Vorstellungen, die sich irgendwie auf den natio-Gedanken berufen,
lassen sich bis ins Mittelalter
zurückverfolgen. Sie waren jedoch stets eingebettet in die übergeordneten
Vorstellungen vom christlichen Abendland und seinem universalistischen
Anspruch. Sie kreisten um das Konstrukt "einer gedachten Ordnung, die,
zentriert um eine gentile oder dynastische Herrschaft, an ein bestimmtes
Territorium gebunden ist, als gemeinschaftsbildende Faktoren auf Mythen
zurückgreift und damit die Ethnie hervorbringt". (Planert 2004,
S.12) Dienten solche "nationalen" Vorstellungen im Weltbild des christlichen Abendlandes also
eher zur Binnendifferenzierung,
halfen sie den Humanisten der frühen Neuzeit auch dazu, sich von dem
Universalitätsanspruch von Kaiser und Papst abzugrenzen. In ihrem engeren,
intellektuell-elitären Kreis begannen sie einen Diskurs, der nationale Mythen
pflegte und nationale Eigenheiten formulierte. Mit der Schaffung des
ersten männlich-kriegerischen Nationalhelden
»Arminius (um 16/17 v.
Chr.-um 21 n. Chr.), des germanischen Cheruskerfürsten, der im Jahre 9 n.
Chr. in der Varusschlacht im Teutoburger Wald über die Römer triumphierte, finden diese Bemühungen
ihren signifikanten Ausdruck. In den Türkenkriegen des 17.
Jahrhunderts erlebten sie zur Integration des eigenen ("deutschen") Lagers
eine neuerliche Konjunktur im
christlich-muslimischen
Gegensatz. In beiden Fällen trat fortan die "Exklusionsdifferenzierung"
mittels nationaler Vorstellungen in den Vordergrund. Im Gegensatz zum
modernen Nationalismus war die 'deutsche Nation' aber "weiterhin Teil
anderer Identitätszuordnungen, deren Hierarchie noch nicht eindeutig auf
die Superiorität des Nationalen festgelegt war." (ebd.,
S.12) Im Übrigen spielten nationale Vorstellungen im Deutschland des 16.
und 17. Jahrhunderts eigentlich nur eine untergeordnete Rolle. Im
•
Zeitalter der Reformation und
Glaubenskriege und im Absolutismus standen auch in Deutschland
zunächst andere Fragen auf der Tagesordnung, nämlich Territorialisierung
und Konfessionalisierung.
Von
Sprachgesellschaften und Tugendbünden abgesehen, die seit dem
frühen 17. Jahrhundert u. a. einen Tugendkanon formulierten, "der sowohl
die patriotische Verbesserung des jeweiligen Lebensumfeldes als auch die
moralische Ausgestaltung einer deutschen Nationalkultur im deutschen
Sprachraum umfasste" (ebd.,
S.13) gab es wenig "Nationales", bis die Eroberungskriege des
französischen Sonnenkönigs
»Ludwig XIV. (1643-1715),
im
habsburgisch dominierten
Reich den Appell zur nationalen Solidarität gegen Frankreich, den neuen
"Erbfeind", laut werden ließen.
Zu diesen primär vom politischen "Tagesgeschäft" abhängigen Entwicklungen
kam noch, dass sich der Einfluss der Kirche und der Religion während der
•
Aufklärung
im 17. und 18. Jahrhundert deutlich verringerte, und damit "den Grundstein
für eine allmähliche Sakralisierung des Nationalen (legte)" (ebd.,
S.13)
Der moderne Nationalismus entsteht in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts, in der Zeit um den
»Siebenjährigen Krieg
zwischen Österreich und Preußen (1756-63) herum einerseits und den 1820er
und 1830er Jahren mit der Herstellung eines einheitlichen Wirtschaftsraums
und dem Anwachsen der liberal-demokratischen Bewegung.
Die Entstehung eines breiteren
Bildungsbürgertums und die davon bedingte "Leserevolution",
sowie die Abgrenzung der Gebildeten von der Frankophilie des Adels in
Sprache und Kultur führten seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer
Vereinheitlichung und Aufwertung der deutschen Sprache, die in der
Entstehung einer "deutschen
Nationalliteratur" gipfelte. Damit veränderten sich auch die Prämissen,
unter denen sich nationale Vorstellungen entwickelten. Noch im
Siebenjährigen Krieg war die Kriegspropaganda Vater des nationalen
Gedankens, der "Tod für das Vaterland"
höchstes Gut. Danach, noch lange Zeit vor der
•
Französischen Revolution 1789,
befreite sich der gelehrte Diskurs von dieser Instrumentalisierung des
Nationalen für die Zwecke des Krieges und wandte sich der genaueren
inhaltlichen Bestimmung dessen zu, was unter "Vaterland". Patriotismus"
oder "Nation" zu verstehen sei. Zugleich gelangten solche Gedanken nicht
mehr nur in der Dichtung, sondern auch als
politische Manifeste an die
Öffentlichkeit. (ebd.,
S.14) Es dauerte nicht lange, bis das "Deutsche" in den seit den 1770er
Jahren gegründeten "deutschen" Zeitschriften verschiedener Dichter und Publizisten
einen regelrechten Boom erlebte, der ihre Herausgeber und andere dazu
führte, von einer "Gelehrtenrepublik"
zu träumen, " einer Nation, gebildet aus der Gemeinschaft des lesenden
Publikum." (ebd.,
S.15) In diesem Sinne verstanden sie sich "als Nationalerzieher,
nobilitierten den Volksbegriff und banden die Deutschsprechenden an eine
unentrinnbare Sprach- und Kulturgemeinschaft mit gemeinsamem
'Nationalcharakter''" (ebd.)
Am Ende des 18. Jahrhunderts sind, so scheint die neuere Forschung zu
belegen, alle
•
Faktoren vorhanden, die den
modernen Nationalismus auszeichnen. Es gibt nach
Planert (2004, S.15)
-
die Vorstellung,
dass alle Deutschen eine besondere Identität besitzen, die aus
ihrer gemeinsamen Abstammung mit gemeinsamer Sprache und Kultur
herrührt.
-
ein
Wertesystem, das auf bürgerlich-geschlechtsspezifischen Tugenden
beruht, und eine gemeinsame Geschichte, die man in Mythen
beschwören kann.
-
die Praxis,
nationale Identität zur kulturellen Abgrenzung gegenüber anderen
und für kriegerische Auseinandersetzungen zu instrumentalisieren.
Dies gilt insbesondere gegenüber Frankreich.
-
die
Übertragung emotionaler Bindungen auf das Kollektiv durch nationale
Vorstellungen
-
die
Sakralisierung des Vaterlands und damit seine Einsetzung zur
höchsten Legitimationsinstanz, die sogar das eigene Leben als Opfer
fordern kann
-
eine besondere
geschlechtsspezifische Loyalitätspflicht gegenüber der Nation
-
eine soziale
Schicht als Träger der nationalen Vorstellungen, die über die
Möglichkeiten verfügt, diese zu artikulieren und zu kommunizieren.
-
eine
Diskussion über eine politische Ordnung, die die Herrschergewalt
einschränken und an das Gesetz binden soll
-
die
Instrumentalisierung nationaler Propaganda im Krieg und das
Aufkommen nationaler Feindbilder. ("Erbfeind" Frankreich)
Die in ihrem bestimmten
•
historisch-sozialen Kontext
entstehende
• nationale Bewegung des 19. Jahrhunderts wird zu einer der großen
politischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.10.2023