Die Entwicklung hin
zu einem modernen Staatswesen machte Veränderungen und Entwicklungen
in zahlreichen Bereichen nötig. Bei der Erlangung von
▪ Schlüsselmonopolen staatlicher Gewalt in den Territorien, die den
Prozess über eine monarchische Spitze (Könige, Fürsten) in Gang
brachten und in Gang hielten, ging es immer auch um die Schaffung
einer einheitlichen Untertanengesellschaft, in der die alten
feudalen Sonderrechte keine Bedeutung mehr besaßen.
Daneben gab es in vielen Gebieten auch Entwicklungen hin zum
modernen Staat, die ohne autoritären Druck von oben zu einer "funktionierende(n)
»Selbstregulierung der Untertanen« (Schilling
1997; Schmidt
1997)" führten und auf anderen "Formen des Aushandelns und
Ausprobierens [...] der Verhaltensspielräume im konkreten sozialen
Handeln" (Niefanger
32012, S.53) beruhten.
Statt vielfältiger
personenrechtlicher Beziehungen und einer ▪
Vielfalt sozialer Gruppen mit
zahlreichen Sonderrechten und Lebensformen, sollten sich die
Bevölkerung, ihre "Individuen und Gruppen mit Sonderrechten
in den als homogen begriffenen Untertanenverband" einfügen. (Schilling
1987, S.155)
Und dieses Ansinnen war in einer Gesellschaft, die sich
durch ihre "bunte Vielfalt von sozialen Gruppen eigenen Rechts- und
besonderer Lebensführung" (ebd.,
S.148) auszeichnete, nicht gerade einfach:
-
Adelige und andere
Privilegierte pochten auf ihre traditionellen Sonderrechte.
-
Kaufleute und Handwerker,
die in den zahlreichen unabhängigen Städten lebten, wollten sich auf der
Grundlage ihrer errungenen wirtschaftlichen Bedeutung, nicht von einem
Landesherrn hereinreden lassen.
-
Viele Bauern, die in
räumlich abgelegenen Gegenden lebten, regelten ihr Miteinander nach
ihren eigenen Regeln.
-
Die große Zahl der
Hirten, Schäfer und einfachen herumziehenden Personen, fühlten sie wohl
ohnehin niemandem untertan. (vgl.
ebd.)
Alles, was für uns heute der
Staat so selbstverständlich im Bereich von Politik, Gesellschaft und
Wirtschaft "reguliert", musste also zunächst einmal der landesherrlichen "Policey"
unterworfen werden und das, wenn möglich, nicht nur auf der oberen Ebene des
landesherrlichen Regiments sondern auch auf der lokalen Ebene. Dieser
Prozess wird als Sozialdisziplinierung bzw. ▪
soziale Disziplinierung der frühneuzeitlichen
Gesellschaft bezeichnet, der eine ▪
Vielzahl von Aspekten hat.
Dabei ist bei unterschiedlicher Akzentuierung
der Konzepte die zunehmende "Selbstdisziplinierung des Einzelnen und die von
den staatl. Eliten angeleitete Disziplinierung von Adel, Ständen, Hof
(Zeremoniell), Bürokratie (Leistungsprinzip), Militär (Drill) und
Untertanen" als eine Entwicklung zu verstehen, bei der beide Komponenten
"in einem zielgerichteten, säkularen Prozess der Umformung zusammen(wirkten)".
(Holenstein 2013)
"Das
moderne Leben in größerer Verkehrsdichte – beginnend mit der
Verstädterung in der frühen Neuzeit – setzte
eine moralisch–geistige
Veränderung des Individuums und seiner Einstellung zu anderen
voraus. Der Mensch, der vorher in ländlicher, mehr oder weniger
isolierter Selbstbestimmung, auf jeden Fall, in einem überschaubaren
und heterogenen sozialen Umfeld gelebt hatte, musste lernen, sich in
differenziertere, größere und engere Räume einzufügen. Das geschah
erstens durch Einsicht in die Notwendigkeiten, zweitens durch den
Zwang der Umstände, drittens durch Gesetz und Verordnung. Es setzte
eine Selbstdisziplin und gleichzeitig Erziehung zu neuen
Moralbegriffen ein, die die Existenz der Mitmenschen berücksichtigte
und auf einen geordneten Ablauf des gesellschaftlichen
Zusammenlebens, auf ein effektiveres Staatsleben zielte." (Schulze
1987, S.289)
In diesem Prozess mussten eine Vielzahl
▪
sozialregulierenden und sozialdisziplinierenden Verordnungen und
Gesetze erlassen und für ihre Durchsetzung gesorgt werden, die tief
in das Leben der Menschen eingegriffen und das neue Verhältnis von Untertan
und Staat verankerten. Das
Streben nach "Policey und guter Ordnung", d. h. auf die "Wahrung bzw. Herstellung der moralischen und religiösen
Ordnung" ausgerichtet war und "zugleich den Bestand der
öffentlichen Ordnung umfasste und die ungestörte Aufrechterhaltung
der Gerechtigkeit, des öffentlichen Wohls und der Sicherheit im
damaligen Verständnis einschloss", machte aus, was man in dieser
Zeit unter Policey verstand. Policey ist daher nicht mit unserem
heutigen Begriff von Polizei vergleichbar und "bedeutet also nicht ein
Organ der Regierung, sondern die Gesamtheit der sozialen
Ordnungsversuche seitens der Obrigkeit." (ebd.)
Beispiele dafür sind die ▪
Polizeiordnung der Gräfin »Anna
von Ostfriesland (1562-1621) aus dem Jahr 1545 oder auch die fast
zweihundert Jahre jüngere »Policeyordnung
für das Herzogtum Westfalen (1723).
Sie können
verdeutlichen, welche Bereiche des Lebens zu regulieren, sich die
die neuen staatlichen Gewalten vorgenommen haben und bei Verstößen
gegen die Regeln mit entsprechenden Sanktionen zu ahnden hatten.
Sozialdisziplinierung als Konzept des gesellschaftlichen und
politischen Wandels
Auch wenn es
andere Entwicklungen hin zum frühmodernen Staat gab (z. B. auch
den ▪
Stadtrepublikanismus) bleibt der Blick In diesem Arbeitsbereich
auf die Entwicklungen im absolutistischen Frankreich und in den
Großterritorien Deutschlands z. B. Brandenburg-Preußens,
Österreichs, Sachsens, Bayerns, Hannovers und Württembergs
beschränkt, weil sich darin bestimmte Entwicklungslinien des
gesellschaftlichen Formationsprozesses, der zur Staatsbildung
geführt haben.
Dass den "vielen Klein- und
Kleinfürstentümer, die das Bild des Alten Reiches aufs Ganze gesehen
prägten, (...) meist bereits die Kraft zur Vollendung der frühmodernen
Staatsbildung (fehlte)," (Schilling
1987, S.185) verdeutlicht dabei auch, dass das
Konzept der
Sozialdisziplinierung von oben nicht als universelle Prozesskategorie taugt,
sondern eher einen idealtypischen Verlauf unter bestimmten Bedingungen
beschreibt.
Vorausgesetzt also,
dass die Sozialdisziplinierung als
idealtypischer Begriff keine "keine
omnipotente Allgegenwärtigkeit" (Schulze
1987, S.292) besitzt,
keinen geradlinigen Prozess darstellt und auch "niemals und in keinem Land zu einem
einheitlichen System ausgestaltet" (ebd., S.267)
worden ist, taugt der Begriff doch dafür, die Gesamtheit eines ▪
langhaltenden Transormationsprozesses als Ganzes zu betrachten,
weil er "die historische(n) Ereignisse des geistigen und materiellen
Lebens, religiös–ethische Vorstellungen sowie die rechtliche und
ökonomisch–soziale Wirklichkeit auf einen abstrakten Nenner bringt."
(ebd., S.266)
Das Konzept der
Sozialdisziplinierung beschreibt dabei den Prozess, wie es im Zuge der
frühmodernen Staatsentwicklung in einer langwierigen Entwicklung gelang,
neue Formen der obrigkeitlichen und der sozialen Kontrolle zu installieren,
welche die auf eine lange Geschichte zurückgehenden Partikularinteressen von
Klerus, Adel und Stadtbürgertum "zugunsten eines »gemeinen Besten«, das
zunehmend von oben verordnet wurde, durch den Staat und seine mit einer
umfassenden Polizeigesetzgebung steuernd und ordnend eingreifende Bürokratie."
(Schilling 1987,
S.155) Zug um Zug abschleifen konnten.
In einer Zeit, in
der "der Boden für ein friedlich geordnetes Zusammenleben der
Menschen ins Wanken" (Schulze
1987, S.289f.) geraten war, wurde so die ▪ "absolutistische
Disziplinierung" zu dem immer weiter um sich greifende(n) Gegenschlag
zur Ausdehnung der Gemeinwohlverankerung." (ebd., S.289f.)
Konzepte der Sozialdisziplinierung
Das Konzept der
Sozialdisziplinierung ist mit zwei Namen verbunden, die bei ihrer
Grundlegung des Konzeptes unterschiedliche Akzente gesetzt haben,
sich aber insgesamt ergänzen.
Der deutsche
Historiker »Gerhard
Oestreich (1910-1978), der das sein Konzept "bewusst zu einem
Leitkonzept der frühneuzeitlichen Geschichte Europas" (Schulze
1987, S.298) gemacht hat, verstand unter dem 1969 von ihm geprägten
Begriff der Sozialdisziplinierung ein Bündel von geistig-moralischen
und psychologischen Änderungen, denen sich die Menschen in Form
zunehmender Selbstdisziplinierung durch die Entwicklung des
führmodernen Staates unterziehen mussten.
Im Gegensatz zu »Nobert
Elias (1897-1990), dem es in seinem 1939 erstmals
erschienenen Werk »"Der
Prozess der Zivilisation" vor allem darauf ankam,
die Verinnerlichung solcher Verhaltensnormen als einen Prozess der
fortschreitenden, aber
keineswegs geradlinig verlaufenden Zivilisation
beschreiben, ging es Oestreich darum, die konkreten
Verhaltensänderungen zu untersuchen, denen sich die Menschen unter
äußerem Zwang in einem langfristigen, allerdings ungeplanten Prozess
der "Verstaatlichung" der Gesellschaft unterziehen mussten.
So sei es Norbert Elias, betont Schulze
(1987, S.274), darum gegangen, dem Prozess der
Zivilisation nachzugehen, "dem Strukturwandel der oberen Schichten
mit der höfischen Gesellschaft als Spitze und Vorbild einer
gesellschaftlichen Entwicklung im Sinne des Verhaltens und
zivilisatorischen Benehmens" (ebd.),
während Oestreich und ihn "der Prozess der Regulierung und
Disziplinierung möglichst breitet Schichten im Sinne der
Sozialisation der Gesamtgesellschaft."
Oestreich zog für
sein Konzept vor allem die unzähligen Policey-Ordnungen aus dem
Spätmittelalter und der frühen Neuzeit als Quellen heran. Indem er
im Unterschied der bis dahin dominierenden verfassungsgeschichtliche
Perspektive den Blick auf die Entwicklung des frühmodernen Staates
im Absolutismus auf zentrale sozialgeschichtliche Bedingungen
richtete, konnte er "die unendliche Fülle bewegten Lebens einfangen
und durch die Ausweitung des Politischen ins Soziale und Mentale das
Klima der menschlichen Existenz in der frühen Neuzeit bestimmen" und
"Geschichte im
umfassenden Sinn als Prozess der Kultur begreifen", indem die ▪
Sozialdisziplinierung neben der Rationalisierung und der
Zivilisation "in
einem über Jahrhunderte sich erstreckenden Vorgang die
psycho-soziale Haltung des Menschen, sein Mitwelt-Verhalten"
verändert hat.
(ebd.,
S.268)
So konnte er
zeigen, dass seit dem Hochmittelalter schon die städtischen
Obrigkeiten, aber auch die fürstlichen
Verwaltungen in den Territorialstaaten überall in Europa eine nicht
enden wollende Flut von Erlassen und Verordnungen erließen, um "das
Streben nach Ordnung noch im Sinne einer Harmonisierung der
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse" mit
Policeyordnungen sozial zu regulieren
(ebd., S.267)
oder mit Gesetzen wie z. B. dem ▪
Strafrecht bei sexuellen Delikten und a. m. mit »Zucht und Ordnung«
sozial zu disziplinieren.
Er lenkte damit den
Blick auf die ▪ "Ordnung
größerer Menschenmassen"
(ebd.,
S.292) und konnte zeigen, dass die Sozialdisziplinierung zugleich
"Reaktion auf Wandel und Entwicklung" war als auch "Neuschöpfung
angesichts veränderter Umstände".
(ebd.)
In ihrer Funktion
"dem sozialen Wandel von der Agrar- und Feudalgesellschaft zur
bürgerlichen und städtischen Gesellschaft"
(ebd.)
zu dienen, kam es dabei zu tiefgreifenden Änderungen.
Was früher im
Rahmen der persönlichen Beziehungen im Personenverbandsstaat oder
durch Herkommen und Brauch geregelt war, funktionierte angesichts
einer fortschreitenden Intensivierung des öffentlichen Lebens" nicht
mehr oder funktionierte jedenfalls auf Dauer nicht mehr und wurde
und "zu einer starren Vorschrift geordnet und umgewandelt [...],
deren Einhaltung und Befolgung wiederum entsprechende
Überwachungsmaßnahmen" (ebd., S.272)erforderlich
machten.
So griffen zunächst
die Kirche, dann mit ihr der Staat, und dann mehr und mehr der
Staat allein, in alle mögliche Lebensbereiche regulierend und
disziplinierend ein. Sie stützen sich dabei auf die "neue, die
öffentliche Ordnung tragende Schicht des Hofstaats- und fürstlichen
Beamtentums" (ebd., S.288).
In der ▪
Bürokratie entstand ein "Typ einer besonderen Persönlichkeit" (ebd., S.285),
dessen Fähigkeit zur Selbstdisziplin Leistungsprinzip, Wille zur
Leistung und Einsatz für das Gemeinwesen zu den prägenden Strukturen
seiner Amtsführung wurden.
Die neuen Beamten
sorgten mit ihrem ▪
Fachwissen im römischen Recht und der Verwaltung, nach und nach
und je nach den aktuellen Erfordernissen verschieden, dafür, dass von der Wiege
bis zur Bahre "staatlich" alles geregelt wurde, was zuvor
überhaupt nicht verbindlich geregelt war oder von anderen Institutionen und Inhabern
hoheitlicher Gewalt (Adelige, Kirche) bestimmt und in eigener
Verantwortung reguliert worden war. Dazu gehörten, in einer beliebig
erweiterbaren Liste, Taufe, Hochzeit, ▪
Ehebruch und ▪
vorehelicher und außerehelicher
Geschlechtsverkehr, Begräbnis, Kleiderordnung, Essen, Trinken,
Müllbeseitigung, Münze, Maße, Gewicht, Handel, Handwerk, Bergbau,
Manufakturen, Arbeits- und Lohnbedingungen, Kreditaufnahme,
Unterhaltung der Landstraßen und Brücken, Warenqualität,
Luxusverbote,
Bönhasen,
Wucher und vieles andere mehr.
Insgesamt wurde mit
diesen sozialregulierenden und sozialdisziplinierenden Maßnahmen die allgemeine Lebensführung
auch den christlichen Moralvorstellungen angepasst. Und auch das
Arbeitsleben wurde auf Effektivität und Ordnung "getrimmt" und damit
umfangreichen Diszplinierungsmaßnahmen unterworfen.
Müssiggang und
Verschwendung wurden so mehr und mehr verpönt. Ihnen standen die aus
der ▪
neostoizistischen Tugendlehre stammenden Tugenden virtus,
disciplina, oboedientia entgegen, die als "die Ordnungsbegriffe der
Untertanen des Absolutismus, der Bürokratie und des Militärs, der
beiden institutionellen Stützen des frühmodernen Staates"
(ebd., S.288)
waren. Pflichterfüllung, Fleiß, Nützlichkeit, Gehorsam und
Affektkontrolle standen dabei stets im Dienste der übergeordneten
Ordnung des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens.
Abweichendem
Verhalten, hier kommt spätestens auch das Konzept von »Nobert
Elias' (1897-1990) wieder ins Spiel, sollte auch über
die Internalisierung der neuen Regeln in der sozialdisziplinierten
Untertanengesellschaft jedenfalls so wenig Raum wie möglich bleiben.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.11.2021
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