Die
Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1815 fand
keineswegs allgemein Zustimmung. Kritiker betonten, dass wichtige
Regelungen nur unter klarer Verletzung des Selbstbestimmungsrechts
der Völker durchgesetzt worden waren. Mit Recht betonten sie, dass
die Pentarchie der Großmächte (Österreich-Ungarn, Großbritannien,
Frankreich, Preußen und Russland) den Belgiern, Deutschen,
Italienern und Griechen verwehrten, eine nationalstaatliche Einigung
in Gang zu setzen oder zu vollenden.
Dennoch ließ sich die Nationalstaatsidee, "dass Menschen mit
einer gemeinsamen Geschichte, Sprache und Kultur die Errichtung
einer selbständigen politischen Einheit (oder Nation) zugestanden
werden müsse" (Craig
1989, S.15) nicht auslöschen. Im Gegenteil. Nationalistische
Bewegungen gewannen gerade deshalb mehr und mehr an Boden. Dabei
trat dieser Nationalismus, wie
Craig (1989, S.16) betont, nicht mit der "engstirnigen Arroganz
oder dem Hurrapatriotismus" auf, wie sie für nationalistische
Bewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts typisch waren.
Der frühbürgerliche Nationalismus nach dem Wiener Kongress "war
beseelt von einer inbrünstigen, wenn auch idealistischen
Überzeugung, dass ein nach wirklich nationalen Gesichtspunkten
geordnetes Europa ein gesünderes und friedlicheres Europa sein würde
als eines, in dem unterworfene Nationalitäten weiterhin unter
fremder Herrschaft lebten." (ebd.)
Neben diesen
politischen Ursachen hat die Entstehung und die Verankerung eines
Nationalgefühls aber auch sozialgeschichtliche Hintergründe.
Auch wenn es schon
früher so etwas wie ein naives, weil unreflektiertes Bewusstsein,
ein Deutscher zu sein, gegeben haben mag, wird Nation erst nach und
nach ein wichtiger Wert. Allerdings hat er zunächst nur für die
gebildeten Schichten Bedeutung. So vertrat der deutsche Philosoph
und Theologe
Johann Gottfried Herder (1744-1803) die Auffassung, dass vor
allem die Sprache und Geschichte den Charakter eines Volkes
bestimmen. In der Folgezeit haben vor allem die Gebildeten
nationalen Vorstellungen zur Identitätsbestimmung benutzt, die in
einer mehr und mehr von der Auflösung traditioneller Strukturen und
Vergesellschaftungsmöglichkeiten bestimmten Welt einen gewissen Halt
und Orientierung geben konnten.
Strukturell handelt es sich bei
diesen Auflösungsvorgängen um
Individualisierungsprozesse, wie wir sie bis heute, wenngleich
in besonderer Art und Weise, erleben. (Beck 1986)
Diesen
sozialgeschichtlichen Wandel macht
Thomas Nipperdey (1987, S. 300) unter anderem für die Entstehung
und Entwicklung der nationalen Bewegung zu Beginn des 19.
Jahrhunderts verantwortlich:
"Die alte Welt
[...] löst sich auf: Haus und Stand, die traditionellen Bindungen,
die partikularen (lokalen, ständischen) Gruppen, das personale
Beziehungsgeflecht, die 'Gemeinschaft' und die anschauliche Präsenz
von Norm und Sinn in den Traditionen. Das Individuum tritt heraus
und emanzipiert sich, [...] es tritt ein in die entstehende
Verkehrs- und Marktgesellschaft, in die großen und anonymeren
Gruppen mit ihren rationalen und abstrakten Strukturen. Das
Individuum wir zugleich selbständiger wie isolierter und
vermittelter, jeder wird von vielen anhängig, die ihm fremd sind;
Gruppen, Loyalitäten und Normen sind nicht mehr anschaulich präsent;
das Selbstverständliche geht zurück, die Religion verliert für die
Bestimmung innerweltlicher Werte an Bedeutung', sie stiftet nicht
mehr Kohäsion und nur noch begrenzt Lebenssinn. Die neue
Bindungsweise - die individualisierte emphatische Freundschaft -
reicht nicht aus. Darum lebt dieser neue Mensch viel stärker
als vorher von Reflexion und Diskussion, d. h. aber im Medium von
Sprache und Kultur. In der neuen Kommunikationsgesellschaft gewinnen
Sprache und Kultur eine Bedeutung wie nie zuvor, über sie nur findet
der Gebildete seine Identität. Die Gemeinsamkeit mit anderen, die
bis dahin die Tradition trug, muss neu bestimmt werden. Darum wird
die in der gemeinsamen Sprache und Kultur wurzelnde Nation jetzt so
wichtig, sie ist es, die die desintegrierten Individuen in einer
versachlichten und pluralistischen Gesellschaft eigentlich
integriert und ihnen Identität vermittelt. Die Wendung zur Nation,
das ist die Antwort auf ein inneres Bedürfnis. Und das erklärt,
warum es gerade die mobilen Gruppen der Intelligenz und der
studierenden Jugend sind, die sich zur Nation und schließlich zu dem
neuen Glauben an die Nation bekennen."
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.10.2023