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Zeittafel
Dorothea
Caroline
Albertine Michaelis wird am
2. September 1763
in der »Universitätsstadt
Göttingen als Tochter von »Johann
David Michaelis (1717-1791) und seiner zwanzig Jahre jüngeren 2. Ehefrau Louise
Philippine Antoinette Michaelis, geb. Schröder (1743-1808) geboren.
Sie ist das älteste der vier Kinder von den insgesamt neun, die ihre
Mutter geboren hat und die überhaupt erwachsen werden. Nichts
Außergewöhnliches in einer Zeit, in der die Kindersterblichkeit
außerordentlich hoch und die Gefahr, sich mit lebensbedrohlichen
Infektionskrankheiten anzustecken, sehr groß ist.
Als Caroline, wie die Tochter gerufen wird, zur Welt kommt, hat sie schon einen neunjährigen Halbbruder. »Christian
Friedrich Michaelis (1754-1814), genannt Fritz (geb.
am 13.4.1754) hatte seine Mutter Friederike, mit der der Vater zehn
Jahre lang verheiratet gewesen war, kaum 5 Jahre alt, Anfang 1759
verloren.
Im Laufe weniger Jahre folgen Caroline die Geschwister
Charlotte Wilhelmine (1766-1793), genannt Lotte, Gottfried Philipp
(1768-1811) und Luise Friederike (1770- 1846) nach. Ihr Bruder Bruder
Julius Wilhelm Ernst stirbt 1791 im Alter von sieben Jahren.
Caroline und ihre Geschwister werden in eine Zeit großer politischer,
gesellschaftlicher, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher Umbrüche
hineingeboren, die
eine außerordentliche Dynamik entfalten, auch wenn sich der weitere Weg
in die Moderne nicht ohne gegenläufig Prozesse vollzogen hat, die das
Bestehende bewahren und von diesem schädliche Einflüsse fernhalten
wollten.
Die Welt nach dem Siebenjährigen Krieg
Als Caroline Michaelis in Göttingen das Licht der Welt erblickt, ist der
»Siebenjährige
Krieg (1756-1763) gerade zu Ende. Dieser quälend lange Krieg hat wie
alle Kriege viele Gesichter. Sieht man darauf, wofür die Mächtigen der
Zeit hunderttausende von Soldaten auf die Schlachtfelder überall in der
Welt schickten, dann war es ihnen einzig und allein um die Macht
gegangen.
Das »hohenzollerische
»Preußen
hatte mit dem »habsburgischen Österreich, Russland, Schweden und den Reichsfürsten
um »Schlesien
gekämpft. Die Engländer und Franzosen hatten ihre Soldaten, unterstützt
von von Söldnerheeren, die meistens aus zwangsgepressten und von den
deutschen Fürsten an beide Kriegsparteien verkauften Soldaten bestanden,
im Kampf um die Kolonien weltweit und auf allen Meeren aufeinander
gehetzt. Mit den Friedensverträgen von »Paris
und von
Hubertusburg im Februar 1763 war u. a. die Annexion Schlesiens durch
Preußen und damit dessen angestrebte Stellung als Großmacht bestätigt
worden.
Der Siebenjährige Krieg, das war selbst jenen bewusst, die von den
Schauplätzen dieses Krieges bestenfalls vom Hörensagen wussten, war ein
Weltkrieg. Das war auch den einfachsten Zeitgenossen klar, wenn sie
erlebten, wie Werbeoffiziere der Kriegsparteien überall durch die Lande
zogen, um die Söldner mit allen Tricks und Versprechungen auf Abenteuer
für ihren Einsatz in der Welt, vor allem in Nordamerika,
zusammenzubekommen. Und so mancher Zeitgenosse konnte auch aus der
Nähe beobachten, wie die von den Fürsten zwangsgepressten und verkauften
Truppen in langen Fußmärschen und dazu oft schlecht ausgerüstet und
versorgt, bis an die Küste durchmarschierten, wo sie dann mit einem,
ihnen jedenfalls gänzlich unbekannten Ziel eingeschifft wurden. Und wer
von dort wieder zurückkam, war häufig gezeichnet und ein Invalide. Er
hatte seinen Leib und sein Leben für eine Sache eingesetzt, in der es "um viel mehr als um eine deutsche Provinz" und das
"Mächtegleichgewicht in Europa" gegangen war. In engster
machtpolitischer Verflechtung mit diesen Problemen war auch mit seiner
freiwilligen oder unfreiwilligen Hilfe, "in der Neuen Welt zwischen
Englang und Frankreich um Kolonialbesitz in Amerika und in der Karibik,
um die Beherrschung der transatlantischen Seewege, um Stützpunkte in
Afrika sowie um lukrative Handelsvorteile in Asien, vornehmlich in
Indien, gewürfelt" worden. (Schilling
1994a, S.452)
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Die Folgen dieses Gemetzels, in dem allein Preußen auf den
Schlachtfeldern dieses ersten Weltkrieges 180.000 Mann verloren
hat, waren katastrophal.
Blühende deutsche Städte wie das für seine
"urban-barocke Heiterkeit" (ebd.,S.465)
weithin bekannte Dresden, das von den Preußen mit ihren Kanonen acht
Tage lang beschossen und zerstört wurde, oder Berlin, das von der
Gegenseite geplündert und zerstört wurde, sind nur zwei prominente
Beispiele für das, was die Kriegsparteien auf deutschem Boden, vor allem
die Preußen und die österreichischen Habsburger, angerichtet haben.
Wie immer
in solchen Fällen war es die Zivilbevölkerung, die unter den Kriegsereignissen
und ihren Folgen
am meisten zu leiden hatte. Allein in Brandenburg-Preußen haben unter »Friedrich
II., dem Großen (1712-1786) in der machtpolitischen
Auseinandersetzung zwischen den preußischen Hohenzollern und den
österreichischen Habsburgern, die am Ende nur den Status quo ante in
Deutschland bestätigte, eine halbe Million Menschen ihr Leben gelassen.
Aber auch die Jahre danach waren für die Bevölkerung keine glücklichen
Jahre. Wer in Brandenburg-Preußen lebte, "das am schwersten unter dem
Krieg gelitten hatte", lernte Elend, Not und Verzweiflung kennen. (ebd.,S.476)
Die Preise für alles explodierten, Ernten fielen immer schlechter aus
und verschärften die Versorgungslage und die "Alte Welt wurde zum
letzten Mal von einer Krise alten Typs erschüttert: allenthalben in
Europa kam es zu Hungerrevolten – Vorboten der zwei Jahrzehnte später in
Frankreich ausbrechenden Revolution." (ebd.,
S.476f.)
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Göttingen im und nach dem Siebenjährigen Krieg
Göttingen war seit 1715 eine Festungsstadt. Im Siebenjährigen Krieg war
sie dennoch verglichen mit Dresden oder Berlin mit einem blauen Auge
davongekommen, auch wenn es mal von dieser oder jener Kriegspartei
besetzt wurde. Trotzdem die Stadt auch beschossen wurde (z. B. 1760 von
den Truppen des Herzogs »Ferdinand von Braunschweig
(1721-1792)), wurde sie nicht
gänzlich zerstört.
Allerdings musste sie zwischen 1757 und
1762 das Schicksal einer von der französischen Armee besetzten Stadt
mit ihren ernormen Folgen erdulden. Das bedeutete zu den schlimmsten
Zeiten hohe Belastungen zur Versorgung der bis zu 10.000 Mann und 4.000
Pferde starken französischen Besatzungsmacht, für viele Männer
Zwangsarbeit beim Ausbau ihrer Festungswerke rund um die Stadt (sie
werden 1762 nach dem Abzug der Franzosen wieder geschleift) und vor
allem auch Zwangseinquartierungen, um die
Soldaten, vor allem die französischen Offiziere, unterzubringen.
Kirchen und Hörsäle wurden zu Magazinen, die Stadtschule zu einem
Lazarett und einem Pferdestall umfunktioniert. Weil die Besatzer aber
immer stärker auf die Ressourcen der Stadt zugriffen, "nahmen nicht nur
Spannungen zu und verschlechterte sich die Versorgungslage" (Vierhaus
2002S.33), sondern die Stadt verzeichnete auch einen
deutlichen Bevölkerungsverlust.
Das
Tagebuch
des Professors für Orientalistik »Andreas
Georg Wähner (1732-1762) begleitet die Ereignisse des Siebenjährigen
Krieges aus Göttinger Perspektive und verzeichnet das Hin und Her der
Kampfhandlungen und die Ereignisse in Göttingen von Juli 1757 bis vor
kurz vor seinem Tod im Februar 1762 Tag für Tag.
Immerhin der Lehrbetrieb der erst 1737 als zweite Universität des
Kurfürstentums Hannover eröffneten
Georg-August-Universität
(Georgia
Augusta) konnte, wenn auch empfindlich gestört, weiterlaufen, auch
wenn »Johann
David Michaelis (1717-1791) im November 1760 unter seinen
Kollegen dafür warb, die Universität nach Clausthal zu verlegen.
Die
Georgia Augusta
hatte innerhalb von knapp 25 Jahren Jahren nicht nur mit ihren
Bauten das Stadtbild sehr verändert, sondern unter dem Einfluss ihres
ersten Kurators »Gerlach
Adolph von Münchhausen (1688-1770)
auch zahlreiche berühmte Gelehrte und Persönlichkeiten aus aller Welt
anzogen. Mit ihren teilweise sehr repräsentativen Bauten und der großen
Zahl adeliger Studenten, die sich das teure Pflaster der ca. 6.000
Einwohner zählenden Universitätsstadt leisten konnten.
Dabei war Göttingen keineswegs nur Universitätsstadt. Es war zugleich
bis zur Industrialisierung auch eine typische Ackerbürgerstadt, in der
die meisten Einwohnerinnen und Einwohner vom Handel und vom Handwerk
lebten und dazu entweder in den großen Gärten, die zahlreiche Häuser
umgaben oder auf Äckern vor der Stadt Stallungen unterhielten, in denen
Kühe, Schweine und Schafe im Haupt- oder Nebenerwerb gehalten wurden.
Und doch strahlte es vor allem im Zentrum um die Universität herum
eine gewisse höfische Eleganz aus, auch wenn
morgens in aller Hergottsfrühe
Hirten mit lautem Klingeln annähernd 200 Kühe, dazu noch Schafe und Ziegen der Kleinbürger,
die diese auf ihren Grundstücken in der Stadt hielten, einsammelten, am
Brunnen vor dem Rathaus tränkten und
auf die Gemeindewiesen vor den Toren der Stadt hinausführten.
Ein gesellschaftliches
Miteinander zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten und
Gruppen in der Stadt gab es nicht und ihre sozialen Berührungspunkte
waren, wenn es nicht durch die Lebensführung der bürgerlichen
Oberschicht notwendig war (z.B. Bedienstete, Versorgung etc.) auf das
Notwendige beschränkt. Stände und Klassen, Wohlhabende und Gebildete auf
der einen, Arme und Ungebildete auf der anderen Seite, lebten ihre Leben
in klarer sozialer, aber auch räumlicher Distanz voneinander. Vor allem
zwischen der Mehrheit der Stadtbevölkerung und der Minderheit der
Universitätsbevölkerung fiel diese Distanz besonders stark aus und "fand
in Sprache, Auftreten und Statusempfindlichkeit" (Vierhaus
2002, S.36) der wohlhabenden und gebildeten bürgerlichen
Oberschicht, zu der auch die 40-50 Professorenfamilien gehörten, ihren
Ausdruck.
Das zeigt sich auch daran, dass »Caroline
Michaelis (1763-1809) auf diese so weit auseinanderklaffenden sozialen
Welten in ihren zahlreichen brieflichen Zeugnissen offenbar nie zu
sprechen kommt und damit geradezu links liegen lässt, was nicht zur
ihrer eigenen sozialen Welt gehört. Selbst wenn man bedenkt, dass es
sich um eine junge Frau handelt, die viele verschiedenen
Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz bewältigen muss, ist es doch
bemerkenswert, dass sie über ihre eigene Welt in einer kleinen Stadt,
die die Gegensätze nicht übertünchen kann, keine Worte verliert und nicht einmal vom Leben der
Dienstmädchen, die in einem Haushalt wie dem ihres Vaters sicherlich bis
zu 18 Stunden am Tag schufteten, berichtet.
Ein besonderes Gespür für
soziale Fragen der Zeit entwickelte sie jedenfalls nicht. Und wenn
sie es einmal mit der politischen Wirklichkeit dieser Zeit zu tun bekam,
dann verliert sie nicht viele Worte darüber. Meistens aber, auch in
ihrer Zeit in der Bergarbeiterstadt ▪Clausthal während ihrer ersten Ehe
mit Johann Wilhelm Böhmer zeigt sie sich, soweit dies durch ihre
fehlenden schriftlichen Zeugnisse darüber abzuleiten ist, am Schicksal
Bergarbeiter, die an schmerzhaften Bleivergiftungen litten und die
Praxis ihres als Bergmedikus arbeitenden Mannes dutzendweise aufsuchten,
keinen sichtbaren Anteil. (vgl.
Damm
1978/1997, S.22, vgl.
Roßbeck 2009,
S.51)
Eines immerhin bekommt sie mit
und empört sie: Als sie im
April
1782 auf ihrer Reise nach Kassel unterwegs zu sehen bekommt, wie in
Hannoversch-Münden ein Haufen zwangsgepresster und als Söldner
verkaufter Soldaten verabschiedet werden, notiert sie kritisch an, »daß
der Landgraf in Münden Menschen verkaufte, um in Caßel Paläste zu
bauen.« (Schlegel-Schilling,
Die Kunst zu leben 1997, S.98) Die Sache berührt sie aber auch
deshalb, weil ihr älterer Bruder »Christian
Friedrich Michaelis (1754-1814) zu dieser Zeit, zwar als
Freiwilliger, aber doch auch als hessischer Söldner in Nordamerika gegen
die aufständischen Kolonisten kämpfte.
Dass sie sich
nicht in jene Teilen der Stadt begab, die ein bürgerliches Mädchen am
besten nie aufsuchte, sondern nur an dem geselligen Leben ihrer sozialen
Schicht teilnahm und teilnehmen konnte, ist dabei natürlich die andere Seite der
Medaille.
Auch wenn
es Studenten aus ärmeren Schichten gab, die, mit allerdings sehr gering
bemessenen Stipendien ihres jeweiligen Landesvaters ausgestattet, in die
Stadt kamen und dort oft in Schlafsälen mit bis zu 20 anderen auf Stroh
schliefen, war Göttingen aber auch eine Stadt, in die die feine
Gesellschaft gerne ihre adeligen Söhne zum Studium schickte.
Prominentestes Beispiel dafür waren
die drei englischen Prinzen »Ernst
August (1771-1851), Herzog von Cumberland (er wird später im Jahr 1837 der König von
Hannover), »Augustus
Frederick (1773-1843), Herzog von Sussex, und »Adolphus
Frederick (1774-1850), Herzog von Cambridge, 15, 13
und 12 Jahre alt (vgl.
Kleßmann
1975, S.67). Sie
kamen im Jahr 1786 zum Studium in die Stadt. Im Übrigen kann nur eine offenbar als zu hoch empfundene Mietforderung
von Carolines Vater »Johann
David Michaelis (1717-1791) verhindern, dass die Familie ihre
Wohnung räumen und den hochherrschaftlichen Prinzen und ihrer Begleitung
für die kommenden Jahre zur Verfügung stellen musste. (vgl.
ebd.).
Trotzdem: Während ihrer Zeit in Göttingen finden sich die Prinzen
alle drei Wochen regelmäßig, so wie vom britischen Königshaus gewünscht,
auch im im Hause Michaelis zum Tee
ein und blieben in der Regel ca. drei Stunden. Da sie einige Jahre
gegenüber wohnen, kommen Lotte und Luise auch privat mit ihnen in
Kontakt. Luise Friederike Wiedemann, geb. Michaelis (1770-1846),
spricht sogar davon, dass der der jüngste Prinz Adolph ihr ein" treuer
Spielkamerad gewesen" (Wiedemann
1929, S.14) sei. Auf den zahlreichen Bällen dieser Zeit, an denen
die Prinzen teilnehmen, scheinen sich jedenfalls viele junge Damen darum
gerissen zu haben, von einem der Prinzen auf die Tanzfläche geführt zu
werden. (vgl.
ebd.)
Mochte Göttingen
mit seinen kaum befestigten Straßen und den Hühnern und Gänsen darauf
und
tausender freilaufender Hunde und Katzen auch mit dem
eher mondänen gesellschaftlichen Leben in den meisten Residenzstädten der
Zeit nicht mithalten, konnte die mittelgroße Stadt aber neben der angesehenen
Universität inzwischen auch mit anderem punkten.
Die
Stadt hatte kräftig gebaut, mit einer »Reithalle,
einer Rennbahn, dem Botanischen Garten, repräsentativen Logierhäusern,
einer großen Zahl von Gaststätten und Speiselokalen entlang der
repräsentativen Allee und einer ausreichenden
Zahl von Frisören für die adelige Kundschaft das von der
zahlungskräftigen Studentenelite erwartete Ambiente
mit einem vergleichsweise hohen Wohn- und Freizeitwert geschaffen.
(vgl.
Appel
2013, S.15)
Aber natürlich hatte Göttingen insgesamt eine sozial sehr heterogen
zusammengesetzte Bevölkerung, die räumlich deutlich voneinander
separiert in unterschiedlichen Vierteln der Stadt lebte. Während die
Wohlhabenden im Zentrum der Stadt im Umfeld der Universität wohnten,
lebten die Armen und Bettler der Stadt – sie machten immerhin ca. ein
Drittel der Stadtbevölkerung aus – vorrangig an den Stadträndern, wie
zum Beispiel im Ritterplan, an der Neuen Leine oder in der Turmstraße (Reincke
2012/2013, dort unter Bezug auf
Rohrbach 1987,
S.183).
Das Haus, in dem die
Familie Michaelis während der französischen Besatzungszeit von
1767 bis 1762 wohnte, war auf besondere Anordnung der französischen
Regierung von Einquartierungen verschont geblieben. Wahrscheinlich lag dies
an dem internationalen Ruf, den »Johann
David Michaelis (1717-1791) als Professor erworben hatte, sicher
aber auch an seinen guten Beziehungen zu den französischen
Offizieren der Besatzungsarmee, mit denen er, wie z. B. mit dem
Generaladjutanten Beville des Marschalls »Victor-François
de Broglie (1718-1804) oder dem General »Thiery
Freiherr de Vaux (1748-1820) in freundschaftlichem Umgang stand. Dass diese Beziehungen auch der
Universität zugute kamen, versteht sich. (vgl.
Kleßmann
1975, S.28) So ergaben Verhandlungen zwischen Vertretern der
Stadt und der Universität, dass der französische Kommandeur zu
bemerkenswerten Zusicherungen bereit war. So sollte das
geschäftliche Leben in der Stadt, insbesondere der
Universitätsbetrieb ungestört weitergehen, die Professoren von
Zwangseinquartierungen verschont und "die Studenten vor gewaltsamer
Anwerbung geschützt bleiben." (Vierhaus
2002, S.33) Wahrscheinlich blieb das Haus der Familie
Michaelis nach dem Verlust dieses zunächst gewährten Privilegs für
die Professoren im Jahr 1760 auch danach noch von
Zwangseinquartierungen verschont.
Familienleben im repräsentativen Wohnhaus der Familie in bester
Innenstadtlage von Göttingen
Der Siebenjährige Krieg und seine Folgen
trafen die Familie Michaelis also aus verschiedenen Gründen nicht sonderlich. So konnte »Johann
David Michaelis (1717-1791) 1764 um den ersten Geburtstag seiner
Tochter Caroline herum die mitten in der Stadt
liegende, wohl etwas heruntergekommene "Londonschänke"
erwerben. Das weitläufige Gebäude mit verschiedenen Seitenflügeln
war ehemals ein
Treffpunkt von Studenten und während der Besatzungszeit französisches
Militärhospital gewesen. Für viertausendreihundert
Taler ging es in den Besitz der Familie Michaelis über.
Nicht genug: Mit etwa der gleichen Summe ließ
der Professor das repräsentative
Eckhaus mit einem großem Hof und Garten so renovieren, dass es danach
als repräsentatives Wohnhaus der Familie, aber in einem Seitenflügel
an der Leinestraße auch als Logierhaus für bis zu einem Dutzend gut
betuchter Studenten, die mit ihren Mieten – 371 Taler Jahresmiete im
voraus - das Haushaltseinkommen der Professorenfamilie beträchtlich
erhöhten, dienen konnte. (vgl.
ebd
S.31)
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Das »Michaelis-Haus,
das
an der Allee unmittelbar gegenüber der Universitätsbibliothek
lag, war ein großes mehrstöckiges Gebäude, das was hermachte und
damit genau nach dem Geschmack des Professors für Orientalistik und
Theologie, der ab 1791 auch den Titel eines Hofrates führen durfte
und zu diesem Zeitpunkt wohl auf dem Höhepunkt seiner Karriere
angelangt war.
So
passte der Erwerb des mit Abstand prächtigsten Hauses, das die etwa
40-50 Professoren der Universität in Göttingen bewohnten, durch den für
seine "coolen" Zoten und derben Sprüchen in seinen Vorlesungen
bekannten Gelehrten wohl haargenau in sein Selbstbild und dazu, wie er
sich gerne nach außen darstellte.
Allerdings wurde
die Art und Weise, wie er seinen akademischen Erfolg und seinen
sozialen Status nach außen kehrte, wohl nicht nur von seinen
Kollegen "mit einem Gemisch aus Ärger Spott und Bewunderung" beäugt
(vgl. ebd
S.29). So waren es wohl auch nicht nur sie, die ihm einen Hang zur
Selbstinszenierung nachsagten, seine Eitelkeit, narzisstische
Selbstverliebtheit und Geltungssucht bemerkten und feststellten,
dass er auch seinen internationalen Ruhm gerne überschätzte (vgl.
ebd S.29f.).
Dass er dennoch ein hochangesehener, vom Geist der Aufklärung
geprägter Wissenschaftler war, der die Georgia Augusta als moderne
Reformuniversität, in der die theologische Fakultät nicht mehr die
erste Geige spielte, ihre Aufsicht über die anderen Fakultäten
einbüsste und die Forschungsergebnisse nicht mehr der kirchlichen
Zensur unterlagen, entscheidend mit geprägt hat, steht dabei
allerdings außer Zweifel.
Im Michaelis-Haus
bewohnte die Professorenfamilie den an der Mühlenpforte gelegenen
Teil des Haus, das von seinen zwölf Fenstern in einer Reihe einen
direkten Blick auf die gegenüberliegende Universitätsbibliothek und
andere Gebäude der Universität ermöglichte. Die weitläufigen Räumlichkeiten
erlaubten es, dass der Professor in den eigenen vier Wänden einen
eigenen Hörsaal einrichten konnte.
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»Caroline
Michaelis (1763-1809) und ihre Geschwister wuchsen also in weitgehender sozialer
Sicherheit auf, in einem Haus, das ihnen mit seiner zentralen Lage
Gelegenheit gab, alles mitzubekommen, was in der Stadt los war. Das
rege Treiben der Studenten, die zu ihren Vorlesungen gingen, die
Bibliothek aufsuchten oder in eines der zahlreichen Gasthäuser
einkehrten, bot den Heranwachsenden sicher immer wieder
Interessantes, auch wenn sich Göttingen und seine Universität sehr
darum bemühte, den sonst üblichen Umtrieben von studentischen
Burschenschaften mit ihrer "Sauf- und Raufkultur" (Appel
2013, S.15), die man z.B. aus Jena kannte, entgegenzuwirken.
Spielkameradinnen und -kameraden gab es in einer Zeit, in der
wahrlich kinderreiche Familien mit zehn und mehr Kindern keine
Ausnahme waren, in der unmittelbaren Nachbarschaft genug. Im
unmittelbaren Nachbarhaus der Familie des Geheimen Justizrates und
Professors für Straf- und Kirchenrecht »Georg
Ludwig Böhmer (1715-1797) wuchsen allein 12 Kinder auf, von
denen »Georg Wilhelm Böhmer (1761–1839)
als Mitgründer des ▪ Mainzer
Jakobinerklubs während der kurzen Episode der
▪
Mainzer Republik (Oktober 1792-Juli 1793 eine
gewisse Berühmtheit erlangte und Johann Franz Wilhelm Böhmer
(1754–1788) im Jahr ▪
1784 der erste Ehemann von Caroline Michaelis und der Vater von
drei ihrer insgesamt vier Kinder wurde. Aber auch eine Vielzahl
anderer Professorenkinder, die Heynes, Loders, Schlözers, Kästners, Gatteres und wie sie alle hießen, wohnten in der Umgebung. So
blieben auch die Kinder der Professoren beim Spielen unter sich,
zumal "die etwa vierzig Göttinger Professorenfamilien eine relativ
geschlossene soziale Einheit (bildeten)." (ebd,,
S.24)
Das bedeutete jedoch nicht, dass die Häuser der Professoren, neben
Studenten nicht auch interessanten Besuchern von außerhalb stets
offenstanden. Aber nicht in jedem Haus hat man den gleichen Spaß an
Geselligkeit. Vor allem in den Kreisen der Professoren gab es immer
wieder einmal Bälle, an denen die älteren Kinder sicher auch
teilnehmen durften. Natürlich waren solche Veranstaltungen nicht
jedermanns Sache und im Hause Michaelis wohl eher eine Seltenheit.
Aber wir wissen, dass im Winter 1782/83, Caroline hatte sich gerade
mit dem Nachbarsohn verlobt, jeden Sonnabend 12 Paare von 20 bis 22
Uhr getanzt haben und am Geburtstag des Hausherrn im Februar ein
Ball veranstaltet wurde. (vgl.
Kleßmann
1975, S.286, Anm.32) Und der Geburtstag der Königin war offenbar
immer wieder ein Ereignis, um eine größere Tanzveranstaltung im
Hause Michaelis auszurichten. (Waitz
1871, S.8)
Wo man mehr Spaß an solcher Geselligkeit hatte, waren solche
Veranstaltungen sicher häufiger. Das gilt auch sicher für die
unmittelbaren Nachbarn. Frau Böhmer war offenbar eine Frohnatur
und damit "ganz das Gegenteil der unfrohen und humorlosen" (ebd.1975, S.33) Mutter von Caroline,
Louise Philippine Antoinette
Michaelis, geb. Schröder (1743-1808), die keinerlei Aufregung in
ihrem Alltag ertragen konnte und auf die Welt und ihre
Herausforderungen mit unnachgiebiger Strenge, einem bis ins Kleinste
reichenden Ordnungssinn und einer bigotten Religiosität begegnete.
Am ehesten blühte sie auf, wenn sie ihren Kindern Geschichten und
Erlebnisse aus dem Siebenjährigen Krieg erzählte und vor allem die
jüngeren an ihren Lippen klebten (vgl.
Wiedemann
1929, S.3).
Eine enge emotionale Beziehung zu ihren Kindern konnte sie
jedenfalls nicht herstellen, auch wenn ihr ihre Söhne und Töchter in
späteren Jahren bescheinigten, dass ihre kühle Distanzierheit und
mangelnde emotionale Nähe ein Glück für den Familienfrieden gewesen
sei, der sich sonst unter der autoritären Herrschernatur des Vaters
sicher ständig in Schieflage befunden hätte.
Vater und Mutter Michaelis waren eine zeittypische »Konvenienzehe
eingegangen. Das Eheleben, das sie ihren
Kinder vorlebten, war wohl auch alles andere als von anhaltender Zuneigung
gekennzeichnet. Das war ohnehin die Regel, denn die bürgerliche Ehe
"war eben keine Lustpartie, sondern ein generalstabsmäßig geplantes
Unternehmen mit klar definierten Zwecken." (Frevert
1986, S.42)
Professor »Michaelis (1717-1791)
gönnte sich über Jahre hinweg seinen jährlichen Kuraufenthalt in »Bad Pyrmont,
einem knapp 100 Kilometer nordwestlich von Göttingen gelegenen
mondänen Kurort, der es dem böhmischen »Karlsbad,
dem englischen »Bath
oder dem belgischen »Spa
durchaus aufnehmen konnte und Adelige und gut betuchte Bürger von
überall anzog. Auch wenn entsprechende Belege dafür fehlen (vgl.
Reulecke
2010, S.50, Anm.156), ist doch nicht von der Hand zu weisen,
dass er sich dort mit attraktiven
weiblichen Badegästen vergnügte (vgl.
Roßbeck
2009, S.21). Ob oder ob nicht, in jedem Falle hätte die von ihm abhängige,
sechsundzwanzig Jahre jüngere Louise Philippine Antoinette
Michaelis, die bei ihrer Heirat eine stattliche Mitgift in die Ehe
mitgebracht hatte, diese hinnehmen müssen.
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Ausdruck dieser Zweckehe, deren Erwartungen im Hinblick auf
Nachkommenschaft die junge Frau mit der Abfolge von neun Geburten
bestens erfüllte, war, dass im Michaelis-Haus die
Lebensbereiche des
Vaters und der Familie räumlich vollständig voneinander getrennt
waren. Vater Michaelis hatte sein Schlaf- und Arbeitszimmer im
ersten Stock, während die Mutter mit den vier Kindern im Erdgeschoss
wohnte. Lediglich zum Abendessen kam man täglich zusammen,
ansonsten ging man den Tag über getrennte Wege. (Kleßmann
1975, S.31f.) Ob sich die Familie zu anderen Anlässen, wie sonst
oft üblich, z. B. zu Bibelstunden oder anderweitigen Vorlesestunden
zusammenfand, ist nicht bekannt. Wenn schon sonst nicht unbedingt,
so blieb der Vater doch für Caroline stets ihr intellektuelles
Vorbild. (Roßbeck
2009, S.18)
Tagsüber waren die Kinder nicht nur, bei dem, was sie trieben, so
weitgehend sich selbst überlassen, sondern wuchsen auch weitgehend
ohne elterliche Nestwärme auf, wie wir sie heute verstehen. Statt
der Eltern hielt sich Caroline dabei wohl an ihren neun Jahre
älteren Halbbruder »Christian
Friedrich Michaelis (1754-1814) (Fritz), an dem sie "in
schwärmerischer Verehrung (hing)" (ebd., S.15).
Als sich der Bruder Ende 1781 als Stabsarzt für eine hessische
Söldnertruppe anwerben lässt und bis Mai 1784 in Nordamerika für die
Engländer gegen die aufständischen Kolonisten kämpft, bricht der
Abschied von ihm Caroline schier das Herz.
Ansonsten bedeutete ihre Stellung als älteste
Tochter und älteste der Kinder aus zweiter Ehe, dass sie schon von früh
auf Verantwortung für Wohl und Wehe der jüngeren Geschwister zu
tragen hatte. Eine sorglose und ausgedehnte Kindheit sieht
jedenfalls aus heutiger Sicht anders aus und bei Caroline handelt es
sich wohl eher um "ein frühes, allzu frühes Erwachsenenwerden" (Appel
2013, S.8).
Abwechslung für die Kinder brachten aber sicher nicht nur die
im Nebentrakt wohnenden Studenten, sondern auch die große Zahl von mehr
oder weniger bekannten Gästen, die dem anerkannten Professor ihre
Aufwartung machten.
»Gotthold
Ephraim Lessing (1729-1781) war schon 1766 auf der Rückreise von
»Bad Pyrmont, wo er sich an der Seite von
»Leopold von Brenkenhof
(1750-1799)
Ende Juni bis bis Mitte Juni aufgehalten hatte, bei Professor
Michaelis zu Gast und veranlasste ihn, "sich an seine Ausgabe des
Alten Testaments für ungelehrte Leser zu machen." (Nisbet
2008, S.438) Zur gleichen Zeit sprach auch »Benjamin
Franklin (1706-1790), zu dieser Zeit noch »Interessenvertreter
der nordamerikanischen britischen Kolonien in England, später
einer der »Gründerväter
der Vereinigten Staaten und
Unterzeichner der »Unabhängigkeitserklärung
der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776 im Hause Michaelis vor.
Dabei
hörte er sich die Prognose seines Gastgebers an, dass sich Amerika in
absehbarer Zeit für unabhängig erklären werde, hielt aber
dagegen, dass "die Liebe der Amerikaner zum britischen Mutterland
(...) das nicht zulassen (würde)." (Kleßmann
1975, S.31)
Nicht dass Caroline im Alter von etwa drei Jahren vom Glanz solcher
und anderer hochangesehener Besucher wirklich viel mitbekommen
hätte, dafür waren die Lebensbereiche der Familie doch zu sehr
getrennt. Wenn die Gäste allerdings im Hause Michaelis auch
bewirtetet wurden, eine im Übrigen für den als sehr
sparsam beschriebenen Hausherrn kostspielige Angelegenheit, konnte sie aber doch spüren,
welches Flair ihren Vater und seine Gäste umwehte.
Die Erziehung Carolines zu Hause und im Mädchenpensionat in Gotha
In Göttingen gab es zwar zu dieser Zeit noch kein geregeltes
Mädchenschulwesen (erst 100 Jahre später kommt es zur »Gründung
einer mittleren und höheren Bürger- und Töchterschule, vgl.
Dehler
2012/13). Trotzdem hätte Caroline auch auf eine der private Mädchenschulen
für "höhere Töchter" gehen können, wie z. B. die Institute der
Madame de la Port oder das von Madame de la Pont, wo der
Französisch-Unterricht im Mittelpunkt stand oder an eine der
anderen, eher an christlicher Lebensführung ausgerichteten privat
geführten Einrichtung dieser Art. (vgl. Roßbeck
2009, S.21)
Vielleicht lag es an dem besonderen Milieu der
hochgelehrten Professorenfamilien oder auch an einem allgemeinen
Trend in gutsituierten bürgerlichen Kreisen, dass es Carolines Vater
vorzog, seine Tochter nach
seinen eigenen Vorstellungen von Hauslehrern, die allerdings häufig
wechselten, unterrichten zu lassen.
So bekam sie in den eigenen vier Wänden Unterricht in Religion,
Geschichte, Arithmetik und in Englisch, Französisch und Italienisch.
Da sie offenbar bereitwillig lernte und dazu eine entsprechende
Begabung zeigte, machte sie gute Fortschritte und las sogar
verschiedene englische Autoren im Original. Dass sie als Mädchen in
so verschiedenen Gebieten unterrichtet wurde, war indessen zu dieser
Zeit nicht selbstverständlich, zumal Bildung nicht unbedingt das
war, mit dem bürgerliche Mädchen ihr soziales Kapital für ihre
Zukunft als Ehefrauen und Mütter vergrößern konnten.
Im Gegenteil: Schon »Jean-Jaques
Rousseau (1712-1778) hatte in seinem
ȃmile
oder Über die Erziehung (1762) den Stab über "Blaustrümpfe und
Schöngeister" (Rousseau
1762/41978, S.447) gebrochen und betont, dass sie
"eine Geißel für ihren Mann, ihre Kinder, ihre Freunde, ihre Diener,
für alle Welt" (ebd.,
S.447) seien: "Von der Höhe ihres Genies aus verachtet sie alle ihre
fraulichen Pflichten und denkt nur daran, ein Mann [sic!] nach der
Art des Fräulein von l'Enclos zu werden." (ebd.)
Dass Rousseau die gebildete, für ihre vielseitige musische
Begabung, ihre Intelligenz und ihren Sprachwitz gesellschaftlich
anerkannte »Ninon
de Lenclos (1620-1705), die wegen ihrer Attraktivität auch
zahlreiche Liebhaber hatte, ohne jemals ihre Unabhängigkeit
aufzugeben und zu heiraten, so abwertet und sie, ohne den Begriff so
zu gebrauchen, zum "Mannweib" abstempelte, einer Frau, die einfach
aus Geltungssucht das soziale Geschlecht wechselte, zeigt auch wie
groß die männliche Furcht vor selbstbewussten, aus den herkömmlichen
Rollenklischees fallende oder diese bewusst abstreifende Frauen war
und wie einfach solche Frauen zur
Projektionsfläche dieser Ängste werden konnten und sich dabei tief im
»kollektiven
Gedächtnis dieser und nachfolgender Zeiten verankert haben, das
die herkömmlichen Geschlechterbeziehungen und Rollenerwartungen
prägte und immer weiter tradierte.
Was Rousseau und andere mit ihm
vertraten, war also nicht neu und entsprach durchaus auch dem
Mainstream, dem vorherrschenden Zeitgeist, den er im Anschluss an
diese Bemerkung zitiert: "Draußen wirkt sie stets lächerlich und
wird zu Recht kritisiert, denn die Kritik kann nicht ausbleiben,
sobald man seinen Stand verlässt und einen annehmen möchte, für den
man nicht geschaffen ist. Alle diese hochtalentierten Frauen nötigen
nur den Dummen Achtung ab. [...] Dieser ganze Schwindel ist einer
ehrbaren Frau unwürdig." Und am Ende dieser Überlegungen setzt er
hinzu: "Leser ich berufe mich hierin auf euch selber. Seid ehrlich!
Von welcher Frau habt ihr einen besseren Eindruck und welcher Frau
nähert ihr euch mit größerer Ehrfurcht, wenn ihr das Zimmer
betretet: wenn ihr sie mit Arbeiten ihres Geschlechtes, mit den
Sorgen ihres Haushaltes und beim Flicken der Kindersachen
beschäftigt seht, oder wenn sie auf ihrem Putztisch Verse schreibt,
umgeben von allen möglichen Drucksachen und von Briefchen in allen
Farben? Wenn es nur vernünftige Männer auf der Welt gäbe,
so bliebe
jedes gelehrte Mädchen ein Leben lang alte Jungfer." (ebd.,
S.447f,)
Mit nicht einmal 12 Jahren wurde Caroline von ihrem Vater um Ostern
1774 herum in ein Mädchenpensionat im etwa 100 km südöstlich von
Göttingen gelegene »Gotha
geschickt. In der Residenzstadt des »ernestinischen
Herzogtums »Sachsen-Gotha-Altenburg
bleibt sie drei Jahre, bis sie im Sommer 1771 als Fünfzehnjährige
nach Göttingen zurückkehrt.
Unter den Fittichen von Justus Karl Schläger und seiner Frau Sarah
Elisabeth Schläger, über deren persönliche und erzieherische
Qualitäten die Meinungen der Zeitgenossen wohl weit
auseinandergingen, soll das junge Mädchen den nötigen haushälterischen und gesellschaftlichen
Feinschliff erhalten und damit auf die ihr vorgezeichnete Rolle als
Ehefrau und Mutter weiter vorbereitet werden. Über Carolines Verhältnis zu ihnen, wissen wir
wenig.
Carolines Vater hat dabei aber sicherlich auch andere Dinge vor
Augen, als er sich entschließt, seine Tochter ins Pensionat zu
geben. Ein junges, dazu etwas frühreifes bürgerliches Mädchen aus
bestem Hause, war in Göttingen, wo Hunderte männlicher Studenten
kaum Spielraum hatten, die ihnen prinzipiell zugestandenen
vorehelichen sexuellen Erfahrungen zu machen, besonderen
Gefährdungen ausgesetzt. Erlag sie den Verführungskünsten eines
Liebhabers, war es um ihre "Keuschheit", die auch für Rousseau "die
kostbarste Tugend für eine Frau" (Rousseau
1762/41978, S.427)
darstellte, geschehen und mit dem Verlust der Jungfräulichkeit
verspielte sie einen wichtigen Teil ihres sozialen Kapitals, das
auch die beste Mitgift nicht mehr wettmachen konnte. Dass sich vor
allem Studenten, denen gewiss auch in Göttingen nachgesagt wurde,
sie kümmerten sich mehr um "Skandalieren, Trinken, Spielen,
Bürgermädchen verführen" (Bauer
1926, S.57), sich immer wieder auch an gutsituierte bürgerliche
junge Frauen heranmachten, dürfte Alltag gewesen sein, auch wenn »Friedrich
Christian Laukhard (1757-1822) von ihnen "mit gnädiger und
großgünstiger Erlaubnis" sagt, sie seien "durch die Bank – nicht
schön" und hätten "so etwas Widerliches im Gesicht, welches durchaus
mißfällt, und ihre Farbe, oder der Teint, wie man sagt, ist weit
entfernt von jenen Lilien und Rosen, von denen unsere Herren
Reimemacher so viel zu sagen wissen. Unter den gemeinen Mädchen
findet man auch sehr wenig Rares." Trotzdem, versuchten, die, die
das nötige Kleingeld hatten, auch bei "einem vornehmeren
Frauenzimmer anzukommen" und ihr den Hof zu machen, meistens jedoch
mit wenig Erfolg. Gewöhnlich habe dem "Galan" nichts genutzt, wenn
"der Beutel tüchtig ausgeleert " worden sei. Allerdings konnte es
auch gelingen, was in jedem Fall die bessere Wahl "als eine
gefällige, busenreiche Aufwärterin" gewesen sei.(»Laukhard,
Leben und Schicksale 1, 8. Kap.)
Bürgerliche
Familienväter und -mütter hatten daher stets ihr wachsame Auge auf
die Bewahrung der "Unberührtheit" ihrer Töchter gerichtet, die wie
ein Schatz gehütet wurde, damit sie ihr künftiger Ehemann "»rein und
unschuldig« in seinen Besitz" (Frevert
1986, S.50) nehmen konnte und der sich dabei darauf verlassen
konnte, "dass sie seine Liebhaberkünste voraussetzungslos und ohne
Vergleichsmöglichkeiten genoss." (ebd.)
Dass der meist viele Jähre ältere Bräutigam vor der Ehe Erfahrungen
mit Dienstmädchen oder Prostituierten machen durfte, war hingegen
letzten Endes untadelig. Ein Bürgermädchen zu verführen, und sich
dann aus dem Staube zu machen, war aber etwas ganz anderes, auch
wenn die sozialen Konsequenzen eines solchen "Fehltritts" fast
ausschließlich zu Lasten der Frau gingen.
Ein illegitimes Kind war im Bürgertum der Zeit unvorstellbar und
"wenn schon das Verbot vor- und außerehelicher Sexualität in
bestimmten Kreisen der literarischen Intelligenz nicht mehr geachtet
wurde, blieb das Tabu unehelicher Geburt unangefochten." (ebd.)
Die Folgen des Makels einer unehelichen Geburt hat Caroline später
selbst vor Augen, als sie als Witwe nach einer kurzen ▪
Affäre mit einem französischen
Offizier in Mainz 1782 schwanger wird, die Schwangerschaft bis
zur Geburt weitgehend verheimlicht und das dann geborene Kind
Pflegeeltern abgegeben hat, wo es, so wie es den meisten solcher
Pflegekindern erging (vgl.
ebd.,
S.51), nach wenigen Monaten verstarb.
Die "Sexualnot unter jungen Männern war groß" (Kleßmann
1975, S.21) und wenn sie sich nicht mit der Gastwirtstochter (»filla
hospitalis) oder ihrer "zwar
verheirateten, aber sexuell enttäuschten Vermieterin", vergnügen konnten, die ihnen
– im Studentenjargon der Zeit gesprochen – ihre Dienste hie und da mit "Schwanzdukaten" entlohnten (vgl.
ebd.),
dann hielt man sich an die zahlreichen Dienstmädchen oder ging eben
zu Prostituierten.
Die jungen Dienstmädchen waren oft für ihre Hausherrn, aber vor
allem auch für die vielen Studenten der Stadt das vorrangige Objekt
der Begierde. Von Studenten waren sie wohl leicht "rumzukriegen". Sie
folgten wohl oft in recht naiver Weise der trügerischen Hoffnung,
von ihren studentischen Liebhabern geheiratet zu werden, standen aber
meistens, wenn sie
schwanger wurden, und der Student, nachdem ihm von zu Hause
wegen dieser Angelegenheit der Geldhahn zugedreht worden war, die
Stadt verlassen hatte, mit ihrem unehelichen Kind da.
So erging es vielen dieser jungen Frauen: Von den im Jahre 1793
in Göttingen 362 verzeichneten Geburten waren 103 unehelich. (vgl. Koerner
1989, S.25) Allerdings gehörten dazu auch etliche Geburten von
Frauen, die von außerhalb als Schwangere nach Göttingen
kamen, um in dem 1791 auf Initiative des Arztes »Friedrich
Benjamin Osiander (1759-1822) Göttinger »Accouchierhaus
(Entbindungshaus) ihr Kind zur Welt zu bringen.
Auch wenn die
Entbindungsanstalt offenbar erheblich bessere hygienische
Bedingungen bot als die Orte, an denen Kinder sonst oft geboren
wurden und grundsätzlich allen schwangeren Frauen offenstand, wurden
die gebärenden Mütter von Osiander zu Versuchsobjekten degradiert,
an denen der Professor der Medizin vor der versammelten Mannschaft
seiner Medizinstudenten ohne jede Rücksicht auf eine medizinisch
begründete Indikation seine Zangengeburtstechnik entweder vorführte
oder die Anwendung der Geburtszange durch Studenten beaufsichtigte.
(vgl.
ebd., S.25f.) Es ging hier also nur am Rande um die gebärenden
Mütter, aber schon gar nicht um deren Bedürfnisse. Studenten und
Hebammen auszubilden, war das eigentliche Ziel, das im Göttinger
Accouchierhaus verfolgt wurde. Nach der Geburt
kamen viele der dort geborenen unehelichen Kinder zu Pflegeeltern.
Über die Zahl der unter schlimmsten Verhältnissen vorgenommenen
Abtreibungen, die Dienstmädchen aus verschiedenen Gründen vornahmen,
ehe sie die Dienste Osianders und seiner Studenten überhaupt
beanspruchen konnten, gibt es keine verlässlichen Daten.
Wenn "Mann" keines der ledigen Dienstmädchen fand, die zu
Hunderten nach Göttingen kamen, um als Näherinnen, Wäscherinnen oder
als Hausbedienstete in den Haushalten der wohlhabenden Bürgerinnen
und Bürger der Universitätsstadt zu arbeiten (Koerner
1989, S.60), ging man eben auch zu Prostituierten.
Der Student
Johann Nikolaus Becker nahm 1798 dazu in seinen Reisebeschreibungen
kein Blatt vor den Mund, als er der Einrichtung eines festen
Bordells in Göttingen, rein wirtschaftlich betrachtet, wenig Chancen
einräumte, weil es gefällige Aufwärterinnen giebt, die wohlfeiler
und heimlicher zu haben sind als die Mädchen in so einem Hause." (Becker
1798/1985), zit. n.
Kühn 1987,
S.180f.)
Die jungen Frauen, die sich prostituierten, taten dies aus unterschiedlichen Gründen.
Etliche von ihnen waren ja von ihren feinen bürgerlichen Hausherren
vergewaltigt und geschwängert worden, und dann, nachdem sie von diesen
geschwängert worden waren, mit Schimpf und Schande aus dem Haus
gejagt oder zumindest entlassen worden. Sie sahen danach kaum eine
andere Möglichkeit, sich und ggf. ihr uneheliches Kind durchzubringen.
Zudem
lastete auf ihnen auch noch die soziale Verachtung derer, die ihre
sexuellen Bedürfnisse rücksichtslos an ihnen befriedigt hatten, wie an
einer Bemerkung von Gottlieb Christian Heinrich List 1785 mehr als
deutlich wird: "Viele ledige Weibs-Personen, wenn ihnen das Dienen
nicht weiter gefällt, setzen sich auf ihre eigene Hand, ziehen bey
leichtgesinneten Leuten zu miethe ein, und suchen sodann quaestum
corporis zu treiben, sich auf solche Arth zu ernehren. ... Sie
affiniren recht darauf, wie sie diesen oder [jenen] jungen Menschen
an sich locken, zu ihren bösen Absichten zu verleiten und um Zeit,
Geld und um die bisherige unschuldige Aufführung bringen mögen."
(zit. n.
Kühn 1987, S.180)
Der strukturelle Frauenüberschuss in Göttingen, das 1767 6.365
ständige Einwohner zählte (Koerner
1989, S.60, dort Bezugnahme auf:
Sachse 1989,
S.208) ging vor allem auf das Konto der zwischen 15- und 25-jährigen
zuziehenden Dienstmädchen. Er war mit 510 Frauen (1766) doch beachtlich,
blieb aber bei vergleichsweise großer Fluktuation, weil die jungen
Frauen auch
immer wieder abwanderten, bis Ende des 19. Jahrhunderts auf einem
hohen Niveau. Er relativiert sich aber, wenn man die vielen Hundert
männlichen Studenten (mit »947
Studenten erreichte ihre Zahl im Sommersemester 1781 die Höchstzahl
im 18. Jahrhundert) und die Soldaten der Garnison zur männlichen,
allerdings nicht ständig in der Stadt wohnenden Bevölkerung
hinzurechnet.
Wer als Mann seine sexuellen Bedürfnisse nicht mit einem
Dienstmädchen befriedigen konnte, ging zu Prostituierten in die Turmstraße, in die »Klein-Paris
genannte, völlig heruntergekommene Gegend der Stadt, wo neben
kleineren Handwerkern, Tagelöhnern und Arbeitslosen, die dort in
äußerst beengten und katastrophalen hygienischen Verhältnissen
hausten (vgl.
Reincke
2012/2013, dort Bezug auf
von Frieling 1988, S. 18-31), auch Frauen der Prostitution
nachgingen, um wenigstens das Nötigste für ihren Lebensunterhalt
zusammen zu bekommen. Dort wohnten auch viele der ihrem Schicksal
überlassenen und von ihren ehemaligen Herren missbrauchten und jetzt
zur Prostitution gezwungenen ehemaligen Dienstmädchen. In Häusern, welche "mehr
Schweineställen als Menschenwohnungen ähnlich" (Hochheimer
1791, zit. n.
Reincke
2012/2013) verrichteten sie ihre "Sexarbeit" und wurden dafür noch mit
Verachtung durch ihre Kunden, ganz zu schweigen, von der durch die
bürgerliche Gesellschaft insgesamt, bestraft. Sie bezahlten die
Zeche mit Geschlechtskrankheiten und anderen Infektionskrankheiten
wie Diphtherie, Scharlach und Maser, die in den heruntergekommenen
Straßen grassierten. Und sie gaben ihren studentischen Kunden auch
einiges davon mit, die aber, im Gegensatz zu ihnen, ihre
"Galanteriekrankheiten" soweit behandeln lassen konnten, wie es in
der Zeit eben möglich war.
Angesichts dieser Lage war es wohl auch das voraussehende Kalkül des Vaters, mit der
Entsendung seiner ältesten Tochter Caroline in Pensionat nach
Göttingen die sittlichen Untiefen der Göttinger Universitätsstadt
großräumig so lange zu umgehen, bis die Tochter sittlich gereift ins
Heiratsalter kam.
Dass ein solches strategisches Denken von Vorteil war, zeigte sich
am Beispiel seiner Tochter Charlotte Wilhelmine (1766-1793),
genannt Lotte, Carolines drei Jahre jüngeren Schwester, die sich
1779 als Dreizehnjährige in den im Michaelishaus wohnenden Juristen Pedro Hockel
verliebte. (vgl. Roßbeck
2009, S.27)
Die offensichtlich besonders frühreife Lotte, die von
Caroline als eitel, affektiert-empfindsam, leichtsinnig, mit einer
Vorliebe für ein Leben in den Tag hinein, im Ganzen als "eine
äußerst gefährliche Mischung für ein junges Mädchen, das nicht ohne
Schönheit ist" (zit. n.
Kleßmann
1975, S.46) beschrieben wurde, war nicht nur nach Ansicht ihrer
Schwester drauf und dran, eine Dummheit zu machen.
Überraschend kam dies sicher auch für ihre
Schwester nicht, die bei aller Forschheit, die sie sonst zeigen
konnte, in solchen Dingen eher zurückhaltend war. Sie hatte
schließlich, auch wenn sie dies gewiss klar missbilligte, immer
wieder mitbekommen, wie "die frühreife Lotte den unter ihrem
Zimmerfester auf und ab patroullierenden Studenten ganz offen
eindeutige Zeichen machte" (Roßbeck
2009, S.27), mit zugeworfenen Handküssen kokettierte, "anstatt,
wie es sich für ein Mädchen ohne Fehl und Tadel gehörte, halb
versteckt hinter den Gardinen nur einen flüchtigen Blick zu
riskieren." (ebd.)
So war es vielleicht in ihren und den Augen ihrer Eltern nur eine
Frage der Zeit, bis "es" passieren würde, und: mit gravierenden
Folgen für das dann "entehrte" Mädchen, aber auch für ihre Familie.
Für einen adeligen Liebhaber wäre das ohnehin folgenlos geblieben,
wenn eine Frau "niederen" Standes geschwängert wurde. Aber in
bürgerlichen Kreisen war eine Mutter mit einem unehelichen Kind
untragbar und wurde mit sozialer Verachtung und Ausgrenzung
bestraft. Und die Aussicht, dass ein bürgerlicher Student, der als
Folge einer vorehelichen Affäre dieser Art, die im Übrigen als
Unzucht strafbar war, aber selten wirklich verfolgt wurde, die von
ihm geschwängerte Geliebte schnell heiraten hätte können, waren
gering. Entweder standen dem gesetzliche Regelungen entgegen (in
Jena durften die Studenten einfach nicht heiraten) oder die Eltern,
die vielleicht schon lange eine andere Heiratskandidatin für ihren
auf ihre Kosten studierenden Sohn ausgesucht hatten, hätten die
ihnen zukommende Einwilligung für eine solche Ehe verweigert. Da
Alimente nicht zu bezahlen waren, konnte sich jeder Liebhaber so
wieder mehr oder weniger ungeschoren aus dem Staub machen. Das
Risiko einer ungewollten Schwangerschaft und ihre sozialen Folgen
lagen einzig und allein auf Seiten der Frau, und auch ihrer Familie.
Lotte stand also früh schon an einem Scheideweg ihres
Lebens und niemand weiß, ob sie sich als ganz und gar sexuell
unaufgeklärtes Mädchen auch mit ihrem Schwarm sexuell
eingelassen hätte. Ihre Schwärmerei machte aber nicht allen Sorgen.
Von »Therese
Heyne (1764-1829), der immer in einer Spannungsbeziehung zu ihrer
Freundin und Konkurrentin Caroline Michaelis stehenden
Professorentochter, ist bekannt, dass sie Lotte gegen den ausdrücklichen
Willen der Michaelis-Eltern und Carolines Lotte darin unterstützt
hat.
So schickte Vater Michaelis, als sich das Ganze hinzog, auch Lotte
in das Mädchenpensionat nach Gotha, von wo sie erst wieder nach
Göttingen zurückkehrte, nachdem Pedro Hockel, sehr zur Erleichterung
von Caroline, im Dezember 1781 die Stadt verlassen hatte. (Kleßmann
1975, S.45f.)
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Lotte es aber kurz nach
ihrer Ankunft im Gothaer Internat auch noch in Gotha schaffte,
"Madame Schläger auszutricksen" (Roßbeck
2009, S.288, Anm. 46) und sich noch einmal mit Pedro Hockel zu
treffen, ohne dass dies allerdings zu weiteren Verwicklungen führte.
Wie schnell man mit einer solchen Affäre, dazu
noch mit einem "übel beleumundeten Studenten" "Stadtgespräch"
werden, war der weitaus mehr auf ihre Sittsamkeit bedachten Caroline
sicher eine Lehre. Und wie schnell man, wenn so eine Angelegenheit
erst einmal in aller Munde war, ohne einen Grund dafür geliefert zu
haben, in einen Topf geworfen werde konnte, machte ihr wirklich zu
schaffen. Schlimm genug, dass Lotte allerorten als "kleiner Teufel"
bezeichnet wurde. Dass aber Leute, die es angeblich ganz genau
wissen wollten, davon sprachen, dass Lotte im Vergleich mit ihrer
älteren Schwester noch gar nichts sei, hat sie bestimmt verletzt und
vielleicht auch ihre Entscheidung, sich
1782 mit dem Nachbarsohn,
ihrem späteren ersten Ehemann,
Franz Wilhelm Böhmer (1754-1788), zu verloben begünstigt.
Im Mädchenpensionat in Göttingen lernen
die Mädchen sämtliche
Handarbeiten kennen, hier entwickelt sich auch Carolines Fähigkeit,
schöne Stickereien anzufertigen, die ihr später ▪
während ihrer Mainzer Zeit
(1793/93) einmal helfen werden, sich finanziell über Wasser zu
halten. Die Mädchen sollen im Internat in ihrer weiteren "sittlichen" Entwicklung so
gefördert werden, dass sie ihrer weiblichen "Bestimmung" später
gerecht werden konnten. Von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends
wurde ihnen alles, was eine Frau zur Führung eines bürgerlichen
Haushaltes wissen musste, dazu Handarbeiten und Schneidereien,
beigebracht. Wenn es von den zahlenden Eltern gewünscht war, konnten
auch musische "Fächer", z. B. Tanzen, Musizieren oder auch Zeichnen
dazukommen. Caroline findet in der drei Jahre älteren
Luise Stieler, später verheiratete Gotter (1760-1826)
in Gotha eine lebenslange Freundin. Luise
wird 1780, im Alter von zwanzig Jahren, drei Jahre nachdem Caroline
Gotha verlassen hat, den Geheimen Rat und Schriftsteller »Friedrich Wilhelm Gotter
(1746-1797)
heiraten, wobei auch bei dieser Ehe wenig Zuneigung im Spiel gewesen
ist.
Rückkehr Carolines nach Göttingen 1771
Nach drei Jahren kehrt Caroline im Sommer 1777 aus dem
Mädchenpensionat im Alter von fünfzehn Jahren in ihre Heimatstadt
zurück. Gotha bleibt aber stets »das Vaterland [ihres] Herzens«
(Brief an Gotter 7.4.1785,
Waitz 1871,
S.16)
Sie ist jetzt "eine aufs Ganze gesehen höchst erfreuliche
Erscheinung" (Roßbeck
2009, S.28), vielleicht nicht unbedingt, das was man als
Schönheit in dieser Zeit begriffen hat. Der Maler »Friedrich
Tischbein (1750-1812), der einige der "Reichen und Schönen"
seiner Zeit porträtiert hat, sagte von ihr: "Sie war gar nicht
schön, kaum hübsch, aber ihre nette, gewandte, kleine Gestalt war
graziös, wie ihr ganzes Wesen, und in dem von Pockennarben etwas
beschädigten Antlitz lag so viel Einnehmendes, in ihren [dunklen,
dezent schielenden] Augen leuchtete so viel Geist, und ihre Lippen
zeigten, wenn sie sich öffneten, so schöne Zähne, daß man die
maßlose Neigung ... vieler Männer begriff." (zit. n.
Roßbeck
2009, S.28)
Caroline hatte offenbar eine Ausstrahlung, die einen aufmerksamen
Beobachter nicht verkennen ließ, dass es sich bei ihr um eine
intelligente junge Frau mit einem über das Übliche hinausgehenden
Horizont handelte. Das hatte auch seinen Grund.
Den schon von klein
auf, klebte sie wohl schon an den Lippen der Eltern, wenn, wie sonst
in solchen Kreisen auch, vorgelesen wurde. Wie hoch die Zahl derer
war, die in Göttingen zu dieser Zeit lesen und schreiben konnten,
ist nicht ganz klar. Man schätzt dass Anfang der 1760er Jahre gerade
Mal ein Viertel der Bevölkerung war (Roßbeck
2009, S.19f.) Feststeht jedenfalls, dass der Rat der Stadt Ende
November 1775 anordnet, dass nach Michaelis 1776 bei den Gilden kein
Lehrling mehr eingestellt werden dar, der nicht lesen und schreiben
kann.
Als Caroline selbst lesen und schreiben konnte, hat sie jedenfalls
die Bücher verschlungen,
die im wohlsortierten Bücherschrank ihres Vaters ihr Interesse
fanden und hat sich wohl auch aus der ein oder anderen
Leihbibliothek mit Lesefutter versorgt. Aber auch in der gerade gegenüber der Straße
liegenden Universitätsbibliothek findet sie allerlei triviale
"Herz-Schmerz-Geschichten" (ebd., S.20), die
ihre Fantasie anregen und die Gemütswelt des adoleszenten Mädchens
ansprechen.
Es sind also die neuen Lesestoffe, die es Caroline
angetan haben, weniger Klassiker und auch wohl nicht die
altherkömmlichen "wie Kalenderliteratur, Katechismus, religiöse
Erbauungsliteratur und die Bibel" (vgl.
Schneider 2015,
S.751), deren Lektüre sich bei ihr zu einer ausgeprägten Leseleidenschaft
entwickelte, die von Zeitgenossen, wenn sie Frauen betraf,
herabsetzend gern als "Lesewut" bezeichnet wurde.
Was sie auf
jeden Fall besonders liebte, war das von
Christian Felix Weiße (1726-1804) von 1775 bis 1882 in 24 Bänden
erschienene Wochenblatt
»Der Kinderfreund, in dem der Herausgeber der ersten
Kinderzeitschrift auf deutschem Boden den Kindern Ratschläge für ein
an Glaube und Sittlichkeit orientiertes Leben gab. Zugleich
enthielt die Zeitschrift aber auch Unterhaltendes wie Rätsel und kleinere
Theaterstücke zum Nachspielen und Rezitieren, ohnehin einer der
großen Leidenschaften von Caroline, wie z. B. "Der Geburtsthag. ein kleines Lustspiel für Kinder in einem Aufzuge" (4.12.1775), indem ausgerechnet auch noch die pfiffige Tochter ihren
Geburtstag feiernden Bruder, der sich mit einem Degen gegenüber den
anderen Knaben seiner Geburtstagsgesellschaft aufspielen will, vor
Dummheiten bewahrt.
Dabei sollten Frauen,
die in der patriarchalischen Gesellschaft der Zeit, zumindest in
bürgerlichen Kreisen, auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter festgelegt
waren, durch Lesen nicht "gelehrt, allenfalls gebildet" (Schneider 2015,
S.752) werden. Daran orientierte sich auch das Lektüreangebot und die
Lektüreempfehlungen, die allenthalben erteilt wurden, um eine, wo es
möglich war, ins Rollenbild passende "Frauenzimmerbibliothek"
zusammenzustellen. Zu solchen, auch als "Damenbibliotheken" bezeichneten,
häuslichen Sammlungen sollten vor allem Schriften gehören, die eine
tugendhafte Lebensführung thematisierten oder anderweitig Untadeliges in
populärwissenschaftliche oder populärphilosophischen Texten zur Papier
brachten.
Hinter den
moralisierenden Bewertungen weiblichen Lesens durch die Männer, steht
dabei stets die Angst, Frauen, die lesen, könnten auch die patriarchalischen
Geschlechtsbeziehungen hinterfragen und aus den ihnen zugewiesenen Rollen
ausbrechen. Aus diesem Grunde hat man wohl noch im 18. Jahrhundert in
die Einbände mancher Romane Faden und Nadeln eingelassen, um die Frauen
daran zu erinnern, was ihre eigentliche Bestimmung sei: "nicht lesen,
sondern den Haushalt in Ordnung halten. Lesen ist verschwendete Zeit,
verschwendetes Geld, und wer weiß, wohin das führt - eigene Ideen,
Aufruhr, erotische Phantasien, ja, sonst noch was." (Heidenreich
(2007, S.15) Trotzdem: Aus welcher Ecke die moralisierenden Einwände gegen das
Lesen, insbesondere das weibliche Lesen auch kamen, sie konnten "den
Siegeszug des Lesens, auch und gerade des ▪
weiblichen Lesens, nicht
aufhalten."
(Bollmann
2007, S.25)
Neben dem Lesen
gehörte das Theater zu wichtigsten Freizeitvergnügen der jungen
Frau. In Göttingen waren dies vor allem "billige Possen,
Klamaukstücke und Schmachtfetzen" (Kleßmann
1975, S.38), die es auf die Bühne brachten. Man spielte, was
gefiel, und lieferte dem Publikum, das oft Abend für Abend oder
zumindest mehrmals in dasselbe Stück ging, den Rahmen für einen
geselligen Abend.
Was gespielt wurde, waren damals große
Publikumserfolge in den Groß- und Kleinstädten des Reiches, wie z.
B. Nicht mehr als sechs Schüsseln. Ein Familiengemälde in fünf
Aufzügen von
»Gustav Friedrich Wilhelm Großmann (1746-1796) (das Goethe
offenbar besonders hasste): Die Jagd, ein Singspiel von
»Christian Felix Weiße (1726-1804) oder ähnliche Rührstücke von
»Joseph August von Törring-Cronsfeld (1753-1826) und
»Karl Martin Plümicke (1749-1833), sowie Die Liebe nach der
Mode oder der Eheprokurator, ein Lustspiel von
»Christoph Friedrich Bretzner (1748-1807) u. ä. m.
Letzteres war eine
Geschichte um die Liebe zwischen einem mittellosen Studenten und
seiner unter der Vormundschaft eines professionellen
Heiratsvermittlers stehenden Angebeten. Dieser Eheprokurator, »hat die genaueste
Kenntnis aller heirathsmäßigen Jungfern und Witwen der Stadt, und
des ganzen umliegenden Kreises und für Geld kannst Du bey ihm eine
Gallerie Dames, mit allen ihren Qualitäten und Quantitäten
aufgestellt sehen, dass einer auf meine Ehre der unempfindlichste
Kloß auf der Welt seyn müßte, wenn er nicht Lust kriegte anzubeissen.«
Alles in allem eine Handlung, die das Geschacher zwischen den in
Frage kommenden Eheaspirant*innen und dem Heiratsvermittler bei der
Anbahnung möglichst lukrativer Ehen mit zahlreichen Verwicklungen als
Lustspiel inszeniert.
Solche
Theaterstücke werden in Göttingen also vor allem gespielt und
gehören zu dem, was Carolines Sozialisation auch ausmacht. Wenn Caroline das Stück gesehen hat, wurde ihr
sicher bewusst, welche Sicherheit eine sorgsam ausgewählte
Konvenienzehe, ohne solches Geschacher, bieten konnte. Mit achtzehn
Jahren war sie in einer Zeit, in der Frauen Ende zwanzig schon als
alte Jungfern gelten konnten, inzwischen im besten heiratsfähigen Alter.
1781, mit achtzehn
Jahren kennt Caroline »Johann
Wolfgang von Goethes (1749-1832) Briefroman »Werther,
der ja schon 1774 auf dem Markt ist und insbesondere bei Leserinnen
wie ein Bombe eingeschlagen hat. Auf sie scheint der Roman
allerdings keine große Wirkung gehabt zu haben, auch wenn sie in
einem Brief an Luise Gotter Ende Oktober 1781 einräumt, dass er »so
romanhaft (ist)«, einem die Handlung beim Lesen wirklich natürlich
erscheine, »wenn man sich nur mit ein bischen Einbildungskraft
hineinphantasiert.« (Schlegel-Schilling,
Die Kunst zu leben 1997, S.96). Vom Wertherfieber jedenfalls
scheint die junge Frau, die von sich selbst in einem Brief an ihre
Freundin Luise Stieler (1760-1826 aus
Gotha sagte, sie sei »keine Schwärmerin, keine Enthusiastin« und was
sie bewege, sei "das Resultat [...] bei kaltem Blut angestellte(r)
Überlegung« (zit. n. Kleßmann
1975, S.39) nicht angesteckt worden zu sein. Von ▪
Friedrich Schiller (1759-1809)
kennt sie vom Lesen sein ▪
Stum-und-Drang Drama ▪
Die Räuber
(1781) und auch Goethes Trauerspiel
Stella (1775) ist ihr bekannt.
Mädchen wie
Caroline Michaelis, die so gar nicht recht in das traditionelle Bild
passen wollten, wurden in Göttingen etwas abschätzig »"Universitätsmamsellen"
genannt. Sie waren allesamt Töchter anerkannter Professoren, zu
denen außer »Caroline
Michaelis (1763-1809), »Therese
Heyne (1764–1829), »Philippine
Gatterer (1756–1831),
»Meta
Wedekind (1765-1853) und »Dorothea
Schlözer (1770–1825)
gehörten, die sich alle gut kannten und ihr ganzes Leben in
unterschiedlichem Ausmaß miteinander verbunden geblieben sind.
Alle
waren sie "umfassend gebildete, mit soliden Kenntnissen der
französischen und deutschen Literatur ausgestattete Intellektuelle"
(Alt,
Bd. II, 2004, S.321), von denen sich »Philippine
Gatterer ( ab 1780 verh. Engelhard) literarisch als »Lyrikerin
einen Namen machen konnte, Caroline und Meta Wedekind sehr
erfolgreiche und produktive Übersetzerinnen wurden und die
hochbegabte und von ihrem Vater vom Kindesalter an intensiv
geförderte »Dorothea
Schlözer (1770–1825)
konnte sogar 1787 im Alter von gerade mal 17 Jahren auf Initiative
von Carolines Vater. »Johann
David Michaelis (1717-1791) als erste Frau in Deutschland einen
Doktortitel in Philosophie nach einer über dreieinhalb Stunden dauernden Prüfung in
zahlreichen Fächern erwerben. Auch wenn sie ihre Promotion nur mit
»rite (also
mit der schlechtesten Note) abschließen konnte, eine weitere
akademische Karriere für eine junge Frau ohnehin nicht möglich war,
hat der Doktortitel, und das klingt angesichts der Tatsache, dass
ihre Promotion doch eine herausragende Sache war, ziemlich
ernüchternd, "der Demosielle jedenfalls für das weitere Leben
sicherlich nicht geschadet."
(Appel
2013, S.31)
In ihren jungen
Jahren brüstete sich die junge Frau aber nicht mit ihrer Begabung
und ihren Kenntnissen und unter Männern vermied sie es, so weise war
sie, "mit gelehrten Brocken ums sich zu werfen", ohne ihr Licht
gänzlich unter den Scheffel zu stellen. (Christian von Schlözer 1828, Bd.
1, S.317)
Caroline und die "Blaustrümpfe"
Caroline, die später doch selbst "zur großen Lebensverwirklicherin"
werden sollte, "die die Grenzen durchbrach und gegen alle üble
Nachrede dafür stand, authentisch zu leben"
(Appel
2013, S.28),
konnte aber in dieser Phase ihres Lebens mit außergewöhnlichen
Frauen – Rousseau hatte von ihnen als "Blaustrümpfe
und Schöngeister" gesprochen, die sich nicht in das eigene Korsett vorbestimmter
Lebensläufe als Ehefrau und Mutter zwängen lassen wollten – wenig
anfangen. Was sie von ihnen mitbekam oder was ihr über sie
zugetragen wurde, passte in dieser Zeit nicht zu dem, wie sie ihre
zukünftige Rolle als Ehefrau und Mutter zu sehen gelernt hatte.
Und doch: In ihren Briefen bis etwa 1788 betet sie immer wieder an
"Gemeinplätzen des Aufklärungsstils" orientierte
"Schicklichkeitsregeln" (Damm
1978/1997, S 19) herunter, die den Geist der Aufklärung "auf
handhabbare Lebensregeln des Kleinbürgertums (verwandelt und
reduziert)", "drapiert sich mit Ansichten von Tugend und Vernunft,
trägt sie als Phrasen vor" (ebd.)
Mag das Urteil auch so hart
ausfallen, all das ist nichts wirklich Außergewöhnliches für eine
heranwachsende junge Frau, die in diesem Alter beginnt, neue und
reifere Beziehungen zu Altergenossinnen beiderlei Geschlechts
aufzubauen, die ihr zugewiesene weibliche Geschlechtsrolle zu
übernehmen, ihren eigenen Körper so zu akzeptieren, wie er ist, eine
emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsenen zu
erreichen, Selbstbewusstsein zu entwickeln und sich dabei
seiner eigenen Stärken und Schwächen mit eigenen Wertmaßstäben
bewusst zu werden und sich auf die eigene Ehe und Familie
vorzubereiten. Ein widersprüchlicher Prozess der Selbstfindung auch
im 18. Jahrhundert.
Bei den kritischen Urteilen, die Caroline über Frauen, die
die herkömmlichen Erwartungen nicht erfüllten, zeigen , wie weit sie
bestimmte Rollenerwartungen schon internalisiert hat und mit welchen
Argumenten sie diese Vorstellungen und das damit zusammenhängende
eigene Selbstbild zur Deckung bringen will. Zugleich ist aber auch stets
herauszuspüren, dass sie damit auch einige Wünsche verdrängte und kompensierte.
Das
zeigte sich schon im Sommer
1781, als sie den Besuch ▪
Herzog Carl Eugens von Württemberg(1728-93) in Begleitung seiner
seit Jahren offiziellen Mätresse
»Franziska von Hohenheim (1748-1811) und einer großen
Hofgesellschaft Göttingen kommentiert.
Der württembergische Fürst reiste nach dem Tode seiner seit 24
Jahren von ihm getrennt lebenden Frau »Elisabeth Friederike von
Brandenburg-Ansbach (1732-1780), die aber bis zuletzt die rechtmäßige
Herzogin von Württemberg gewesen war, im Sommer 1781 mit einer
großen Hofgesellschaft nach Göttingen, um offenbar weitere
Anregungen für seine eigenes pädagogisches Projekt an seiner ▪
Karlsschule zu erhalten, deren Erhebung zu einer Schule mit
universitärem Rang unmittelbar bevorstand. In Göttingen macht er
allen Fakultäten der Universität einen Besuch, verschafft sich einen
Eindruck von Universitätsbibliothek, hört sich Vorlesungen und
gelehrte Disputationen an. Wie Caroline eine Freundin in einem Brief
wissen lässt, habe ihn Franziska von Hohenheim oft dabei begleitet,
sich aber sonst im Gasthof gelangweilt.
Fürst und Mätresse, das war in den Augen Carolines moralisch
untragbar, vor allem wenn ein solches Verhältnis sogar mit
gemeinsamem Reisen öffentlich ausgelebt wurde. So trifft beide
gleichermaßen, was Caroline zu sagen hat: »Jeder, der sie gesehn
hat, macht die reizendste Beschreibung von ihr, sie soll nicht
schöhn, aber im höchsten Grad annehmlich gelehrt, voller Einsicht
und Verstand seyn.« heißt es zunächst, um es aber sogleich als
adelige Attitüde abzutun: »Gelehrsamkeit ist jetzt so ein
Steckenpferd, daß es ihn lächerlich und zum Pedanten macht.«
Dass eine Zuneigung zwischen beiden bestehen könnte, die sie
veranlasst haben könnte, das in Carolines Augen wohl unmoralische
Verhältnis miteinander einzugehen und über ein Jahrzehnt
aufrechtzuerhalten, kommt für sie allein schon wegen der
Unattraktivität des Herzogs überhaupt nicht in Frage: »Er
ist häßlich {...} Wilst du ein Bild, so stell Dir einen großen und
nicht magern Mann, mit einem rothen Angesicht, großer Nase nebst
kleinen ditos drauf, große hervorstehende Augen, einen braunen
kurzen Rock, schwefelgelbe Weste, so lang, daß man die
schwarzatlaßne Beinkleider, über die graue Strümpfe nach alter Mode
gewickelt waren, kaum sah, denn Weste und Strümpfe stießen zusammen
mit Fischbein steif gemacht, den Gang eines alten Greises vor."
Das äußere Erscheinungsbild des Fürsten korrespondiert dabei für sie
eindeutig mit seiner gelebten Doppelmoral: »Tugend und Religion
ist jetzt sein drittes Wort, er, der Unterdrücker weiblicher Tugend,
der Zerstörer der Ruhe so mancher Familie, der Verläugner seiner
Religion, wenn sie aus Thaten besteht, wagts diese beiden heiligen
Namen zu misbrauchen. O er ist mir verhast!« Und: Obwohl seine
Untertanen wünschten, er solle Franziska heiraten, scheue er
weiterhin davor zurück, weil er offenbar weiterhin alle Optionen
haben wolle. Und Franziska, Caroline spricht es nicht aus, bleibt -
was könnte es anders sein - aus reinem Eigennutz bei ihrem
hässlichen Kerl.
Waren es im Falle von Herzog Carl Eugen und Franziska von Hohenheim
vor allem die bürgerlichen Wertvorstellungen, die Caroline der
Unmoral der hohen Adeligen entgegenhält, von der man sich
schließlich im Bürgertum allgemein distanzierte, ging die Kritik an
Frauen, welche die herkömmlichen Erwartungen bürgerlichen
Erwartungen nicht erfüllten, an die eigene Substanz.
Aber Caroline stand mit solchen Auffassungen nicht allein. Nicht
selten "absolvierten" genau diese außergewöhnlichen Frauen zunächst das
bürgerliche Pflichtprogramm einer Ehefrau und Mutter in einer
Konvenienzehe, verwehren sich in einer Art Abwehrreaktion
gegen längst vorhandene Bedürfnisse, sich genau diesem zu verweigern
und verteidigen diesen konventionellen Lebensentwurf
nach außen hin immer wieder entschieden, ehe es ihnen in einer
weiteren Lebensphase gelingt, sich mehr oder weniger stark davon zu
distanzieren und so etwas ein eigenes Leben zu leben.
Das
war auch bei Caroline Michaelis nicht anders, wie sich z. B. in den
Urteilen der knapp Achtzehnjährigen über die hochbegabte, sieben
Jahre jüngere »Dorothea
Schlözer (1770–1825), die Tochter des Göttinger
Professors für Staatsrecht »August
Ludwig von Schlözer (1735-1809), und die russische Fürstin »Amalia
von Gallitzin (1748-1806), die sich im Jahr 1781 in Göttingen
aufhält.
Dass die sieben Jahre jüngere Dorothea, die im Übrigen später auch
auf dasselbe Mädchenpensionat in
Göttingen ging wie sie selbst, im Alter knapp 12 Jahren
ihren Vater im Rahmen seiner Reisegesellschaft ohne weibliche
Begleitung 1781/82 auf eine mehrmonatige Reise nach Italien, dem
Traumziel allen Fernwehs der Zeit schlechthin, begleiten durfte,
ging ihr gegen den Strich und sie teilte die Vorbehalte, die viele
Göttinger Bürgerinnen und Bürger gegen eine solche Reise und vor
allem die Teilnahme eines jungen Mädchens in einer ansonsten nur aus
Männern bestehenden Reisegesellschaft vorbrachten (vgl. Kleßmann
1975, S.48). Vielleicht war Carolines Kritik daran, aber auch nur
Ergebnis ihrer eigenen
Enttäuschung, darüber das sie nicht selbst mitreisen durfte, und
zeugt auch von dem Neid auf Dorothea. Die "Lustreise" des Professors mit
seiner Tochter war schließlich Stadtgespräch in Göttingen und
Caroline hat mit ihrer Meinung dazu wohl nur dessen Tenor aufgegriffen.
Eine solche Reise war in den Augen vieler Menschen in Göttingen
nämlich eine echte
»Donquichottiade« (Christian
von Schlözer (1828) Bd. 1, S.277). Zudem war die brutale Ermordung »Johann
Friedrich Winckelmanns (1717-1768), der maßgeblichen Stimme des
»Klassizismus
in Deutschland, am 8. Juni 1768 »während
seiner Italienreise in Triest vielen Zeitgenossen offenbar
noch in guter Erinnerung geblieben.
»Der eine drohte daher«, so erinnert sich der Sohn Professor
Schlözers,
»mit [...] italienischen Dolchen; der Andere mit dem Klima; der
Dritte mit der Inquisition. Am meisten machte man es Schlözern zum
Vorwurfe, dass seine zwölfjährige Tochter den Gefahren und
Mühseligkeiten jener Reise aussetze; denn diese, darüber war nur
eine Stimme, würde wegen ihres hübschen Äußern sicherlich von
Zigeunern oder Seiltänzern geraubt werden.« (Christian von Schlözer 1828,
Bd. 1,
S.277f.)
Der Klatsch der anderen
Göttinger Professorenfrauen traf dazu auch die Mutter von Dorothea.
Scheinheilig lästerten die anderen immer wieder, »sie würden
es nicht zugeben, daß ihre Männer sie auf eine solche Art in Angst
und Unruhe setzten.« (ebd.,
S.278.)
Auf der Reise in den Süden will der Vater in einem Brief vom 13.
Oktober 1781 aus Nürnberg seine Frau offenbar beruhigen, als er
schreibt:
»Mit der Dortchen bin ich auch zufrieden. Sie hat nur einen schweren
Stand, daß sie nicht zur Thörin wird, denn was ihr die Leute
schmeicheln , ist unaussprechlich, wegen ihrer Schönheit (davon wußte ich, weiß Gott, in Göttingen nichts.); 2. wegen ihres gesunden
Aussehens und dreisten (aber doch nicht frechen) Wesens; 3. wegen
ihrer Kenntnisse; 4. weil sie fein Deutsch spricht.« (ebd..,
S.281)
Dass so eine Reise allerorten Neider auf den Plan rief, war dem
Göttinger Professor für Staatsrecht »August
Ludwig von Schlözer (1735-1809) bewusst. Trotzdem war er davon
überzeugt, dass ihm das am Ende nicht schaden würde. Daher war er auch
entschlossen, aus der Reise soziales Kapital zu schlagen. So lässt er seine
Frau am 20. Dezember 1781 aus Venedig wissen: »die Göttingerinnen
sollen lange von meiner Reise sprechen« (ebd.,
S.295). Vor allem seine Rückkehr aus Italien sollte als großes
gesellschaftliches Ereignis inszeniert werden.
Aus »Neuchâtel kommt im Ende März 1782 die Nachricht, dass die
Italienreisenden am 12. April in Kassel ankommen
werden. »August
Ludwig von Schlözer (1735-1809) erwartet dort neben seiner Gattin
auch einen großen Bahnhof, darunter vielleicht auch die Familie
Michaelis, in jedem Fall »je mehr, je besser« (ebd.,
S.314). Als die Reisegesellschaft dort ankommt, sind nicht nur
Dorotheas Mutter mit ihrem Sohn Christian vor Ort, sondern in ihrer
Begleitung auch
Caroline Michaelis sowie etwa ein Dutzend seiner Studenten, die »in Kabriolet und zu Pferde« auf die vierundzwanzig Stunden verspäteten
Heimkehrer*innen warten, sie unter großem Jubel begrüßen und dann
nach Göttingen zurück eskortieren (ebd.,
S.325), wo die Reiserückkehrer von über 100 begeisterten Göttingerinnen und Göttingern
begrüßt werden. (vgl.
Schlegel-Schilling, Die Kunst zu leben 1997, S.99, vgl. Kleßmann
1975, S.50) Ein "Event", und Caroline mittendrin.
Gewiss war das, was Dorothea Caroline von ihrem italienischen
Abenteuer zu erzählen hatte, mehr als
spannend, zugleich brach damit aber bei Caroline eine alte, kaum
vernarbte Wunde auf. Wie gerne wäre sie selbst die weibliche
Begleitperson von Dorothea für diese Reise geworden, für die sie von
deren Vater, der ohnehin große Stücke auf sie hielt (vgl.
Wiedemann
1929, S.78), aber auch sicher auch wegen ihres untadeligen Rufs, ursprünglich
einmal vorgesehen worden war.
Liebend gerne wäre sie im Oktober 1781 mit der Schlözerschen
Reisegesellschaft auf die Winterreise nach Italien mitgekommen, doch
ihr Vater blieb, allem Betteln um Erlaubnis zum Trotz, bei seinem
kategorischen Nein und das musste sie eben hinnehmen.
Als 7 Jahre Ältere war sie aber auch ohne Zweifel an anderem als den
Reisegeschichten interessiert. 1778 hatte sie sich zum ersten Mal
verliebt. Ihre Wahl war auf den den Heidelberger Jurastudenten Wilhelm Link
gefallen, der ihr, seit sie 14 war, immer wieder Die meist nur brieflich kommunizierte Zuneigung stand aber
unter keinem guten Stern. So moniert Caroline einmal, dass dieser bei persönlichen
Begegnungen über drei Jahre hinweg nicht »ein Kompliment, ein
zärtliches Wort« herausgebracht hatte, ja überhaupt »kaum reden (konnte)«.
Und doch dauerte es seine Zeit, bis Caroline ihre "vage
Sehnsucht nach Liebe" (Kleßmann
1975, S.43) nach dem sang- und klanglosen Wegzug Links aus
Göttingen in einem
Reifeprozess bewältigen konnte.
Als Caroline mit der Schlözerschen Reisegesellschaft nach Göttingen
zurückreist und unterwegs die Erlebnisse Dorotheas in Italien
anhört, beschäftigt sie innerlich wohl ganz etwas anderes, nämlich wie
ihr persönliches Leben als bürgerliche Ehefrau weitergehen würde.
Womöglich spuken ihr im Kopf auch schon schwärmerische Gedanken an
eine Affäre mit »Friedrich
Ludwig Wilhelm Meyer (1759-1840) herum, der seit 1776 in Göttingen
lebte und den jungen Göttinger »Universitätsmamsellen,
den gebildeten Töchtern angesehener Göttinger Professoren, und nicht
nur ihnen, den Kopf verdrehte, sich aber nie zu einer Frau wirklich
bekannte.
Ein halbes Jahr später, im Oktober 1782, ist sie jedenfalls
schon mit dem Nachbarsohn Johann
Franz Wilhelm Böhmer (1754-1788), verlobt, den sie am
15. Juni 1784 heiratet.
Caroline Michaelis kommt, sieht man von ihrer Postkutschenfahrt
als knapp zwölfjähriges Mädchen ins Pensionat nach Gotha ab, bis zum Alter von knapp achtzehn Jahren
im Grunde nie über Göttingen hinaus. Die Zweitagesreise, die sie nach
langem Hin und Her, in die knapp 50 Kilometer südöstlich gelegene
Residenzstadt Kassel im April 1782 unternehmen durfte, um die
Italientouristen dort wieder zu begrüßen, konnte mit dem, was
Dorothea Schlözer gerade erlebt hatte, sicherlich nicht mithalten,
war aber doch ein wahres Highlight dieses Jahres für die 18-jährige
junge Caroline.
Das "Wunderkind" »Dorothea
Schlözer (1770–1825)
– sie
erwirbt am 25.8. 1787 als erste Frau in
Deutschland einen Doktortitel und promoviert zum Doktor der
Philosophie – kommt allerdings bei Caroline nicht
gänzlich ungeschoren weg, gerade in einer Zeit, als sie sich selbst
mit ihrer unmittelbaren Zukunft als Ehefrau und Mutter zu
beschäftigen beginnt. Die gesellschaftliche Prognose, die sie der von
ihrem Vater immer wieder stolz präsentierten Tochter gibt, ist
äußerst schlecht.
In einem Brief vom Ende Oktober 1781 an ihre drei Jahre ältere Gothaer
Freundin Luise Stieler
(1760-1826), die schon seit März 1780 verheiratet ist,
schreibt sie: »Es ist wahr, Dortchen hat unendlich viel Talent und
Geist,
aber zu ihrem Unglück [...] kann sie weder wahres Glück noch
Achtung erwarten.
Man schätzt ein Frauenzimmer nur nach dem, was sie
als Frauenzimmer ist.« (Schlegel-Schilling,
Die Kunst zu leben 1997, S.95) Die Schlözers, die Caroline
selbst immer sehr zugetan sind, das weiß Caroline aber auch noch
kritisch anzumerken, sind schließlich »sehr reich«, da kann man sich
eben alles leisten. Kommt hinzu, dass die Schlözers in Göttingen
immer wieder Hausbälle veranstalten und auch »Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832), bei seinem zweitägigen Besuch
in der Stadt 1783, "natürlich" bei den Schlözers zu Mittag isst und
sie ihn wegen einer Landpartie mit den Böhmers verpasst.
Angesichts dieser Worte verwundert es auch nicht, dass sie Dorothea
im gleichen Brief das Schicksal der Fürstin
Gallitzin vorhersagt und meint, »Dortchen« werde »eine andere Gallitzin« werden. Sie
hätte auch, ganz nach Rousseau sagen
können, "ein Mann [sic!] nach der Art des
Fräulein von l'Enclos", aber ihre Geschichte lag ja schon über
ein halbes Jahrhundert zurück.
Der Aufenthalt der 33-jährigen »Amalia
von Gallitzin (1748-1806) im
September 1781 in Göttingen, einer von ihrem Mann, dem russischen
Botschafters in Den Haag schon fünf Jahre getrennt lebenden Frau,
mischte die Stadt und alle, die gerne klatschten, regelrecht auf.
Die russische Aristokratin kleidete sich nämlich ganz gegen jede
Konvention sehr schlicht »nach griechischer Art«. (»Mode
à la greque), aber dieser Modestil galt in dieser Zeit oft auch
als etwas anrüchig und wurde immer wieder, je nachdem wie sie
getragen wurde, auch als "nackte Mode" oder "Nuditätenmode"
abgewertet. Sie trug jedenfalls
»flache
Schuhe« und »kurze Haare« und hatte damit allein und ihrem Verhalten
in der Öffentlichkeit für Aufsehen gesorgt.
Die
Fürstin, die seit 1779 in Münster lebte, pendelte in ihren
Überzeugungen zwischen Aufklärung und dem Katholizismus hin und her,
war mit dem französischen Philosophen
Voltaire (1694-1778) und den
französischen »Enzyklopädisten
D’Alembert (1715-1783) und Denis
Diderot (1713-1783) bekannt, der sie als eine lebhafte,
fröhlich, ebenso geistreich wie attraktive und musikalische Frau
beschrieben hat, die eine besondere Freude am Disputieren besaß.
(vgl.
Wikipedia)
Sie hatte sich 1774 noch in den Niederlanden, aus
Enttäuschung über ihren Mann und aus Überdruss am höfischen Leben
von ihrem Mann getrennt und in der Nähe der niederländischen
Hauptstadt mit ihren Kindern ein einfaches Landhaus bezogen, wo sie sich
zurückgezogen der Erziehung ihrer beiden Söhne widmete. Dabei ließ
sie sich von den Erziehungsideen »Jean-Jaques
Rousseaus (1712-1778) leiten, die dieser in seinem
pädagogischen Hauptwerk »Émile
oder Über die Erziehung (1762) dargelegt hatte. Im Kern war die
Erziehung für den französischen Aufklärer ein "behutsam lenkendes Freilegen natürlicher Anlagen" (Schmidts
1978, S.539) in einem dafür "paradigmatisch entwickelten
Programm einer privaten, häuslichen »Erziehung der Natur«" (Schmitz
1995, S.760).
»Amalie
von Gallitzin (1748-1806) trifft in ihrem späteren Leben mit einer
großen Zahl von Intellektuellen ihrer Zeit zusammen und hält mit
einigen von ihnen brieflich Kontakt. Darunter befindet sich auch »Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832), den sie 1792 in Weimar
trifft und mit dem sie eine Weile lang korrespondiert.
Im Urteil vieler argwöhnischer Zeitgenossen und Zeitgenossinen nützt
ihr das alles wenig. Sie entsprach
eben so gar nicht dem gängigen Frauenbild der Zeit und musste
daher geradezu zwangsläufig mit ihrem "beständige(n) Streben nach
Freiheit, innerer Erneuerung und Selbstvervollkommnung [...]
in den einengenden sozialen Räumen der höfischen und bürgerlichen
Lebenswelten, deren Grenzen sie zu überschreiten suchte" (Oberdorf
2020, S.108),
anecken. Kein Wunder also, dass ihr Auftreten in Göttingen Anlass zu
Klatsch und Tratsch gab und man die vielfach interessierte und
belesene Frau gerne abwertete.
Vor
allem wird, wie Caroline weiter notiert, der eleganten und äußerst
attraktiven »sehr gelehrte(n) Dame« offenbar nachgesagt, sie trage ihre
Bildung regelrecht zur Schau, indem sie ohne einen Diener, der ihr
ständig »ein Halbdutzend großer
Folienbände« hintertrage, in der
Öffentlichkeit kaum anzutreffen sei. Zudem gehe sie im »Gefolge von 6
bis 8 Herren am hellichten Tag in unserer Leine« baden (zit. n. Kleßmann
1975, S.47) Dass sich die feine Dame angeblich jeden Morgen (!)
ins Bad tragen lasse, stempelte sie in ihren Augen wohl zu einer
hedonistischen Exzentrikerin. Zudem lasse sie ihre Söhne barfuß
herumgehen, nur um damit den von »Jean-Jaques
Rousseau (1712-1778) propagierten Erziehungsstil zu »imitieren«,
den sie aber gewiss nicht recht verstanden habe, traut sich Caroline
zu urteilen.
Der französische Philosoph hatte im Rahmen der seinem Zögling
zukommenden Sinneserziehung allerdings vertreten, dass Emil "jeden
Morgen, zu jeder Tageszeit, barfuß durch das Zimmer, über die Treppe
und durch den Garten laufen (muss)". (Rousseau
1762/41978, S.127) Dass sich die Fürstin dabei um die
verdreckten Füße der Söhne nicht scherte und sie darüber hinaus mit
»abgeschorenen«, nicht einmal »geschnittenen« Haaren herumlaufen
ließ, während sie sich in der Bibliothek aufhielt oder Vorlesungen
an Universität hörte (vgl.
ebd., S.48),
machte sie in den Augen Carolines zu einem Enfant terrible, über das
sie sich in diesem Brief lustig machte.
Die Fürstin aber war
sicherlich weder ein »Enfant
terrible noch eine »Femme
fatale, auch wenn ihr so mancher männliche Bewunderer in
Göttingen auch zu Füßen gelegen sein mag. Und sie als "eine Art
Frühfeministin" zu bezeichnen, wie dies
Appel
2013, S.32) etwas leichtfertig formuliert, die ihre Kinder
zu "pädagogischen Opfer(n)" der Erziehungstheorien Rousseaus gemacht
habe, dürfte ihren Ambitionen und ihrem Handeln ebenso wenig gerecht
werden.
Als offensichtlich selbstbewusste, intelligente und gelehrte, dazu noch
sehr attraktive Frau von Rang repräsentierte sie ein Frauenbild, wie
es die bürgerliche Gesellschaft als Ganze noch länger nicht zu
akzeptieren gewillt war. Die ironisch-überhebliche Art, mit
der die siebzehnjährige Caroline wahrscheinlich nachplappert, was
ihr über die Fürstin zugetragen wurde, ist ihr angesichts ihres
Alters und ihrer Erziehung und Sozialisation auch nicht vorzuwerfen.
Sicher gab ihr die abwertende Abgrenzung von der Fürstin aber auch
die Gelegenheit, ihre eigenen unbewussten Wünsche zu kompensieren.
Wahrscheinlich im Zusammenhang mit ihrer seit 1778. trotz aller Schwärmerei, so dahinplätschernden und 1781 endgültig auseinandergegangenen
"Affäre" mit Wilhelm Link, Carolines
erster, allerdings ganz und gar harmloser Beziehung, hatte sie, das
Beispiel »Amalias
von Gallitzin (1748-1806) und die Heirat von Luise Gotter , geb.
Stieler, im März 1780 vor Augen, als sie am 1. November 1781 an ihre
Freundin schrieb: »Ich würde, wenn ich ganz mein eigener Herr wäre
und außerdem in einer anständigen und angenehmen Lage leben
könnte, weit lieber gar nicht heyathen und auf andre Art der Welt zu
nutzen suchen.« (Schlegel-Schilling,
Die Kunst zu leben 1997, S.97) Und im Brustton der Überzeugung
fügt sie hinzu: »Wirklich verlieben werde ich mich gewiss nie.« (ebd.
Sie war in dieser Sache, wie die allermeisten bürgerlichen Mädchen
aber ihr weder eigener Herr, noch fragte diese Zeit nach Liebe, wie Kleßmann
(1975, S. 53), kurz bevor er das nächste Kapitel im Leben von
Caroline Michaelis beschreibt, die Sache auf den Punkt bringt. Im
▪ Oktober 1782 verlobt sie sich mit
dem Nachbarsohn Johann
Franz Wilhelm Böhmer (1754-1788), den sie am
15. Juni 1784 heiratet.
Für größere Ansicht bitt an*klicken*tippen!
▪
Zeittafel
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
21.02.2022
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