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Themabereich: Lesen
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Bergk,
Johann Adam: Was heißt Bücherlesen? (1799) (Auszüge)
▪ Bergk,
Johann Adam: Was versteht man unter der Kunst, Bücher zu lesen?
(1799) (Auszüge)
Die "Kunst zu lesen" war lange Zeit eine Sache von Experten und wurde in
sogenannten Expertenkulturen gelehrt und gepflegt, Das waren, historisch
gesehen, z. B. »Skriptorien
in Bibliotheken und Klöstern,
in denen ▪seit der Spätantike
bis zur frühen Neuzeit alte Schriften
abgeschrieben
und auf auf dieses Weise konserviert und vervielfältigt wurden.
Im Leseunterricht, der gerade mal
Grundkenntnisse im ▪ Lesen vermittelte,
interessierte man sich bis ins 18. Jahrhundert hinein kaum für den
Inhalt, sondern verstand das Lesen eher als grammatisches,
sprachlich-stilistisches und rhetorisches Übungs- und Exerzierfeld.
(vgl. Bickenbach
2015, S.401) Das ändert sich erst grundlegend Ende des 18.
Jahrhunderts im Zuge der ▪
Aufklärung, als man sich auch mit dem Lesen als solchem und seiner
individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung befasste.
Die ▪ Geschichte des Lesens
ist dabei stets auch eine Geschichte von mehr oder weniger
konventionalisierten Lesetechniken in bestimmten Lesekulturen.
Der Anhänger der
Philosophie
»Immanuel Kants (1724-1804) und deutsche
▪
Jakobiner »Johann
Adam Bergk (1769-1834), der 1799 sein umfassendes Werk "Die
Kunst, Bücher zu lesen" veröffentlichte, befasst sich ausdrücklich
mit solchen Fragen.
"Was versteht man denn also unter der Kunst, Bücher zu lesen? Man
begreift darunter die
Fertigkeit und Geschicklichkeit, die mancherlei Zwecke, welche die
Lektüre der einzelnen Wissenschaften und der schönen Kunst hat, zu
erreichen. Sie ist die erworbene Leichtigkeit, die Regeln
anzuwenden, welche die Absicht des Lesens vorschreibt. Da nun keine
Kunst angeboren wird, so muss man sie studieren, und dieselbe sich also
durch Übung eigen machen. Aber hierzu ist Anweisung nötig [...]. Man
muss wissen, worauf unser Bemühen gehen soll, und man muss wissen,
wodurch man seine Absicht erreichen kann. [...]
Die Kunst zu lesen ist also eine Geschicklichkeit, das Wissen praktisch
zu machen, und leicht die Zwecke zu realisieren, welche sich der Leser
vorschreibt. Jedermann kann sie sich erwerben" [...]." (S.75-77)
▪ Lautes
Lesen, ▪
lautes Lesen nach Tische, das ▪
laute Lesen von Schauspielern, das ▪
Lesen
im Stehen, das ▪
Lesen
zur Beförderung des Schlafes, das
Lesen von philosophischen im Gegensatz zu sonstigen Schriften und
allem voran aber das ▪
langsame Lesen
wichtiger Schriften, das "ein
leichtsinniges Darüberhineilen" vermeidet, sind z. B. pragmatische
Aspekte des Lesen, mit denen er sich befasst.
Lesen und die Anwendung bestimmter
Lesetechniken hat dabei natürlich auch eine physiologische Seite, die
hier kurz und knapp skizziert werden kann.
Lesen ist ein Vorgang, bei dem in unserem
Gehirn komplexe ▪ Wahrnehmungs- und
▪ kognitive Verarbeitungsprozesse stattfinden, die
entweder parallel oder sequenziell hintereinander ablaufen.
Vereinfacht gesagt,
erfasst unser Auge bei seiner Wahrnehmung den jeweiligen "Lesestoff" mal
einfach nach und nach, manchmal in größeren Einheiten als Ganzes und ein
anderes Mal auch nur als Teile davon. Man liest also "weder Buchstabe
für Buchstabe noch Wort für Wort, sondern springt auf bedeutungstragende
Zusammenhänge der Schrift (Morpheme, Phoneme). Anders als technisches
Scannen ist Lesen kein kontinuierliches Ablesen, sondern eine
diskontinuierliche Aktivität des Auges in Sprüngen, die durch den engen
Schärfebereich des Auges (der Fovea) bedingt sind." (Bickenbach
2015, S.396)
Dabei arbeitet unsere ▪
visuelle Wahrnehmung zur ▪
Verarbeitung der
neuronalen Informationen beim Lesen mit sogenannten »Fixationen.
Diese stellen sogenannte Eye Stops (Augenanhaltepunkte)
dar. Dabei unterscheiden sich die Augenbewegungen, die beim Lesen eines
geschriebenen Textes stattfinden, von solchen, die nicht dem Erfassen
textlicher Informationen dienen.
Für das effiziente
Lesen benötigt man einen bestimmten "Gesichtsfeldausschnitt" bzw.
"Lesefester", das asymmetrisch und "für Menschen mit der Leserichtung
von links nach rechts (...) links von der Fovea etwa 3–4 Buchstaben
(umfasst), rechts von ihr hingegen bis zu 15 Buchstaben (Rayner u.
Bertera 1979). Es ermöglicht die simultane Aufnahme eines längeren
Textausschnittes und bildet die Grundlage für die regelrechte und
kontinuierliche Weiterführung der Fixation. Das Blickbewegungsmuster ist
durch eine geordnete Abfolge von Fixationen und sakkadischen Sprüngen
charakterisiert". (Karnath/Thier
(Hg.) 22006, S. 94)
Solche Eye-Stops sind Punkte,
auf die sich der Blick etwa 0,3 Sekunden richtet, ehe er schnell und
ruckartig, man spricht hier von »Sakkaden,
von einem Fixationspunkt zu einem anderen springt. Und, so sieht es,
diese kognitive Verarbeitungstheorie des Lesens (»cognitive
process model), erst im Vollzug dieses Springens von einem
Fixationspunkt zu einem anderen wird z. B. beim Lesen von herkömmlichem
Text ein Wort als solches eindeutig identifiziert, auch wenn die
Wortbedeutung als solche und ihre kontextbezogene Bedeutung in ihrem
grammatikalischen Umfeld, z. B. Satz, oder sonstigem Kontext damit noch
nicht klar sind. Solche Fixationen können mit Hilfe der
»Blickbewegungsregistrierung
aufgezeichnet und analysiert
Wie schnell sich der
Wechsel von einem Fixationspunkt zum anderen vollzieht, hängt dabei von
den Leseerfahrungen des Einzelnen ab, von der Schwierigkeit eines Textes
und von den Bedingungen ab, unter denen das Lesen stattfindet. Je
schwieriger Texte oder je mehrdeutiger oder weniger
verständlich sie sind, desto kürzer fallen die jeweiligen Sakkaden aus. Ebenso ist
die Zeit, die einzelne Fixationen beanspruchen, bei solchen Texten
deutlich länger, die den Leser zudem oft auch zwingen, quasi wieder in
Gegenrichtung zu lesen und zu bereits gelesenen Textstellen
zurückzukehren (Regressionen).

Die Zahl der
neurobiologisch möglichen Augenfixationen ist begrenzt. Sie bewegt sich
zwischen drei oder vier
Fixationen pro Minute. Daraus ergibt sich bei
einer einzigen Fixation pro Wort eine bestimmte Lesegeschwindigkeit von
bei 180 bis 240 Wörtern pro Minute.
Wohlgemerkt über das,
was beim Lesen im Gedächtnis "hängenbleibt" und insbesondere über
Textverstehen
ist damit aber nichts gesagt. Aber offenbar kann man schnelleres Lesen
aber durchaus auch bis zu einem gewissen Grad trainieren.
▪ Schnelllesen (Speed Reading) ist aber kein brauchbares
lesedidaktisches Konzept für die Schule und ob es gegenüber der
flexiblen Anwendung unterschiedlicher Lesetechniken Vorteile bringt, ist
zumindest zweifelhaft.