Wenn wir etwas
▪ lesen,
kommt uns das meistens ziemlich passiv vor. Wir haben nämlich gewöhnlich den Eindruck, wir nähmen den Text, sieht man einmal
von der Augenbewegung oder bestimmten manuellen Tätigkeiten (festhalten,
blättern, antippen oder anklicken) ab, vergleichsweise ohne unser
aktives Zutun auf und was beim Lesen "hängenbleibt", tut es eben oder
tut es nicht. Manchmal wundern wir uns aber auch, warum wir, wenn wir
einen bestimmten Text oder eine bestimmte Textpassage gelesen haben, wir
hinterher so gar nicht wissen, was wir gerade erst gelesen haben. Mag
sein, dass uns das bloß verwundert, aber oft ist das auch Quelle
von
Frustrationen, die, wenn es immer wieder vorkommt, einem den Spaß am
Lesen oder bestimmten Lesestoffen gründlich verderben kann. Gar nicht so
selten kommt es zu regelrechten "Lesekrisen", weil man sich einfach
nicht so recht erklären kann, warum das so ist und vor allem, was man
dagegen tun könnte.
Da sind manchmal auch
bequeme Antworten zur Hand, die den Lesefrust überwinden sollen. Man
ärgert sich über den Autor oder die Autorin solcher Texte, der so "blöd"
schreibt, dass man nicht mitkommt, schimpft über das langweilige Thema,
über den Baulärm, der von der gegenüberliegenden Straßenseite
herüberhallt oder schiebt das Ganze auf das Magenknurren, das zustande
gekommen ist, weil man schon seit einiger Zeit nichts Vernünftiges mehr
gegessen hat.
Doch
das ist ein Irrtum, wie man schon seit längerem weiß. Lesen findet
nämlich nie ohne unser aktives Zutun statt. Wenn wir den Sinn eines
Textes entschlüsseln und verstehen wollen, sind wir nämlich sehr aktiv.
Und ohne unser Zutun, das aus einer Mixtur verschiedener Elemente
besteht, die wir beim Lesen aus dem Gedächtnis abrufen und/oder
aktivieren, könnten wir das, was ein Text (für uns) bedeutet, überhaupt
nicht erschließen.
Beim Lesen bringen wir alles, was da geschrieben steht und was wir visuell wahrnehmen,
Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort und Satz für Satz in einen
Bedeutungszusammenhang, den wir durch unser Zutun schaffen. Wir
konstruieren unser Textverständnis in einer vielfältigen Interaktion mit
dem Text. Was wir für den Sinn eines Textes halten, ist somit immer ein
Konstrukt, das in der Kommunikation mit anderen seine Plausibilität
unter Beweis stellen muss. Lesendes Textverstehen ist damit stets ein ▪
aktiver Prozess der
Sinnkonstruktion.