Aufklärung, 1) allgemein
Erklärung dunkler, als geheimnisvoll geltender Vorgänge, Einrichtungen,
Überlieferungen durch Zurückführung auf ihren natürlichen, wirklichen,
vernünftigen Kern (z.B. religiöse A., sexuelle A. [>
Sexualpädagogik], politische A., moralische A. usw.); als solche in jeder
wissenschaftl. und philos. Erkenntnis enthalten, tritt in der Geschichte
aller Kulturen zu bestimmten Zeiten als spezifische geistige Erscheinung
auf (bei Indern, Chinesen, Griechen, im M.A. und in der Neuzeit). Von
diesem Typenbegriff der A. ist der Epochalbegriff der A. des 18. Jh. zu
unterscheiden, der seine besonderen geistesgeschichtl. Wurzeln hat: die
moderne Wissenschaft, den Protestantismus und den Rationalismus in der
Philosophie. Die A. des 18. Jh. ist universaler als frühere Formen: sie
ergreift das ganze soziale Leben, zieht nicht nur ideell, sondern auch
politisch die letzten Konsequenzen (in der Frz. Revolution) und entwickelt
eine klassische Darstellungsform. - Die A.sphilosophie wurzelt in der
Barockphilosophie des 17. Jh. (Leibniz), ist aber nicht schöpferisch und
systembildend wie diese, sondern nivellierend und popularisierend und
entspricht der wachsenden Verbürgerlichung des Lebens. Diese Bewegung hat
eine große Breitenwirkung. Es erfolgt eine radikale Abwehr von aller
Tradition. Die Welt, die eher statisch als dynamisch aufgefasst wird, ist
ein der göttl. Hilfe nicht mehr bedürftiger Kosmos, ein gesetzmäßiger
Zusammenhang von Atomen, Substanzen, Kräften (Newtonismus, der durch
Voltaire in Frankreich eingeführt wird und den einheimischen
Kartesianismus verdrängt); sie ist berechenbar, eine zweckmäßige
Maschine. Alles ist nützlich, hat einen vernünftigen Grund, alle Lebens-
und Erkenntnisgebiete werden durch analoge Gesetze beherrscht (Anziehung
und Abstoßung in der materiellen Natur, Assoziation und Reproduktion im
Seelenleben, Angebot und Nachfrage in der Wirtschaft, Selbstliebe und
Sympathie in der Moral usw.). Alles ist auf den Menschen bezogen, der
wiederum die Gebote des Handelns von der "Natur" empfängt:
naturgemäß leben und denken, naturgemäße Erziehung, natürliches
Recht, natürliche Religion usw. Der Gegensatz zu den überlieferten
weltanschaulichen, kirchlichen und sozialen Verhältnissen brachte die
Schlagworte Natur, Mensch u. Menschenrechte, Vernunft als Prinzip der
Wissenschaft hervor. Das Natürliche ist gut, und durch das
"natürliche Licht" sind alle sozialen, wirtschaftlichen,
philosophischen Probleme zu lösen. Der selbstdenkende Verstand schweift
nicht über die Erfahrung hinaus, unterwirft sich keinen fremden Gesetzen,
kritisiert alle Autoritäten. - Die englische A.sphilosophie wird
einerseits durch Locke und Hume und andererseits durch die Utilitaristen
Mill u. Bentham, die frz. durch Voltaire, d'Alembert, Diderot
(Enzyklopädisten), Condillac, die deutsche durch Chr. Wolff vertreten und
durch Kant zum Abschluss gebracht. Der engl. Konstitutionalismus wird
durch Montesquieu in Frankreich heimisch und bestimmt die
Verfassungsideologie der A., die sich mit der Fortschritts-,
Zivilisations-, Friedensideologie verbindet. Doch radikalisiert sich die
A. bes. in Frankreich, mehr und mehr (Materialismus des "Systems der
Natur", Lamettrie, Helvetius u.a.) und findet auch am
Sentimentalismus Rousseaus, dessen zwiespältige Natur andererseits den
Liberalismus und Konstitutionalismus der A. in eine Nationaldemokratie
überführt, eine Gegenbewegung. Beides zus. bedingt die Zersetzung des
A.sdenkens (dessen größter Widersacher in Deutschland Hamann ist), das
aber in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in veränderter Form fortgesetzt
wird und z. T. auch heute noch lebendig ist.
(aus: Das Bertelsmann-Lexikon)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023