Der wissenschaftliche Nationalismusbegriff hat zahlreiche Facetten, je
nachdem ob sich die Politikwissenschaft, die Soziologie, die Psychologie
oder die Geschichtswissenschaft an die
Definition des Begriffsinhalts machen. Im Zusammenhang mit der
••nationalen
Bewegung in Deutschland zwischen 1815 und 1848/49
interessiert natürlich vor allem die geistes- und sozialgeschichtliche
Entstehung von Nationalismus und seine spezifische Ausprägung in diesem
Zeitraum.
Hinter dem heute verwendeten Begriff Nationalismus steckt im Allgemeinen
der "Gedanke, dass jede Nation das Recht hat, einen eigenen Staat zu
bilden." (Döhn
1995, S.557) Zielt der Nationalismus als politische Ideologie
damit also auf eine Kongruenz zwischen einer (meist ethnisch bestimmten)
Nation und einem Staat (vgl.
Gellner 1983), so ist die Existenz eines solchen Staatsgebildes für
die Entstehung und das Vorhandensein von Nationalismus nicht zwingend.
Anhand der nachfolgenden vier unterschiedlicher Definitionen lassen sich
verschiedene Akzentuierungen erkennen. Zugleich wird die Historizität
der Nationalismusforschung selbst deutlich.
Eugen
Lemberg (1964, S.52, 65) sieht im Nationalismus eine
Integrationsideologie mit 7 Merkmalen. Dabei grenzt er sich deutlich von
älteren Auffassungen ab, die unter Nation "Kultur" oder "Sprachnation"
verstehen wollten:
"Was also die Nationen zu
Nationen macht oder - allgemeiner gesagt - große gesellschaftliche
Gruppen zu selbstbewussten, aktionsfähigen, nationalen oder
nationähnlichen Gemeinschaften bindet und von ihrer Umwelt abgrenzt, das
ist nicht die Gemeinsamkeit irgendeines Merkmals, die Gleichheit der
Sprache, der Abstammung, des Charakters, der Kultur oder der
Unterstellung unter eine gemeinsame Staatsgewalt, sondern umgekehrt: ein
System von Vorstellungen, Wertungen und Normen, ein Welt- und
Gesellschaftsbild, und das bedeutet: eine Ideologie, die eine durch
irgendeines der erwähnten Merkmale gekennzeichnete Großgruppe ihrer
Zusammengehörigkeit bewusst macht und dieser Zusammengehörigkeit einen
besonderen Wert zuschreibt. [...] Eine solche Ideologie muss: a) auf
Grund irgendeines charakteristischen Merkmals ein Gesamtbild der zu
integrierenden Gruppe enthalten, das diese Gruppe von ihrer Umgebung
abgrenzt; b) dieser Gruppe eine Rolle in ihrer Umgebung zuweisen; c) die
Gruppe mit dem Bewusstsein seiner
Überlegenheit über diese Umwelt erfüllen; d) ein gruppenbezogenes
Normensystem, eine Gruppenmoral, entwickeln, die unter Umständen
innerhalb der Gruppe ein anderes Verhalten vorschreibt als außerhalb; e)
das Gefühl einer Bedrohung von außen, eine Feindvorstellung erzeugen; f)
die Einheit der Gruppe als ein lebenswichtiges, gegen Spaltungen sorgsam
zu hütendes Gut erscheinen lassen; g) der Gruppe die Hingabe ihrer
einzelnen Angehörigen verschaffen und diese Angehörigen für ihre Hingabe
belohnen."
Peter
Alter (1985, S.14f.) dagegen erkennt im Nationalismus sowohl eine
Ideologie und zugleich auch eine politische Bewegung. Dabei befreit er
den Begriff von seinen rein negativen Bedeutungsaspekten, so dass er
auch als Oberbegriff für Nationalgefühl oder Patriotismus fungieren
könnte.
"Der moderne
Nationalismus, wie er sich seit der Amerikanischen und Französischen
Revolution darstellt, wird im folgenden als eine Ideologie und zugleich
als eine politische Bewegung verstanden, die sich auf die Nation und den
souveränen Nationalstaat als zentrale innerweltliche Werte beziehen und
die in der Lage sind, ein Volk oder eine große Bevölkerungsgruppe
politisch zu mobilisieren. Nationalismus verkörpert also in hohem Maße
ein dynamisches Prinzip, das Hoffnungen, Emotionen und Handlungen
auszulösen vermag. Er ist ein Instrument zur politischen Solidarisierung
und Aktivierung von Menschen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.
Nationalismus liegt dann vor, wenn die Nation die gesellschaftliche
Großgruppe ist, der sich der einzelne in erster Linie zugehörig fühlt,
und wenn die emotionale Bindung an die Nation und die Loyalität ihr
gegenüber in der Skala der Bindungen und Loyalitäten oben steht. Nicht
der Stand oder die Konfession, nicht eine Dynastie oder ein partikularer
Staat, nicht die Landschaft, nicht der Stamm und auch nicht die soziale
Klasse bestimmen primär den überpersonalen Bezugsrahmen. Der einzelne
ist auch nicht länger, wie das z. B. noch die Philosophie der Aufklärung
postulierte, in erster Linie Mitglied der Menschheit und damit
Weltbürger, sondern fühlt sich vielmehr als Angehöriger einer bestimmten
Nation. Er identifiziert sich mit ihrem historischen und kulturellen
Erbe und mit der Form ihrer politischen Existenz. Die Nation (oder der
Nationalstaat) bildet für ihn den Lebensraum und vermittelt ihm ein
Stück Lebenssinn in Gegenwart und Zukunft."
Thomas Nipperdey (1987, S. 300)
definiert den Begriff Nationalismus im Vorfeld seiner Untersuchung
der nationalen Bewegung im 19. Jahrhundert u. a. wie folgt:
"Wir sprechen
von Nationalismus, wo die Nation die Großgruppe ist, der der einzelne in
erster Linie zugehört, wo die Bindung an die Nation und die Loyalität
ihr gegenüber in der Skala der Bindungen und Loyalitäten oben an steh,
Nation ein oberster innerweltlicher Wert wird. [...] der Mensch ist auch
nicht - wie in der Philosophie der Aufklärung - in erster Linie Glied
der Menschheit und Weltbürger, sondern Glied seiner Nation; [...] Der
Einzelne findet und hat seine überindividuelle Identität, indem er sich
mit der Nation, ihrem historisch-kulturellen Erbe wie ihrer politischen
Existenz identifiziert, und darin lebt die Identität der Nation mit sich
selbst. Für den Einzelnen ist die Nation der Raum seiner Herkunft und
der seiner Zukunft, Nation transzendiert die Welt der täglichen
Anschauung auf etwas Ursprüngliches wie Zukünftiges hin. Nation
vermittelt darum ein Stück Lebenssinn. Und Nation ist nicht eine
Selbstverständlichkeit, sondern ein dynamisches Prinzip, das Handlungen
und Emotionen auslöst."
Im 19. Jahrhundert, "in der Epoche des politischen Glaubens", so betont
Nipperdey (ebd.),
"gewinnt Nation so einen religiösen Zug, religiöse Prädikate - Ewigkeit
und erfüllte Zukunft, Heiligkeit, Brüderlichkeit, Opfer, Martyrium -
werden mit ihr verbunden. Das Religiöse wird im Nationalen
säkularisiert, das Säkulare sakralisiert."
Ute
Planert (2004, S. 11) stellt dar, dass der Begriff des "modernen
Nationalismus" in der gegenwärtigen fachwissenschaftlichen
Literatur von drei Seiten her definiert (kulturalistisch, politisch,
sozialgeschichtlich) wird. Dabei lässt sich insgesamt gesehen ein
"zentrales
Bündel von zwölf Merkmalen" erkennen.
Nationalismus
-
ist ein
System gedachter Ordnungen, das Menschen zu Gruppen integrieren kann
-
fungiert als
eine Integrationsideologie, die zugleich zur Abgrenzung von anderen
dient
-
bezieht ihre
Legitimation durch Berufung auf einen scheinbar überzeitlichen
ethnischen Kern, den er aber selbst erst artikuliert
-
bedarf zur
weiteren Legitimation nationale Mythen, die er beständig verbreitet
-
prägt
unterschiedliche Geschlechtsidentitäten
-
steht für
ein säkulares (weltliches) Glaubenssystem, das, weil es letzten Endes
alles legitimiert, vor allen anderen Werten Anspruch auf Verbindlichkeit
und Loyalität erhebt
-
zielt darauf
ab, auf einem bestimmten Territorium Nation und Staat zur Deckung zu
bringen
-
steht
historisch und politisch in einer engen Wechselbeziehung zu
kriegerischen Auseinandersetzungen
-
verspricht
Teilhabe am (nationalen) Ganzen und legitimiert auf diese Weise
Partizipationsansprüche
-
kann
Menschen zum Handeln bewegen
-
hat seine
soziale Basis zunächst in einer bestimmten, sozial abgrenzbaren
Trägerschicht, die ihre spezifischen Interessen artikuliert
-
erreicht im
Verlauf längerer Zeit immer mehr Menschen, sofern ein Mindestmaß
struktureller Voraussetzungen gegeben sind wie z. B. ein gemeinsamer
Kommunikations- und Wirtschaftsraum oder übergreifende Institutionen
(vgl.
Planert (2004, S. 11)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.10.2023