrer erkennt, dass er, nachdem er einmal das
elterliche Haus verlassen hat, seinen Weg alleine gehen muss
und jede Rückkehr und jeder Versuch, die häuslichen Probleme
aufzuarbeiten oder bei seinem Vater Verständnis für seinen
Weg zu finden, vergeblich sind. So entschließt er sich,
seinen Weg, auch ohne Vater, weiterzugehen, sein Geheimnis,
seine Entwicklung für sich zu behalten.
Was gibt uns diese Episode demnach zu verstehen?
Ausgehend vom Alltag und im Rahmen des Wirklichen zeigt sich
die Erzählung von der Absicht bestimmt, die alltägliche
Wirklichkeit zu verfremden, wobei die Betrachtung der
Sprache ergibt, dass die Wortwahl das Gewöhnliche betrifft.
Es ist kein ungewöhnliches Wort da. Dass trotzdem der
Eindruck des Ungewöhnlichen und Hintergründigen erweckt
wird, liegt an der Art der Kombination der einfachen Wörter
und Sätze. Für den Leser bleiben diese Sätze zum Teil
verschlossen bzw. rational nicht nachvollziehbar und werfen
damit neue Fragen auf: Warum wird man fremder, je länger man
vor der Tür zögert? Warum wird man zum Geheimnisträger?
Die Welt, in die Kafka uns einführt, ist uns
unverständlich und scheint des Sinnes zu entbehren. In ihr
herrschen Gesetze, die wir nicht kennen. Ort und Zeit sind
in ihrer gewohnten Zuordnung durchbrochen. Aus gegebenen,
bekannten Voraussetzungen folgt nicht die erwartete
Schlussfolgerung. In dieser Welt kann man sich nicht
behaupten. Es gibt keinen Ort, der vertraut bzw.
vertrauenswürdig wäre (nicht einmal das Haus des Vaters),
keine Unwelt, die sich freundlich und hilfreich zeigte.
In der Parabel ist ein Anklang an Kierkegaard
unüberhörbar. Es ist die Frage nach dem Sinn der eigenen
Existenz, die den Philosophen ebenso wie den Dichter bewegt.
Für beide war die eigene menschliche Existenz der einzige
Gegenstand ihres Schreibens. Die qualvolle Selbstumkreisung
führte zu Zweifel und zur Verzweiflung. „Wo bin ich? Was
heißt denn das: die Welt? Was bedeutet dies Wort? Wer hat
mich in das Ganze hineinbetrogen, und lässt mich nun
dastehen?“ Diese Selbstzweifel finden sich auch in der
Parabel wieder: „Ist dir heimlich, fühlst du dich zu
Hause?“. Kaum angekommen, wird die Ankunft bereits
hinterfragt. „Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher.“
Hier zeigt sich die Unsicherheit in Bezug auf die eigene
Existenz. Der Ich-Erzähler hinterfragt und zweifelt an
seiner Identität, weshalb auch die versuchte Zuordnung zum
elterlichen Haus misslingt. „Was kann ich ihnen nützen, was
bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten
Landwirts Sohn.“ Hier zeigen sich am deutlichsten die
Selbstzweifel des Ich-Erzählers, die sich schließlich auch
auf sein Handeln auswirken, indem er am Ende passiv vor der
Tür der Küche stehen bleibt.
Die Parabel weist autobiographische Züge Kafkas auf. In
der eigenen Familie galt Franz Kafka als introvertiert und
als Außenseiter. Dies ist insbesondere auf das Verhältnis
zwischen ihm und seinem Vater zurückzuführen, der ihm in
keiner Weise Interesse entgegenbrachte. Franz Kafka schrieb
in späteren Jahren einen ca. hundertseitigen Brief an den
Vater (1919), den er allerdings niemals abgeschickt hat.
Darin schildert er aus der ¬ scheinbaren ¬ Distanz von
dreißig Jahren sein Kindheits-Trauma: den übermächtigen
Vater, der alles kategorisch bestimmte und in jeder Frage
von vornherein Recht hatte und den er deshalb grenzenlos
bewunderte, der jedoch seine Kinder nur mit abschätziger
Ironie behandelte und verächtlich alles abtat, wofür sich
Franz begeistern mochte. Das Resultat dieses ungleichen
Kampfes bestand darin, dass der ohnehin schüchterne Junge
noch weniger aus sich herausging, dass er verstockt wurde
und kaum mehr etwas redete. Auch in seiner persönlichen
Entwicklung blieb Kafka entscheidend zurück. Vielleicht
hängt damit zusammen, dass er zeit seines Lebens das
Aussehen eines Jugendlichen hatte. Verschärft wurden die
Probleme zum einen durch den Ersten Weltkrieg, der Reisen
unmöglich machte und dadurch die sozialen Kontakte von Franz
Kafka auf Prag beschränkte, zum anderen durch seine
Krankheit, die ihn zu monatelangen Kuraufenthalten in
abgeschiedenen Gegenden zwang. Diese Vereinsamung bzw.
Isolierung zeigt sich auch in der Erzählung „Heimkehr“
wieder. So lässt sich das Erleben des Fremdseins des
Ich-Erzählers auf Kafka bzw. umgekehrt von Kafka auf den
Ich-Erzähler übertragen.
Auf den ersten Blick betrachtet erscheint die Parabel
Kafkas eine Erzählung aus dem Alltag, aus dem gemeinen
Leben. Beschäftigt man sich näher mit ihr, werfen sich
jedoch Fragen auf. Fragen, die rational nicht beantwortbar
scheinen und typisch für Kafka sind. Kafka verrätselt seine
Erzählung. Die Deutung bleibt schließlich vieldeutig und
zuletzt dem Leser vorbehalten.
(Quelle;
Autoren: Alexandra
Weber, Eckehart Weiß: Texterschließung zu Kafkas Parabel
"Heimkehr" - Aufsatzanleitung mit Lösung, in: deutsch.digital -
Aufsatzerziehung für die Oberstufe)
Der Text ist unter der Lizenz
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Bausteine
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.02.2019