»Es ist ein eigentümlicher
Apparat«, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit
einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat.
Der Reisende schien nur aus Höflichkeit der Einladung des Kommandanten
gefolgt zu sein, der ihn aufgefordert hatte, der Exekution eines Soldaten
beizuwohnen, der wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten
verurteilt worden war.
Das Interesse für diese Exekution war wohl auch in
der Strafkolonie nicht sehr groß. Wenigstens war hier in dem tiefen,
sandigen, von kahlen Abhängen ringsum abgeschlossenen kleinen Tal außer dem
Offizier und dem Reisenden nur der Verurteilte, ein stumpfsinniger
breitmäuliger Mensch mit verwahrlostem Haar und Gesicht, und ein Soldat
zugegen, der die schwere Kette hielt, in welche die kleinen Ketten
ausliefen, mit denen der Verurteilte an den Fuß- und Handknöcheln sowie am
Hals gefesselt war und die auch untereinander durch Verbindungsketten
zusammenhingen. Übrigens sah der Verurteilte so hündisch ergeben aus, dass es
den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen
lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme.
Der Reisende hatte wenig Sinn für den Apparat und ging hinter dem
Verurteilten fast sichtbar unbeteiligt auf und ab, während der Offizier die
letzten Vorbereitungen besorgte, bald unter den tief in die Erde eingebauten
Apparat kroch, bald auf eine Leiter stieg, um die oberen Teile zu
untersuchen. Das waren Arbeiten, die man eigentlich einem Maschinisten hätte
überlassen können, aber der Offizier führte sie mit einem großen Eifer aus,
sei es, dass er ein besonderer Anhänger dieses Apparates war, sei es, dass man
aus anderen Gründen die Arbeit sonst niemandem anvertrauen konnte. »Jetzt
ist alles fertig!« rief er endlich und stieg von der Leiter hinunter. Er war
ungemein ermattet, atmete mit weit offenem Mund und hatte zwei zarte
Damentaschentücher hinter den Uniformkragen gezwängt. »Diese Uniformen sind
doch für die Tropen zu schwer«, sagte der Reisende, statt sich, wie es der
Offizier erwartet hatte, nach dem Apparat zu erkundigen. »Gewiss«, sagte der
Offizier und wusch sich die von Öl und Fett beschmutzten Hände in einem
bereitstehenden Wasserkübel, »aber sie bedeuten die Heimat; wir wollen nicht
die Heimat verlieren. - Nun sehen Sie aber diesen Apparat«, fügte er gleich
hinzu, trocknete die Hände mit einem Tuch und zeigte gleichzeitig auf den
Apparat. »Bis jetzt war noch Händearbeit nötig, von jetzt aber arbeitet der
Apparat ganz allein.« Der Reisende nickte und folgte dem Offizier. Dieser
suchte sich für alle Zwischenfälle zu sichern und sagte dann: »Es kommen
natürlich Störungen vor; ich hoffe zwar, es wird heute keine eintreten,
immerhin muss man mit ihnen rechnen. Der Apparat soll ja zwölf Stunden
ununterbrochen im Gang sein. Wenn aber auch Störungen vorkommen, so sind sie
doch nur ganz kleine, und sie werden sofort behoben sein.«
»Wollen Sie sich nicht setzen?«
fragte er schließlich, zog aus einem Haufen von Rohrstühlen einen hervor und
bot ihn dem Reisenden an; dieser konnte nicht ablehnen. Er saß nun am Rande
einer Grube, in die er einen flüchtigen Blick warf. Sie war nicht sehr tief.
Zur einen Seite der Grube war die ausgegrabene Erde zu einem Wall
aufgehäuft, zur anderen Seite stand der Apparat. »Ich weiß nicht«, sagte der
Offizier, »ob Ihnen der Kommandant den Apparat schon erklärt hat.« Der
Reisende machte eine ungewisse Handbewegung; der Offizier verlangte nichts
Besseres, denn nun konnte er selbst den Apparat erklären. »Dieser Apparat«,
sagte er und fasste eine Kurbelstange, auf die er sich stützte, »ist eine
Erfindung unseres früheren Kommandanten. Ich habe gleich bei den allerersten
Versuchen mitgearbeitet und war auch bei allen Arbeiten bis zur Vollendung
beteiligt. Das Verdienst der Erfindung allerdings gebührt ihm ganz allein.
Haben Sie von unserem früheren Kommandanten gehört? Nicht? Nun, ich behaupte
nicht zu viel, wenn ich sage, dass die Einrichtung der ganzen Strafkolonie
sein Werk ist. Wir, seine Freunde, wussten schon bei seinem Tod, dass die
Einrichtung der Kolonie so in sich geschlossen ist, dass sein Nachfolger, und
habe er tausend neue Pläne im Kopf, wenigstens während vieler Jahre nichts
von dem Alten wird abändern können. Unsere Voraussage ist auch eingetroffen;
der neue Kommandant hat es erkennen müssen. Schade, dass Sie den früheren
Kommandanten nicht gekannt haben! -Aber«, unterbrach sich der Offizier, »ich
schwätze, und sein Apparat steht hier vor uns. Er besteht, wie Sie sehen,
aus drei Teilen. Es haben sich im Laufe der Zeit für jeden dieser Teile
gewissermaßen volkstümliche Bezeichnungen ausgebildet. Der untere heißt das
Bett, der obere heißt der Zeichner, und hier der mittlere, schwebende Teil
heißt die Egge.« »Die Egge?« fragte der Reisende. Er hatte nicht ganz
aufmerksam zugehört, die Sonne verfing sich allzu stark in dem schattenlosen
Tal, man konnte schwer seine Gedanken sammeln. Um so bewundernswerter
erschien ihm der Offizier, der im engen, parademäßigen, mit Epauletten
beschwerten, mit Schnüren behängten Waffenrock so eifrig seine Sache
erklärte und außerdem, während er sprach, mit einem Schraubendreher noch
hier und da an einer Schraube sich zu schaffen machte. In ähnlicher
Verfassung wie der Reisende schien der Soldat zu sein. Er hatte um beide
Handgelenke die Kette des Verurteilten gewickelt, stützte sich mit der Hand
auf sein Gewehr, ließ den Kopf im Genick hinunterhängen und kümmerte sich um
nichts. Der Reisende wunderte sich nicht darüber, denn der Offizier sprach
französisch, und Französisch verstand Gewiss weder der Soldat noch der
Verurteilte. Um so auffallender war es allerdings, dass der Verurteilte sich
dennoch bemühte, den Erklärungen des Offiziers zu folgen. Mit einer Art
schläfriger Beharrlichkeit richtete er die Blicke immer dorthin, wohin der
Offizier gerade zeigte, und als dieser jetzt vom Reisenden mit einer Frage
unterbrochen wurde, sah auch er, ebenso wie der Offizier, den Reisenden an.
»Ja, die Egge«, sagte der
Offizier, »der Name passt. Die Nadeln sind eggenartig angeordnet, auch wird
das Ganze wie eine Egge geführt, wenn auch bloß auf einem Platz und viel
kunstgemäßer. Sie werden es übrigens gleich verstehen.
Hier auf das Bett
wird der Verurteilte gelegt. - Ich will nämlich den Apparat zuerst
beschreiben und dann erst die Prozedur selbst ausführen lassen. Sie werden
ihr dann besser folgen können. Auch ist ein Zahnrad im Zeichner zu stark
abgeschliffen; es kreischt sehr, wenn es im Gang ist; man kann sich dann
kaum verständigen; Ersatzteile sind hier leider nur schwer zu beschaffen. -
Also hier ist das Bett, wie ich sagte. Es ist ganz und gar mit einer
Watteschicht bedeckt; den Zweck dessen werden Sie noch erfahren. Auf diese
Watte wird der Verurteilte bäuchlings gelegt, natürlich nackt; hier sind für
die Hände, hier für die Füße, hier für den Hals Riemen, um ihn
festzuschnallen. Hier am Kopfende des Bettes, wo der Mann, wie ich gesagt
habe, zuerst mit dem Gesicht aufliegt, ist dieser kleine Filzstumpf, der
leicht so reguliert werden kann, dass er dem Mann gerade in den Mund dringt.
Er hat den Zweck, am Schreien und am Zerbeißen der Zunge zu hindern.
Natürlich muss der Mann den Filz aufnehmen, da ihm sonst durch den Halsriemen
das Genick gebrochen wird.« »Das ist Watte?« fragte der Reisende und beugte
sich vor. »Ja, Gewiss«, sagte der Offizier lächelnd, »befühlen Sie es
selbst.« Er fasste die Hand des Reisenden und führte sie über das Bett hin.
»Es ist eine besonders präparierte Watte, darum sieht sie so unkenntlich
aus; ich werde auf ihren Zweck noch zu sprechen kommen.« Der Reisende war
schon ein wenig für den Apparat gewonnen; die Hand zum Schutz gegen die
Sonne über den Augen, sah er an dem Apparat in die Höhe. Es war ein großer
Aufbau. Das Bett und der Zeichner hatten gleichen Umfang und sahen wie zwei
dunkle Truhen aus. Der Zeichner war etwa zwei Meter über dem Bett
angebracht; beide waren in den Ecken durch vier Messingstangen verbunden,
die in der Sonne fast Strahlen warfen. Zwischen den Truhen schwebte an einem
Stahlband die Egge.
Der Offizier hatte die frühere
Gleichgültigkeit des Reisenden kaum bemerkt, wohl aber hatte er für sein
jetzt beginnendes Interesse Sinn; er setzte deshalb in seinen Erklärungen
aus, um dem Reisenden zur ungestörten Betrachtung Zeit zu lassen. Der
Verurteilte ahmte den Reisenden nach; da er die Hand nicht über die Augen
legen konnte, blinzelte er mit freien Augen zur Höhe.
»Nun liegt also der Mann«,
sagte der Reisende, lehnte sich im Sessel zurück und kreuzte die Beine.
»Ja«, sagte der Offizier, schob
ein wenig die Mütze zurück und fuhr sich mit der Hand über das heiße
Gesicht, »nun hören Sie! Sowohl das Bett als auch der Zeichner haben ihre
eigene elektrische Batterie; das Bett braucht sie für sich selbst, der
Zeichner für die Egge. Sobald der Mann festgeschnallt ist, wird das Bett in
Bewegung gesetzt. Es zittert in winzigen, sehr schnellen Zuckungen
gleichzeitig seitlich wie auch auf und ab. Sie werden ähnliche Apparate in
Heilanstalten gesehen haben; nur sind bei unserem Bett alle Bewegungen genau
berechnet; sie müssen nämlich peinlich auf die Bewegungen der Egge
abgestimmt sein. Dieser Egge aber ist die eigentliche Ausführung des Urteils
überlassen.«
»Wie lautet denn das Urteil?«
fragte der Reisende. »Sie wissen auch das nicht?« sagte der Offizier
erstaunt und biß sich auf die Lippen: »Verzeihen Sie, wenn vielleicht meine
Erklärungen ungeordnet sind; ich bitte Sie sehr um Entschuldigung. Die
Erklärungen pflegte früher nämlich der Kommandant zu geben; der neue
Kommandant aber hat sich dieser Ehrenpflicht entzogen; dass er jedoch einen
so hohen Besuch« - der Reisende suchte die Ehrung mit beiden Händen
abzuwehren, aber der Offizier bestand auf dem Ausdruck - »einen so hohen
Besuch nicht einmal von der Form unseres Urteils in Kenntnis setzt, ist
wieder eine Neuerung, die - «, er hatte einen Fluch auf den Lippen, fasste
sich aber und sagte nur: »Ich wurde nicht davon verständigt, mich trifft
nicht die Schuld. übrigens bin ich allerdings am besten befähigt, unsere
Urteilsarten zu erklären, denn ich trage hier« - er schlug auf seine
Brusttasche - »die betreffenden Handzeichnungen des früheren Kommandanten.«
»Handzeichnungen des
Kommandanten selbst?« fragte der Reisende: »Hat er denn alles in sich
vereinigt? War er Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker, Zeichner?«
»Jawohl«, sagte der Offizier
kopfnickend, mit starrem, nachdenklichem Blick. Dann sah er prüfend seine
Hände an; sie schienen ihm nicht rein genug, um die Zeichnungen anzufassen;
er ging daher zum Kübel und wusch sie nochmals. Dann zog er eine kleine
Ledermappe hervor und sagte: »Unser Urteil klingt nicht streng. Dem
Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den
Leib geschrieben. Diesem Verurteilten zum Beispiel« - der Offizier zeigte
auf den Mann - »wird auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen
Vorgesetzten!«
Der Reisende sah flüchtig auf
den Mann hin; er hielt, als der Offizier auf ihn gezeigt hatte, den Kopf
gesenkt und schien alle Kraft des Gehörs anzuspannen, um etwas zu erfahren.
Aber die Bewegungen seiner wulstig aneinander gedrückten Lippen zeigten
offenbar, dass er nichts verstehen konnte. Der Reisende hatte verschiedenes
fragen wollen, fragte aber im Anblick des Mannes nur: »Kennt er sein
Urteil?« »Nein«, sagte der Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen
fortfahren, aber der Reisende unterbrach ihn: »Er kennt sein eigenes Urteil
nicht?« »Nein«, sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick,
als verlange er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte
dann: »Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem
Leib.« Der Reisende wollte schon verstummen, da fühlte er, wie der
Verurteilte seinen Blick auf ihn richtete; er schien zu fragen, ob er den
geschilderten Vorgang billigen könne. Darum beugte sich der Reisende, der
sich bereits zurückgelehnt hatte, wieder vor und fragte noch: »Aber dass er
überhaupt verurteilt wurde, das weiß er doch?« »Auch nicht«, sagte der
Offizier und lächelte den Reisenden an, als erwarte er nun von ihm noch
einige sonderbare Eröffnungen. »Nein«, sagte der Reisende und strich sich
über die Stirn hin, »dann weiß also der Mann auch jetzt noch nicht, wie
seine Verteidigung aufgenommen wurde?« »Er hat keine Gelegenheit gehabt,
sich zu verteidigen«, sagte der Offizier und sah abseits, als rede er zu
sich selbst und wolle den Reisenden durch Erzählung dieser ihm
selbstverständlichen Dinge nicht beschämen. »Er muss doch Gelegenheit gehabt
haben, sich zu verteidigen«, sagte der Reisende und stand vom Sessel auf.
Der Offizier erkannte, dass er
in Gefahr war, in der Erklärung des Apparates für lange Zeit aufgehalten zu
werden; er ging daher zum Reisenden, hing sich in seinen Arm, zeigte mit der
Hand auf den Verurteilten, der sich jetzt, da die Aufmerksamkeit so offenbar
auf ihn gerichtet war, stramm aufstellte - auch zog der Soldat die Kette an
-, und sagte: »Die Sache verhält sich folgendermaßen. Ich bin hier in der
Strafkolonie zum Richter bestellt. Trotz meiner Jugend. Denn ich stand auch
dem früheren Kommandanten in allen Strafsachen zur Seite und kenne auch den
Apparat am besten. Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld
ist immer zweifellos. Andere Gerichte können diesen Grundsatz nicht
befolgen, denn sie sind vielköpfig und haben auch noch höhere Gerichte über
sich. Das ist hier nicht der Fall, oder war es wenigstens nicht beim
früheren Kommandanten. Der neue hat allerdings schon Lust gezeigt, in mein
Gericht sich einzumischen, es ist mir aber bisher gelungen, ihn abzuwehren,
und wird mir auch weiter gelingen. - Sie wollten diesen Fall erklärt haben;
er ist so einfach wie alle. Ein Hauptmann hat heute morgens die Anzeige
erstattet, dass dieser Mann, der ihm als Diener zugeteilt ist und vor seiner
Türe schläft, den Dienst verschlafen hat. Er hat nämlich die Pflicht, bei
jedem Stundenschlag aufzustehen und vor der Tür des Hauptmanns zu
salutieren. Gewiss keine schwere Pflicht und eine notwendige, denn er soll
sowohl zur Bewachung als auch zur Bedienung frisch bleiben. Der Hauptmann
wollte in der gestrigen Nacht nachsehen, ob der Diener seine Pflicht
erfülle. Er öffnete Schlag zwei Uhr die Tür und fand ihn zusammengekrümmt
schlafen. Er holte die Reitpeitsche und schlug ihm über das Gesicht. Statt
nun aufzustehen und um Verzeihung zu bitten, fasste der Mann seinen Herrn bei
den Beinen, schüttelte ihn und rief: 'Wirf die Peitsche weg, oder ich fresse
dich.' - Das ist der Sachverhalt. Der Hauptmann kam vor einer Stunde zu mir,
ich schrieb seine Angaben auf und anschließend gleich das Urteil. Dann ließ
ich dem Mann die Ketten anlegen. Das alles war sehr einfach. Hätte ich den
Mann zuerst vorgerufen und ausgefragt, so wäre nur Verwirrung entstanden. Er
hätte gelogen, hätte, wenn es mir gelungen wäre, die Lügen zu widerlegen,
diese durch neue Lügen ersetzt und so fort. Jetzt aber halte ich ihn und
lasse ihn nicht mehr. - Ist nun alles erklärt? Aber die Zeit vergeht, die
Exekution sollte schon beginnen, und ich bin mit der Erklärung des Apparates
noch nicht fertig.« Er nötigte den Reisenden auf den Sessel nieder, trat
wieder zu dem Apparat und begann: »Wie Sie sehen, entspricht die Egge der
Form des Menschen; hier ist die Egge für den Oberkörper, hier sind die Eggen
für die Beine. Für den Kopf ist nur dieser kleine Stichel bestimmt. Ist
Ihnen das klar?« Er beugte sich freundlich zu dem Reisenden vor, bereit zu
den umfassendsten Erklärungen.
Der Reisende sah mit
gerunzelter Stirn die Egge an. Die Mitteilungen über das Gerichtsverfahren
hatten ihn nicht befriedigt. Immerhin musste er sich sagen, dass es sich hier
um eine Strafkolonie handelte, dass hier besondere Maßregeln notwendig waren
und dass man bis zum letzten militärisch vorgehen musste. Außerdem aber setzte
er einige Hoffnungen auf den neuen Kommandanten, der offenbar, allerdings
langsam, ein neues Verfahren einzuführen beabsichtigte, das dem beschränkten
Kopf dieses Offiziers nicht eingehen konnte. Aus diesem Gedankengang heraus
fragte der Reisende: »Wird der Kommandant der Exekution beiwohnen?« »Es ist
nicht Gewiss«, sagte der Offizier, durch die unvermittelte Frage peinlich
berührt, und seine freundliche Miene verzerrte sich: »Gerade deshalb müssen
wir uns beeilen. Ich werde sogar, so leid es mir tut, meine Erklärungen
abkürzen müssen. Aber ich könnte ja morgen, wenn der Apparat wieder
gereinigt ist - dass er so sehr beschmutzt wird, ist sein einziger Fehler -,
die näheren Erklärungen nachtragen. Jetzt also nur das Notwendigste. - Wenn
der Mann auf dem Bett liegt und dieses ins Zittern gebracht ist, wird die
Egge auf den Körper gesenkt. Sie stellt sich von selbst so ein, dass sie nur
knapp mit den Spitzen den Körper berührt; ist diese Einstellung vollzogen,
strafft sich sofort dieses Stahlseil zu einer Stange. Und nun beginnt das
Spiel. Ein Nichteingeweihter merkt äußerlich keinen Unterschied in den
Strafen. Die Egge scheint gleichförmig zu arbeiten. Zitternd sticht sie ihre
Spitzen in den Körper ein, der überdies vom Bett aus zittert. Um es nun
jedem zu ermöglichen, die Ausführung des Urteils zu überprüfen, wurde die
Egge aus Glas gemacht. Es hat einige technische Schwierigkeiten verursacht,
die Nadeln darin zu befestigen, es ist aber nach vielen Versuchen gelungen.
Wir haben eben keine Mühe gescheut. Und nun kann jeder durch das Glas sehen,
wie sich die Inschrift im Körper vollzieht. Wollen Sie nicht näher kommen und
sich die Nadeln ansehen?«
Der Reisende erhob sich
langsam, ging hin und beugte sich über die Egge. »Sie sehen«, sagte der
Offizier, »zweierlei Nadeln in vielfacher Anordnung. Jede lange hat eine
kurze neben sich. Die lange schreibt nämlich, und die kurze spritzt Wasser
aus, um das Blut abzuwaschen und die Schrift immer klar zu erhalten. Das
Blutwasser wird dann hier in kleine Rinnen geleitet und fließt endlich in
diese Hauptrinne, deren Abflussrohr in die Grube führt.« Der Offizier zeigte
mit dem Finger genau den Weg, den das Blutwasser nehmen musste. Als er es, um
es möglichst anschaulich zu machen, an der Mündung des Abflussrohres mit
beiden Händen förmlich auffing, erhob der Reisende den Kopf und wollte, mit
der Hand rückwärts tastend, zu seinem Sessel zurückgehen. Da sah er zu
seinem Schrecken, dass auch der Verurteilte gleich ihm der Einladung des
Offiziers, sich die Einrichtung der Egge aus der Nähe anzusehen, gefolgt
war. Er hatte den verschlafenen Soldaten an der Kette ein wenig vorgezerrt
und sich auch über das Glas gebeugt. Man sah, wie er mit unsicheren Augen
auch das suchte, was die zwei Herren eben beobachtet hatten, wie es ihm
aber, da ihm die Erklärung fehlte, nicht gelingen wollte. Er beugte sich
hierhin und dorthin. Immer wieder lief er mit den Augen das Glas ab. Der
Reisende wollte ihn zurücktreiben, denn, was er tat, war wahrscheinlich
strafbar. Aber der Offizier hielt den Reisenden mit einer Hand fest, nahm
mit der anderen eine Erdscholle vom Wall und warf sie nach dem Soldaten.
Dieser hob mit einem Ruck die Augen, sah, was der Verurteilte gewagt hatte,
ließ das Gewehr fallen, stemmte die Füße mit den Absätzen in den Boden, riss
den Verurteilten zurück, dass er gleich niederfiel, und sah dann auf ihn
hinunter, wie er sich wand und mit seinen Ketten klirrte. »Stell ihn auf!«
schrie der Offizier, denn er merkte, dass der Reisende durch den Verurteilten
allzu sehr abgelenkt wurde. Der Reisende beugte sich sogar über die Egge
hinweg, ohne sich um sie zu kümmern, und wollte nur feststellen, was mit dem
Verurteilten geschehe. »Behandle ihn sorgfältig!« schrie der Offizier
wieder. Er umlief den Apparat, fasste selbst den Verurteilten unter den
Achseln und stellte ihn, der öfters mit den Füßen ausglitt, mit Hilfe des
Soldaten auf.
»Nun weiß ich schon alles«,
sagte der Reisende, als der Offizier wieder zu ihm zurückkehrte. »Bis auf
das Wichtigste«, sagte dieser, ergriff den Reisenden am Arm und zeigte in
die Höhe: »Dort im Zeichner ist das Räderwerk, welches die Bewegung der Egge
bestimmt, und dieses Räderwerk wird nach der Zeichnung, auf welche das
Urteil lautet, angeordnet. Ich verwende noch die Zeichnungen des früheren
Kommandanten. Hier sind sie« - er zog einige Blätter aus der Ledermappe -,
»ich kann sie Ihnen aber leider nicht in die Hand geben, sie sind das
Teuerste, was ich habe. Setzen Sie sich, ich zeige sie Ihnen aus dieser
Entfernung, dann werden Sie alles gut sehen können.« Er zeigte das erste
Blatt. Der Reisende hätte gerne etwas Anerkennendes gesagt, aber er sah nur
labyrinthartige, einander vielfach kreuzende Linien, die so dicht das Papier
bedeckten, dass man nur mit Mühe die weißen Zwischenräume erkannte. »Lesen
Sie«, sagte der Offizier. »Ich kann nicht«, sagte der Reisende. »Es ist doch
deutlich«, sagte der Offizier. »Es ist sehr kunstvoll«, sagte der Reisende
ausweichend, »aber ich kann es nicht entziffern.« »Ja«, sagte der Offizier,
lachte und steckte die Mappe wieder ein, »es ist keine Schönschrift für
Schulkinder. Man muss lange darin lesen. Auch Sie würden es schließlich
Gewiss
erkennen. Es darf natürlich keine einfache Schrift sein; sie soll ja nicht
sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf
Stunden; für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet. Es müssen also
viele, viele Zierraten die eigentliche Schrift umgeben; die wirkliche Schrift
umzieht den Leib nur in einem schmalen Gürtel; der übrige Körper ist für
Verzierungen bestimmt. Können Sie jetzt die Arbeit der Egge und des ganzen
Apparates würdigen? - Sehen Sie doch!« Er sprang auf die Leiter, drehte ein
Rad, rief hinunter: »Achtung, treten Sie zur Seite!«, und alles kam in Gang.
Hätte das Rad nicht gekreischt, es wäre herrlich gewesen. Als sei der
Offizier von diesem störenden Rad überrascht, drohte er ihm mit der Faust,
breitete dann, sich entschuldigend, zum Reisenden hin die Arme aus und
kletterte eilig hinunter, um den Gang des Apparates von unten zu beobachten.
Noch war etwas nicht in Ordnung, das nur er merkte; er kletterte wieder
hinauf, griff mit beiden Händen in das Innere des Zeichners, glitt dann, um
rascher hinunterzukommen, statt die Leiter zu benutzen, an der einen Stange
hinunter und schrie nun, um sich im Lärm verständlich zu machen, mit
äußerster Anspannung dem Reisenden ins Ohr: »Begreifen Sie den Vorgang? Die
Egge fängt zu schreiben an; ist sie mit der ersten Anlage der Schrift auf
dem Rücken des Mannes fertig, rollt die Watteschicht und wälzt den Körper
langsam auf die Seite, um der Egge neuen Raum zu bieten. Inzwischen legen
sich die wundbeschriebenen Stellen auf die Watte, welche infolge der
besonderen Präparierung sofort die Blutung stillt und zu neuer Vertiefung
der Schrift vorbereitet. Hier die Zacken am Rande der Egge reißen dann beim
weiteren Umwälzen des Körpers die Watte von den Wunden, schleudern sie in
die Grube, und die Egge hat wieder Arbeit. So schreibt sie immer tiefer die
zwölf Stunden lang. Die ersten sechs Stunden lebt der Verurteilte fast wie
früher, er leidet nur Schmerzen. Nach zwei Stunden wird der Filz entfernt,
denn der Mann hat keine Kraft zum Schreien mehr. Hier in diesen elektrisch
geheizten Napf am Kopfende wird warmer Reisbrei gelegt, aus dem der Mann,
wenn er Lust hat, nehmen kann, was er mit der Zunge erhascht. Keiner
versäumt die Gelegenheit. Ich weiß keinen, und meine Erfahrung ist groß.
Erst um die sechste Stunde verliert er das Vergnügen am Essen. Ich knie dann
gewöhnlich hier nieder und beobachte diese Erscheinung. Der Mann schluckt
den letzten Bissen selten, er dreht ihn nur im Mund und speit ihn in die
Grube. Ich muss mich dann bücken, sonst fährt er mir ins Gesicht. Wie still
wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten
auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick,
der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht
ja weiter nichts, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er
spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die
Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit
seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu
ihrer Vollendung. Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft
ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht.
Dann ist das Gericht zu Ende, und wir, ich und der Soldat, scharren ihn
ein.«
Der Reisende hatte das Ohr zum
Offizier geneigt und sah, die Hände in den Rocktaschen, der Arbeit der
Maschine zu. Auch der Verurteilte sah ihr zu, aber ohne Verständnis. Er
bückte sich ein wenig und verfolgte die schwankenden Nadeln, als ihm der
Soldat, auf ein Zeichen des Offiziers, mit einem Messer hinten Hemd und Hose
durchschnitt, so dass sie von dem Verurteilten abfielen; er wollte nach dem
fallenden Zeug greifen, um seine Blöße zu bedecken, aber der Soldat hob ihn
in die Höhe und schüttelte die letzten Fetzen von ihm ab. Der Offizier
stellte die Maschine ein, und in der jetzt eintretenden Stille wurde der
Verurteilte unter die Egge gelegt. Die Ketten wurden gelöst und statt dessen
die Riemen befestigt; es schien für den Verurteilten im ersten Augenblick
fast wie eine Erleichterung zu bedeuten. Und nun senkte sich die Egge noch
ein Stück tiefer, denn es war ein magerer Mann. Als ihn die Spitzen
berührten, ging ein Schauer über seine Haut; er streckte, während der Soldat
mit seiner rechten Hand beschäftigt war, die linke aus, ohne zu wissen
wohin; es war aber die Richtung, wo der Reisende stand. Der Offizier sah
ununterbrochen den Reisenden von der Seite an, als suche er von seinem
Gesicht den Eindruck abzulesen, den die Exekution, die er ihm nun wenigstens
oberflächlich erklärt hatte, auf ihn mache.
Der Riemen, der für das
Handgelenk bestimmt war, riss; wahrscheinlich hatte ihn der Soldat zu stark
angezogen. Der Offizier sollte helfen, der Soldat zeigte ihm das abgerissene
Riemenstück. Der Offizier ging auch zu ihm hinüber und sagte, das Gesicht
dem Reisenden zugewendet: »Die Maschine ist sehr zusammengesetzt, es muss hie
und da etwas reißen oder brechen; dadurch darf man sich aber im Gesamturteil
nicht beirren lassen. Für den Riemen ist übrigens sofort Ersatz geschafft;
ich werde eine Kette verwenden; die Zartheit der Schwingung wird dadurch für
den rechten Arm allerdings beeinträchtigt.« Und während er die Ketten
anlegte, sagte er noch: »Die Mittel zur Erhaltung der Maschine sind jetzt
sehr eingeschränkt. Unter dem früheren Kommandanten war eine mir frei
zugängliche Kassa nur für diesen Zweck bestimmt. Es gab hier ein Magazin, in
dem alle möglichen Ersatzstücke aufbewahrt wurden. Ich gestehe, ich trieb
damit fast Verschwendung, ich meine früher, nicht jetzt, wie der neue
Kommandant behauptet, dem alles nur zum Vorwand dient, alte Einrichtungen zu
bekämpfen. Jetzt hat er die Maschinenkassa in eigener Verwaltung, und
schicke ich um einen neuen Riemen, wird der zerrissene als Beweisstück
verlangt, der neue kommt erst in zehn Tagen, ist dann aber von schlechterer
Sorte und taugt nicht viel. Wie ich aber in der Zwischenzeit ohne Riemen die
Maschine betreiben soll, darum kümmert sich niemand.«
Der Reisende überlegte: Es ist
immer bedenklich, in fremde Verhältnisse entscheidend einzugreifen. Er war
weder Bürger der Strafkolonie, noch Bürger des Staates, dem sie angehörte.
Wenn er die Exekution verurteilen oder gar hintertreiben wollte, konnte man
ihm sagen: Du bist ein Fremder, sei still. Darauf hätte er nichts erwidern,
sondern nur hinzufügen können, dass er sich in diesem Falle selbst nicht
begreife, denn er reise nur mit der Absicht, zu sehen, und keineswegs etwa,
um fremde Gerichtsverfassungen zu ändern. Nun lagen aber hier die Dinge
allerdings sehr verführerisch. Die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die
Unmenschlichkeit der Exekution war zweifellos. Niemand konnte irgendeine
Eigennützigkeit des Reisenden annehmen, denn der Verurteilte war ihm fremd,
kein Landsmann und ein zum Mitleid gar nicht auffordernder Mensch. Der
Reisende selbst hatte Empfehlungen hoher Ämter, war hier mit großer
Höflichkeit empfangen worden, und dass er zu dieser Exekution eingeladen
worden war, schien sogar darauf hinzudeuten, dass man sein Urteil über dieses
Gericht verlangte. Dies war aber um so wahrscheinlicher, als der Kommandant,
wie er jetzt überdeutlich gehört hatte, kein Anhänger dieses Verfahrens war
und sich gegenüber dem Offizier fast feindselig verhielt.
Da hörte der Reisende einen
Wutschrei des Offiziers. Er hatte gerade, nicht ohne Mühe, dem Verurteilten
den Filzstumpf in den Mund geschoben, als der Verurteilte in einem
unwiderstehlichen Brechreiz die Augen schloss und sich erbrach. Eilig riss ihn
der Offizier vom Stumpf in die Höhe und wollte den Kopf zur Grube hindrehen;
aber es war zu spät, der Unrat floss schon an der Maschine hinab. »Alles
Schuld des Kommandanten!« schrie der Offizier und rüttelte besinnungslos
vorn an den Messingstangen, »die Maschine wird mir verunreinigt wie ein
Stall.« Er zeigte mit zitternden Händen dem Reisenden, was geschehen war.
»Habe ich nicht stundenlang dem Kommandanten begreiflich zu machen gesucht,
dass einen Tag vor der Exekution kein Essen mehr verabfolgt werden soll. Aber
die neue milde Richtung ist anderer Meinung. Die Damen des Kommandanten
stopfen dem Mann, ehe er abgeführt wird, den Hals mit Zuckersachen voll.
Sein ganzes Leben hat er sich von stinkenden Fischen genährt und muss jetzt
Zuckersachen essen! Aber es wäre ja möglich, ich würde nichts einwenden,
aber warum schafft man nicht einen neuen Filz an, wie ich ihn seit einem
Vierteljahr erbitte. Wie kann man ohne Ekel diesen Filz in den Mund nehmen,
an dem mehr als hundert Männer im Sterben gesaugt und gebissen haben?«
Der Verurteilte hatte den Kopf
niedergelegt und sah friedlich aus, der Soldat war damit beschäftigt, mit
dem Hemd des Verurteilten die Maschine zu putzen. Der Offizier ging zum
Reisenden, der in irgendeiner Ahnung einen Schritt zurücktrat, aber der
Offizier fasste ihn bei der Hand und zog ihn zur Seite. »Ich will einige
Worte im Vertrauen mit Ihnen sprechen«, sagte er, »ich darf das doch?«
»Gewiss«, sagte der Reisende und hörte mit gesenkten Augen zu.
»Dieses Verfahren und diese
Hinrichtung, die Sie jetzt zu bewundern Gelegenheit haben, hat gegenwärtig
in unserer Kolonie keinen offenen Anhänger mehr. Ich bin ihr einziger
Vertreter, gleichzeitig der einzige Vertreter des Erbes des alten
Kommandanten. An einen weiteren Ausbau des Verfahrens kann ich nicht mehr
denken, ich verbrauche alle meine Kräfte, um zu erhalten, was vorhanden ist.
Als der alte Kommandant lebte, war die Kolonie von seinen Anhängern voll;
die Überzeugungskraft des alten Kommandanten habe ich zum Teil, aber seine
Macht fehlt mir ganz; infolgedessen haben sich die Anhänger verkrochen, es
gibt noch viele, aber keiner gesteht es ein. Wenn Sie heute, also an einem
Hinrichtungstag, ins Teehaus gehen und herumhorchen, werden Sie vielleicht
nur zweideutige Äußerungen hören. Das sind lauter Anhänger, aber unter dem
gegenwärtigen Kommandanten und bei seinen gegenwärtigen Anschauungen für
mich ganz unbrauchbar. Und nun frage ich Sie: Soll wegen dieses Kommandanten
und seiner Frauen, die ihn beeinflussen, ein solches Lebenswerk« - er zeigte
auf die Maschine - »zugrunde gehen? Darf man das zulassen? Selbst wenn man
nur als Fremder ein paar Tage auf unserer Insel ist? Es ist aber keine Zeit
zu verlieren, man bereitet schon etwas gegen meine Gerichtsbarkeit vor; es
finden schon Beratungen in der Kommandantur statt, zu denen ich nicht
zugezogen werde; sogar Ihr heutiger Besuch scheint mir für die ganze Lage
bezeichnend; man ist feig und schickt Sie, einen Fremden, vor. - Wie war die
Exekution anders in früherer Zeit! Schon einen Tag vor der Hinrichtung war
das ganze Tal von Menschen überfüllt; alle kamen nur um zu sehen; früh am
Morgen erschien der Kommandant mit seinen Damen; Fanfaren weckten den ganzen
Lagerplatz; ich erstattete die Meldung, dass alles vorbereitet sei; die
Gesellschaft - kein hoher Beamte durfte fehlen - ordnete sich um die
Maschine; dieser Haufen Rohrsessel ist ein armseliges Überbleibsel aus jener
Zeit. Die Maschine glänzte frisch geputzt, fast zu jeder Exekution nahm ich
neue Ersatzstücke. Vor Hunderten Augen - alle Zuschauer standen auf den
Fußspitzen bis dort zu den Anhöhen - wurde der Verurteilte vom Kommandanten
selbst unter die Egge gelegt. Was heute ein gemeiner Soldat tun darf, war
damals meine, des Gerichtspräsidenten, Arbeit und ehrte mich. Und nun begann
die Exekution! Kein Misston störte die Arbeit der Maschine. Manche sahen nun
gar nicht mehr zu, sondern lagen mit geschlossenen Augen im Sand; alle
wussten: jetzt geschieht Gerechtigkeit. In der Stille hörte man nur das
Seufzen des Verurteilten, gedämpft durch den Filz. Heute gelingt es der
Maschine nicht mehr, dem Verurteilten ein stärkeres Seufzen auszupressen,
als der Filz noch ersticken kann; damals aber tropften die schreibenden
Nadeln eine beizende Flüssigkeit aus, die heute nicht mehr verwendet werden
darf. Nun, und dann kam die sechste Stunde! Es war unmöglich, allen die
Bitte, aus der Nähe zuschauen zu dürfen, zu gewähren. Der Kommandant in
seiner Einsicht ordnete an, dass vor allem die Kinder berücksichtigt werden
sollten; ich allerdings durfte kraft meines Berufes immer dabeistehen; oft
hockte ich dort, zwei kleine Kinder rechts und links in meinen Armen. Wie
nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten Gesicht, wie
hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser endlich erreichten und schon
vergehenden Gerechtigkeit! Was für Zeiten, mein Kamerad!« Der Offizier hatte
offenbar vergessen, wer vor ihm stand; er hatte den Reisenden umarmt und den
Kopf auf seine Schulter gelegt. Der Reisende war in großer Verlegenheit,
ungeduldig sah er über den Offizier hinweg. Der Soldat hatte die
Reinigungsarbeit beendet und jetzt noch aus einer Büchse Reisbrei in den
Napf geschüttet. Kaum merkte dies der Verurteilte, der sich schon
vollständig erholt zu haben schien, als er mit der Zunge nach dem Brei zu
schnappen begann. Der Soldat stieß ihn immer wieder weg, denn der Brei war
wohl für eine spätere Zeit bestimmt, aber ungehörig war es jedenfalls auch,
dass der Soldat mit seinen schmutzigen Händen hineingriff und vor dem
gierigen Verurteilten davon aß.
Der Offizier fasste sich
schnell. »Ich wollte Sie nicht etwa rühren«, sagte er, »ich weiß, es ist
unmöglich, jene Zeiten heute begreiflich zu machen. Im übrigen arbeitet die
Maschine noch und wirkt für sich. Sie wirkt für sich, auch wenn sie allein
in diesem Tal steht. Und die Leiche fällt zum Schluss noch immer in dem
unbegreiflich sanften Flug in die Grube, auch wenn nicht, wie damals,
Hunderte wie Fliegen um die Grube sich versammeln. Damals mussten wir ein
starkes Geländer um die Grube anbringen, es ist längst weggerissen.«
Der Reisende wollte sein
Gesicht dem Offizier entziehen und blickte ziellos herum. Der Offizier
glaubte, er betrachte die Öde des Tales; er ergriff deshalb seine Hände,
drehte sich um ihn, um seine Blicke zu erfassen, und fragte: »Merken Sie die
Schande?«
Aber der Reisende schwieg. Der
Offizier ließ für ein Weilchen von ihm ab; mit auseinander gestellten Beinen,
die Hände in den Hüften, stand er still und blickte zu Boden. Dann lächelte
er dem Reisenden aufmunternd zu und sagte: »Ich war gestern in Ihrer Nähe,
als der Kommandant Sie einlud. Ich hörte die Einladung. Ich kenne den
Kommandanten. Ich verstand sofort, was er mit der Einladung bezweckte.
Trotzdem seine Macht groß genug wäre, um gegen mich einzuschreiten, wagt er
es noch nicht, wohl aber will er mich Ihrem, dem Urteil eines angesehenen
Fremden aussetzen. Seine Berechnung ist sorgfältig; Sie sind den zweiten Tag
auf der Insel, Sie kannten den alten Kommandanten und seinen Gedankenkreis
nicht, Sie sind in europäischen Anschauungen befangen, vielleicht sind Sie
ein grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe im allgemeinen und einer
derartigen maschinellen Hinrichtungsart im besonderen, Sie sehen überdies,
wie die Hinrichtung ohne öffentliche Anteilnahme, traurig, auf einer bereits
etwas beschädigten Maschine vor sich geht - wäre es nun, alles dieses
zusammengenommen (so denkt der Kommandant), nicht sehr leicht möglich, dass
Sie mein Verfahren nicht für richtig halten? Und wenn Sie es nicht für
richtig halten, werden Sie dies (ich rede noch immer im Sinne des
Kommandanten) nicht verschweigen, denn Sie vertrauen doch Gewiss Ihren
vielerprobten Überzeugungen. Sie haben allerdings viele Eigentümlichkeiten
vieler Völker gesehen und achten gelernt, Sie werden daher wahrscheinlich
sich nicht mit ganzer Kraft, wie Sie es vielleicht in Ihrer Heimat tun
würden, gegen das Verfahren aussprechen. Aber dessen bedarf der Kommandant
gar nicht. Ein flüchtiges, ein bloß unvorsichtiges Wort genügt. Es muss gar
nicht Ihrer Überzeugung entsprechen, wenn es nur scheinbar seinem Wunsche
entgegenkommt. dass er Sie mit aller Schlauheit ausfragen wird, dessen bin
ich Gewiss. Und seine Damen werden im Kreis herumsitzen und die Ohren
spitzen; Sie werden etwa sagen: 'Bei uns ist das Gerichtsverfahren ein
anderes', oder 'Bei uns wird der Angeklagte vor dem Urteil verhört', oder
'Bei uns gab es Folterungen nur im Mittelalter'. Das alles sind Bemerkungen,
die ebenso richtig sind, als sie Ihnen selbstverständlich erscheinen,
unschuldige Bemerkungen, die mein Verfahren nicht antasten. Aber wie wird
sie der Kommandant aufnehmen? Ich sehe ihn, den guten Kommandanten, wie er
sofort den Stuhl beiseite schiebt und auf den Balkon eilt, ich sehe seine
Damen, wie sie ihm nachströmen, ich höre seine Stimme - die Damen nennen sie
eine Donnerstimme -, nun, und er spricht: 'Ein großer Forscher des
Abendlandes, dazu bestimmt, das Gerichtsverfahren in allen Ländern zu
überprüfen, hat eben gesagt, dass unser Verfahren nach altem Brauch ein
unmenschliches ist. Nach diesem Urteil einer solchen Persönlichkeit ist es
mir natürlich nicht mehr möglich, dieses Verfahren zu dulden. Mit dem
heutigen Tage also ordne ich an - und so weiter.' Sie wollen eingreifen, Sie
haben nicht das gesagt, was er verkündet, Sie haben mein Verfahren nicht
unmenschlich genannt, im Gegenteil, Ihrer tiefen Einsicht entsprechend,
halten Sie es für das menschlichste und menschenwürdigste, Sie bewundern
auch diese Maschinerie - aber es ist zu spät; Sie kommen gar nicht auf den
Balkon, der schon voll Damen ist; Sie wollen sich bemerkbar machen; Sie
wollen schreien; aber eine Damenhand hält Ihnen den Mund zu - und ich und
das Werk des alten Kommandanten sind verloren.«
Der Reisende musste ein Lächeln
unterdrücken; so leicht war also die Aufgabe, die er für so schwer gehalten
hatte. Er sagte ausweichend: »Sie überschätzen meinen Einfluss; der
Kommandant hat mein Empfehlungsschreiben gelesen, er weiß, dass ich kein
Kenner der gerichtlichen Verfahren bin. Wenn ich eine Meinung aussprechen
würde, so wäre es die Meinung eines Privatmannes, um nichts bedeutender als
die Meinung eines beliebigen anderen, und jedenfalls viel bedeutungsloser
als die Meinung des Kommandanten, der in dieser Strafkolonie, wie ich zu
wissen glaube, sehr ausgedehnte Rechte hat. Ist seine Meinung über dieses
Verfahren eine so bestimmte, wie Sie glauben, dann, fürchte ich, ist
allerdings das Ende dieses Verfahrens gekommen, ohne dass es meiner
bescheidenen Mithilfe bedürfte.«
Begriff es schon der Offizier?
Nein, er begriff noch nicht. Er schüttelte lebhaft den Kopf, sah kurz nach
dem Verurteilten und dem Soldaten zurück, die zusammenzuckten und vom Reis
abließen, ging ganz nahe an den Reisenden heran, blickte ihm nicht ins
Gesicht, sondern irgendwohin auf seinen Rock und sagte leiser als früher:
»Sie kennen den Kommandanten nicht; Sie stehen ihm und uns allen - verzeihen
Sie den Ausdruck - gewissermaßen harmlos gegenüber; Ihr Einfluss, glauben Sie
mir, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ich war ja glückselig, als
ich hörte, dass Sie allein der Exekution beiwohnen sollten. Diese Anordnung
des Kommandanten sollte mich treffen, nun aber wende ich sie zu meinen
Gunsten. Unabgelenkt von falschen Einflüsterungen und verächtlichen Blicken
- wie sie bei größerer Teilnahme an der Exekution nicht hätten vermieden
werden können - haben Sie meine Erklärungen angehört, die Maschine gesehen
und sind nun im Begriffe, die Exekution zu besichtigen. Ihr Urteil steht
Gewiss schon fest; sollten noch kleine Unsicherheiten bestehen, so wird sie
der Anblick der Exekution beseitigen. Und nun stelle ich an Sie die Bitte:
helfen Sie mir gegenüber dem Kommandanten!«
Der Reisende ließ ihn nicht
weiterreden. »Wie könnte ich denn das«, rief er aus, »das ist ganz
unmöglich. Ich kann Ihnen ebenso wenig nützen, als ich Ihnen schaden kann.«
»Sie können es«, sagte der
Offizier. Mit einiger Befürchtung sah der Reisende, dass der Offizier die
Fäuste ballte. »Sie können es«, wiederholte der Offizier noch dringender.
»Ich habe einen Plan, der gelingen muss. Sie glauben, Ihr Einfluss genüge
nicht. Ich weiß, dass er genügt. Aber zugestanden, dass Sie recht haben, ist
es dann nicht notwendig, zur Erhaltung dieses Verfahrens alles, selbst das
möglicherweise Unzureichende zu versuchen? Hören Sie also meinen Plan. Zu
seiner Ausführung ist es vor allem nötig, dass Sie heute in der Kolonie mit
Ihrem Urteil über das Verfahren möglichst zurückhalten. Wenn man Sie nicht
geradezu fragt, dürfen Sie sich keinesfalls äußern; Ihre Äußerungen aber
müssen kurz und unbestimmt sein; man soll merken, dass es Ihnen schwer wird,
darüber zu sprechen, dass Sie verbittert sind, dass Sie, falls Sie offen reden
sollten, geradezu in Verwünschungen ausbrechen müssten. Ich verlange nicht,
dass Sie lügen sollen; keineswegs; Sie sollen nur kurz antworten, etwa: 'Ja,
ich habe die Exekution gesehen', oder 'Ja, ich habe alle Erklärungen
gehört'. Nur das, nichts weiter. Für die Verbitterung, die man Ihnen
anmerken soll, ist ja genügend Anlass, wenn auch nicht im Sinne des
Kommandanten. Er natürlich wird es vollständig missverstehen und in seinem
Sinne deuten. Darauf gründet sich mein Plan. Morgen findet in der
Kommandantur unter dem Vorsitz des Kommandanten eine große Sitzung aller
höheren Verwaltungsbeamten statt. Der Kommandant hat es natürlich
verstanden, aus solchen Sitzungen eine Schaustellung zu machen. Es wurde
eine Galerie gebaut, die mit Zuschauern immer besetzt ist. Ich bin
gezwungen, an den Beratungen teilzunehmen, aber der Widerwille schüttelt
mich. Nun werden Sie Gewiss auf jeden Fall zu der Sitzung eingeladen werden;
wenn Sie sich heute meinem Plane gemäß verhalten, wird die Einladung zu
einer dringenden Bitte werden. Sollten Sie aber aus irgendeinem
unerfindlichen Grunde doch nicht eingeladen werden, so müssten Sie allerdings
die Einladung verlangen; dass Sie sie dann erhalten, ist zweifellos. Nun
sitzen Sie also morgen mit den Damen in der Loge des Kommandanten. Er
versichert sich öfters durch Blicke nach oben, dass Sie da sind. Nach
verschiedenen gleichgültigen, lächerlichen, nur für die Zuhörer berechneten
Verhandlungsgegenständen - meistens sind es Hafenbauten, immer wieder
Hafenbauten! - kommt auch das Gerichtsverfahren zur Sprache. Sollte es von
seiten des Kommandanten nicht oder nicht bald genug geschehen, so werde ich
dafür sorgen, dass es geschieht. Ich werde aufstehen und die Meldung von der
heutigen Exekution erstatten. Ganz kurz, nur diese Meldung. Eine solche
Meldung ist zwar dort nicht üblich, aber ich tue es doch. Der Kommandant
dankt mir, wie immer, mit freundlichem Lächeln, und nun, er kann sich nicht
zurückhalten, erfasst er die gute Gelegenheit. 'Es wurde eben', so oder
ähnlich wird er sprechen, 'die Meldung von der Exekution erstattet. Ich
möchte dieser Meldung nur hinzufügen, dass gerade dieser Exekution der große
Forscher beigewohnt hat, von dessen unsere Kolonie so außerordentlich
ehrendem Besuch Sie alle wissen. Auch unsere heutige Sitzung ist durch seine
Anwesenheit in ihrer Bedeutung erhöht. Wollen wir nun nicht an diesen großen
Forscher die Frage richten, wie er die Exekution nach altem Brauch und das
Verfahren, das ihr vorausgeht, beurteilt?' Natürlich überall
Beifallklatschen, allgemeine Zustimmung, ich bin der Lauteste. Der
Kommandant verbeugt sich vor Ihnen und sagt: 'Dann stelle ich im Namen aller
die Frage.' Und nun treten Sie an die Brüstung. Legen Sie die Hände für alle
sichtbar hin, sonst fassen sie die Damen und spielen mit den Fingern. - Und
jetzt kommt endlich Ihr Wort. Ich weiß nicht, wie ich die Spannung der
Stunden bis dahin ertragen werde. In Ihrer Rede müssen Sie sich keine
Schranken setzen, machen Sie mit der Wahrheit Lärm, beugen Sie sich über die
Brüstung, brüllen Sie, aber ja, brüllen Sie dem Kommandanten Ihre Meinung,
Ihre unerschütterliche Meinung zu. Aber vielleicht wollen Sie das nicht, es
entspricht nicht Ihrem Charakter, in Ihrer Heimat verhält man sich
vielleicht in solchen Lagen anders, auch das ist richtig, auch das genügt
vollkommen, stehen Sie gar nicht auf, sagen Sie nur ein paar Worte, flüstern
Sie sie, dass sie gerade noch die Beamten unter Ihnen hören, es genügt, Sie
müssen gar nicht selbst von der mangelnden Teilnahme an der Exekution, von
dem kreischenden Rad, dem zerrissenen Riemen, dem widerlichen Filz reden,
nein, alles Weitere übernehme ich, und, glauben Sie, wenn meine Rede ihn
nicht aus dem Saale jagt, so wird sie ihn auf die Knie zwingen, dass er
bekennen muss: Alter Kommandant, vor dir beuge ich mich. - Das ist mein Plan;
wollen Sie mir zu seiner Ausführung helfen? Aber natürlich wollen Sie, mehr
als das, Sie müssen.« Und der Offizier fasste den Reisenden an beiden Armen
und sah ihm schwer atmend ins Gesicht. Die letzten Sätze hatte er so
geschrien, dass selbst der Soldat und der Verurteilte aufmerksam geworden
waren; trotzdem sie nichts verstehen konnten, hielten sie doch im Essen inne
und sahen kauend zum Reisenden hinüber.
Die Antwort, die er zu geben
hatte, war für den Reisenden von allem Anfang an zweifellos; er hatte in
seinem Leben zu viel erfahren, als dass er hier hätte schwanken können; er
war im Grunde ehrlich und hatte keine Furcht. Trotzdem zögerte er jetzt im
Anblick des Soldaten und des Verurteilten einen Atemzug lang. Schließlich
aber sagte er, wie er musste: »Nein.« Der Offizier blinzelte mehrmals mit den
Augen, ließ aber keinen Blick von ihm. »Wollen Sie eine Erklärung?« fragte
der Reisende. Der Offizier nickte stumm. »Ich bin ein Gegner dieses
Verfahrens«, sagte nun der Reisende, »noch ehe Sie mich ins Vertrauen zogen
- dieses Vertrauen werde ich natürlich unter keinen Umständen missbrauchen -,
habe ich schon überlegt, ob ich berechtigt wäre, gegen dieses Verfahren
einzuschreiten, und ob mein Einschreiten auch nur eine kleine Aussicht auf
Erfolg haben könnte. An wen ich mich dabei zuerst wenden müsste, war mir
klar: an den Kommandanten natürlich. Sie haben es mir noch klarer gemacht,
ohne aber etwa meinen Entschluss erst befestigt zu haben, im Gegenteil, Ihre
ehrliche Überzeugung geht mir nahe, wenn sie mich auch nicht beirren kann.«
Der Offizier blieb stumm,
wendete sich der Maschine zu, fasste eine der Messingstangen und sah dann,
ein wenig zurückgebeugt, zum Zeichner hinauf, als prüfe er, ob alles in
Ordnung sei. Der Soldat und der Verurteilte schienen sich miteinander
befreundet zu haben; der Verurteilte machte, so schwierig dies bei der
festen Einschnallung durchzuführen war, dem Soldaten Zeichen; der Soldat
beugte sich zu ihm; der Verurteilte flüsterte ihm etwas zu, und der Soldat
nickte. Der Reisende ging dem Offizier nach und sagte: »Sie wissen noch
nicht, was ich tun will. Ich werde meine Ansicht über das Verfahren dem
Kommandanten zwar sagen, aber nicht in einer Sitzung, sondern unter vier
Augen; ich werde auch nicht so lange hier bleiben, dass ich irgendeiner
Sitzung beigezogen werden könnte; ich fahre schon morgen früh weg oder
schiffe mich wenigstens ein.«
Es sah nicht aus, als ob der
Offizier zugehört hätte. »Das Verfahren hat Sie also nicht überzeugt«, sagte
er für sich und lächelte, wie ein Alter über den Unsinn eines Kindes lächelt
und hinter dem Lächeln sein eigenes wirkliches Nachdenken behält.
»Dann ist es also Zeit«, sagte
er schließlich und blickte plötzlich mit hellen Augen, die irgendeine
Aufforderung, irgendeinen Aufruf zur Beteiligung enthielten, den Reisenden
an. »Wozu ist es Zeit?« fragte der Reisende unruhig, bekam aber keine
Antwort.
»Du bist frei«, sagte der
Offizier zum Verurteilten in dessen Sprache. Dieser glaubte es zuerst nicht.
»Nun, frei bist du«, sagte der Offizier. Zum ersten Mal bekam das Gesicht des
Verurteilten wirkliches Leben. War es Wahrheit? War es nur eine Laune des
Offiziers, die vorübergehen konnte? Hatte der fremde Reisende ihm Gnade
erwirkt? Was war es? So schien sein Gesicht zu fragen. Aber nicht lange. Was
immer es sein mochte, er wollte, wenn er durfte, wirklich frei sein und er
begann sich zu rütteln, soweit es die Egge erlaubte.
»Du zerreißt mir die Riemen«,
schrie der Offizier, »sei ruhig! Wir öffnen sie schon.« Und er machte sich
mit dem Soldaten, dem er ein Zeichen gab, an die Arbeit. Der Verurteilte
lachte ohne Worte leise vor sich hin, bald wendete er das Gesicht links zum
Offizier, bald rechts zum Soldaten, auch den Reisenden vergaß er nicht.
»Zieh ihn heraus«, befahl der
Offizier dem Soldaten. Es musste hiebei wegen der Egge einige Vorsicht
angewendet werden. Der Verurteilte hatte schon infolge seiner Ungeduld
einige kleine Risswunden auf dem Rücken.
Von jetzt ab kümmerte sich aber
der Offizier kaum mehr um ihn. Er ging auf den Reisenden zu, zog wieder die
kleine Ledermappe hervor, blätterte in ihr, fand schließlich das Blatt, das
er suchte, und zeigte es dem Reisenden. »Lesen Sie«, sagte er. »Ich kann
nicht«, sagte der Reisende, »ich sagte schon, ich kann diese Blätter nicht
lesen.« »Sehen Sie das Blatt doch genau an«, sagte der Offizier und trat
neben den Reisenden, um mit ihm zu lesen. Als auch das nichts half, fuhr er
mit dem kleinen Finger in großer Höhe, als dürfe das Blatt auf keinen Fall
berührt werden, über das Papier hin, um auf diese Weise dem Reisenden das
Lesen zu erleichtern. Der Reisende gab sich auch Mühe, um wenigstens darin
dem Offizier gefällig sein zu können, aber es war ihm unmöglich. Nun begann
der Offizier die Aufschrift zu buchstabieren und dann las er sie noch einmal
im Zusammenhang. »'Sei gerecht!' - heißt es«, sagte er, »jetzt können Sie es
doch lesen.« Der Reisende beugte sich so tief über das Papier, dass der
Offizier aus Angst vor einer Berührung es weiter entfernte; nun sagte der
Reisende zwar nichts mehr, aber es war klar, dass er es noch immer nicht
hatte lesen können. »'Sei gerecht!' - heißt es«, sagte der Offizier
nochmals. »Mag sein«, sagte der Reisende, »ich glaube es, dass es dort
steht.« »Nun gut«, sagte der Offizier, wenigstens teilweise befriedigt, und
stieg mit dem Blatt auf die Leiter; er bettete das Blatt mit großer Vorsicht
im Zeichner und ordnete das Räderwerk scheinbar gänzlich um; es war eine
sehr mühselige Arbeit, es musste sich auch um ganz kleine Räder handeln,
manchmal verschwand der Kopf des Offiziers völlig im Zeichner, so genau
musste er das Räderwerk untersuchen.
Der Reisende verfolgte von
unten diese Arbeit ununterbrochen, der Hals wurde ihm steif, und die Augen
schmerzten ihn von dem mit Sonnenlicht überschütteten Himmel. Der Soldat und
der Verurteilte waren nur miteinander beschäftigt. Das Hemd und die Hose des
Verurteilten, die schon in der Grube lagen, wurden vom Soldaten mit der
Bajonettspitze herausgezogen. Das Hemd war entsetzlich schmutzig, und der
Verurteilte wusch es in dem Wasserkübel. Als er dann Hemd und Hose anzog,
musste der Soldat wie der Verurteilte laut lachen, denn die Kleidungsstücke
waren doch hinten entzweigeschnitten. Vielleicht glaubte der Verurteilte,
verpflichtet zu sein, den Soldaten zu unterhalten, er drehte sich in der
zerschnittenen Kleidung im Kreise vor dem Soldaten, der auf dem Boden hockte
und lachend auf seine Knie schlug. Immerhin bezwangen sie sich noch mit
Rücksicht auf die Anwesenheit der Herren.
Als der Offizier oben endlich
fertig geworden war, überblickte er noch einmal lächelnd das Ganze in allen
seinen Teilen, schlug diesmal den Deckel des Zeichners zu, der bisher offen
gewesen war, stieg hinunter, sah in die Grube und dann auf den Verurteilten,
merkte befriedigt, dass dieser seine Kleidung herausgenommen hatte, ging dann
zu dem Wasserkübel, um die Hände zu waschen, erkannte zu spät den
widerlichen Schmutz, war traurig darüber, dass er nun die Hände nicht waschen
konnte, tauchte sie schließlich - dieser Ersatz genügte ihm nicht, aber er
musste sich fügen - in den Sand, stand dann auf und begann seinen Uniformrock
aufzuknöpfen. Hierbei fielen ihm zunächst die zwei Damentaschentücher, die
er hinter den Kragen gezwängt hatte, in die Hände. »Hier hast du deine
Taschentücher«, sagte er und warf sie dem Verurteilten zu. Und zum Reisenden
sagte er erklärend: »Geschenke der Damen.«
Trotz der offenbaren Eile, mit
der er den Uniformrock auszog und sich dann vollständig entkleidete,
behandelte er doch jedes Kleidungsstück sehr sorgfältig, über die
Silberschnüre an seinem Waffenrock strich er sogar eigens mit den Fingern
hin und schüttelte eine Troddel zurecht. Wenig passte es allerdings zu dieser
Sorgfalt, dass er, sobald er mit der Behandlung eines Stückes fertig war, es
dann sofort mit einem unwilligen Ruck in die Grube warf. Das letzte, was ihm
übrig blieb, war sein kurzer Degen mit dem Tragriemen. Er zog den Degen aus
der Scheide, zerbrach ihn, fasste dann alles zusammen, die Degenstücke, die
Scheide und den Riemen, und warf es so heftig weg, dass es unten in der Grube
aneinander klang.
Nun stand er nackt da. Der
Reisende biß sich auf die Lippen und sagte nichts. Er wusste zwar, was
geschehen würde, aber er hatte kein Recht, den Offizier an irgend etwas zu
hindern. War das Gerichtsverfahren, an dem der Offizier hing, wirklich so
nahe daran, behoben zu werden - möglicherweise infolge des Einschreitens des
Reisenden, zu dem sich dieser seinerseits verpflichtet fühlte -, dann
handelte jetzt der Offizier vollständig richtig; der Reisende hätte an
seiner Stelle nicht anders gehandelt.
Der Soldat und der Verurteilte
verstanden zuerst nichts, sie sahen anfangs nicht einmal zu. Der Verurteilte
war sehr erfreut darüber, die Taschentücher zurückerhalten zu haben, aber er
durfte sich nicht lange an ihnen freuen, denn der Soldat nahm sie ihm mit
einem raschen, nicht vorherzusehenden Griff. Nun versuchte wieder der
Verurteilte, dem Soldaten die Tücher hinter dem Gürtel, hinter dem er sie
verwahrt hatte, hervorzuziehen, aber der Soldat war wachsam. So stritten sie
in halbem Scherz. Erst als der Offizier vollständig nackt war, wurden sie
aufmerksam. Besonders der Verurteilte schien von der Ahnung irgendeines
großen Umschwungs getroffen zu sein. Was ihm geschehen war, geschah nun dem
Offizier. Vielleicht würde es so bis zum Äußersten gehen. Wahrscheinlich
hatte der fremde Reisende den Befehl dazu gegeben. Das war also Rache. Ohne
selbst bis zum Ende gelitten zu haben, wurde er doch bis zum Ende gerächt.
Ein breites lautloses Lachen erschien nun auf seinem Gesicht und verschwand
nicht mehr.
Der Offizier aber hatte sich
der Maschine zugewendet. Wenn es schon früher deutlich gewesen war, dass er
die Maschine gut verstand, so konnte es jetzt einen fast bestürzt machen,
wie er mit ihr umging und wie sie gehorchte. Er hatte die Hand der Egge nur
genähert, und sie hob und senkte sich mehrmals, bis sie die richtige Lage
erreicht hatte, um ihn zu empfangen; er fasste das Bett nur am Rande, und es
fing schon zu zittern an; der Filzstumpf kam seinem Mund entgegen, man sah,
wie der Offizier ihn eigentlich nicht haben wollte, aber das Zögern dauerte
nur einen Augenblick, gleich fügte er sich und nahm ihn auf. Alles war
bereit, nur die Riemen hingen noch an den Seiten herunter, aber sie waren
offenbar unnötig, der Offizier musste nicht angeschnallt sein. Da bemerkte
der Verurteilte die losen Riemen, seiner Meinung nach war die Exekution
nicht vollkommen, wenn die Riemen nicht festgeschnallt waren, er winkte
eifrig dem Soldaten, und sie liefen hin, den Offizier anzuschnallen. Dieser
hatte schon den einen Fuß ausgestreckt, um in die Kurbel zu stoßen, die den
Zeichner in Gang bringen sollte; da sah er, dass die zwei gekommen waren; er
zog daher den Fuß zurück und ließ sich anschnallen. Nun konnte er allerdings
die Kurbel nicht mehr erreichen; weder der Soldat noch der Verurteilte
würden sie auffinden, und der Reisende war entschlossen, sich nicht zu
rühren. Es war nicht nötig; kaum waren die Riemen angebracht, fing auch
schon die Maschine zu arbeiten an; das Bett zitterte, die Nadeln tanzten auf
der Haut, die Egge schwebte auf und ab. Der Reisende hatte schon eine Weile
hingestarrt, ehe er sich erinnerte, dass ein Rad im Zeichner hätte kreischen
sollen; aber alles war still, nicht das geringste Surren war zu hören.
Durch diese stille Arbeit
entschwand die Maschine förmlich der Aufmerksamkeit. Der Reisende sah zu dem
Soldaten und dem Verurteilten hinüber. Der Verurteilte war der Lebhaftere,
alles an der Maschine interessierte ihn, bald beugte er sich nieder, bald
streckte er sich, immerfort hatte er den Zeigefinger ausgestreckt, um dem
Soldaten etwas zu zeigen. Dem Reisenden war es peinlich. Er war
entschlossen, hier bis zum Ende zu bleiben, aber den Anblick der zwei hätte
er nicht lange ertragen. »Geht nach Hause«, sagte er. Der Soldat wäre dazu
vielleicht bereit gewesen, aber der Verurteilte empfand den Befehl geradezu
als Strafe. Er bat flehentlich mit gefalteten Händen, ihn hier zu lassen,
und als der Reisende kopfschüttelnd nicht nachgeben wollte, kniete er sogar
nieder. Der Reisende sah, dass Befehle hier nichts halfen, er wollte hinüber
und die zwei vertreiben. Da hörte er oben im Zeichner ein Geräusch. Er sah
hinauf. Störte also das Zahnrad doch? Aber es war etwas anderes. Langsam hob
sich der Deckel des Zeichners und klappte dann vollständig auf. Die Zacken
eines Zahnrades zeigten und hoben sich, bald erschien das ganze Rad, es war,
als presse irgendeine große Macht den Zeichner zusammen, so dass für dieses
Rad kein Platz mehr übrig blieb, das Rad drehte sich bis zum Rand des
Zeichners, fiel hinunter, kollerte aufrecht ein Stück im Sand und blieb dann
liegen. Aber schon stieg oben ein anderes auf, ihm folgten viele, große,
kleine und kaum zu unterscheidende, mit allen geschah dasselbe, immer
glaubte man, nun müsse der Zeichner jedenfalls schon entleert sein, da
erschien eine neue, besonders zahlreiche Gruppe, stieg auf, fiel hinunter,
kollerte im Sand und legte sich. Über diesem Vorgang vergaß der Verurteilte
ganz den Befehl des Reisenden, die Zahnräder entzückten ihn völlig, er
wollte immer eines fassen, trieb gleichzeitig den Soldaten an, ihm zu
helfen, zog aber erschreckt die Hand zurück, denn es folgte gleich ein
anderes Rad, das ihn, wenigstens im ersten Anrollen, erschreckte.
Der Reisende dagegen war sehr
beunruhigt; die Maschine ging offenbar in Trümmer; ihr ruhiger Gang war eine
Täuschung; er hatte das Gefühl, als müsse er sich jetzt des Offiziers
annehmen, da dieser nicht mehr für sich selbst sorgen konnte. Aber während
der Fall der Zahnräder seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, hatte er
versäumt, die übrige Maschine zu beaufsichtigen; als er jedoch jetzt,
nachdem das letzte Zahnrad den Zeichner verlassen hatte, sich über die Egge
beugte, hatte er eine neue, noch ärgere Überraschung. Die Egge schrieb
nicht, sie stach nur, und das Bett wälzte den Körper nicht, sondern hob ihn
nur zitternd in die Nadeln hinein. Der Reisende wollte eingreifen,
möglicherweise das Ganze zum Stehen bringen, das war ja keine Folter, wie
sie der Offizier erreichen wollte, das war unmittelbarer Mord. Er streckte
die Hände aus. Da hob sich aber schon die Egge mit dem aufgespießten Körper
zur Seite, wie sie es sonst erst in der zwölften Stunde tat. Das Blut floss
in hundert Strömen, nicht mit Wasser vermischt, auch die Wasserröhrchen
hatten diesmal versagt. Und nun versagte noch das Letzte, der Körper löste
sich von den Nadeln nicht, strömte sein Blut aus, hing aber über der Grube,
ohne zu fallen. Die Egge wollte schon in ihre alte Lage zurückkehren, aber
als merke sie selbst, dass sie von ihrer Last noch nicht befreit sei, blieb
sie doch über der Grube. »Helft doch!« schrie der Reisende zum Soldaten und
zum Verurteilten hinüber und fasste selbst die Füße des Offiziers. Er wollte
sich hier gegen die Füße drücken, die zwei sollten auf der anderen Seite den
Kopf des Offiziers fassen, und so sollte er langsam von den Nadeln gehoben
werden. Aber nun konnten sich die zwei nicht entschließen zu kommen; der
Verurteilte drehte sich geradezu um; der Reisende musste zu ihnen
hinübergehen und sie mit Gewalt zu dem Kopf des Offiziers drängen. Hierbei
sah er fast gegen Willen das Gesicht der Leiche. Es war, wie es im Leben
gewesen war; kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken; was
alle anderen in der Maschine gefunden hatten, der Offizier fand es nicht;
die Lippen waren fest zusammengedrückt, die Augen waren offen, hatten den
Ausdruck des Lebens, der Blick war ruhig und überzeugt, durch die Stirn ging
die Spitze des großen eisernen Stachels.
***
Als der Reisende, mit dem
Soldaten und dem Verurteilten hinter sich, zu den ersten Häusern der Kolonie
kam, zeigte der Soldat auf eins und sagte: »Hier ist das Teehaus.«
Im Erdgeschoß eines Hauses war ein tiefer, niedriger, höhlenartiger, an den
Wänden und an der Decke verräucherter Raum. Gegen die Straße zu war er in
seiner ganzen Breite offen. Trotzdem sich das Teehaus von den übrigen
Häusern der Kolonie, die bis auf die Palastbauten der Kommandantur alle sehr
verkommen waren, wenig unterschied, übte es auf den Reisenden doch den
Eindruck einer historischen Erinnerung aus, und er fühlte die Macht der
früheren Zeiten. Er trat näher heran, ging, gefolgt von seinen Begleitern,
zwischen den unbesetzten Tischen hindurch, die vor dem Teehaus auf der
Straße standen, und atmete die kühle, dumpfige Luft ein, die aus dem Innern
kam. »Der Alte ist hier begraben«, sagte der Soldat, »ein Platz auf dem
Friedhof ist ihm vom Geistlichen verweigert worden. Man war eine Zeitlang
unentschlossen, wo man ihn begraben sollte, schließlich hat man ihn hier
begraben. Davon hat Ihnen der Offizier Gewiss nichts erzählt, denn dessen hat
er sich natürlich am meisten geschämt. Er hat sogar einige Mal in der Nacht
versucht, den Alten auszugraben, er ist aber immer verjagt worden.« »Wo ist
das Grab?« fragte der Reisende, der dem Soldaten nicht glauben konnte.
Gleich liefen beide, der Soldat wie der Verurteilte, vor ihm her und zeigten
mit ausgestreckten Händen dorthin, wo sich das Grab befinden sollte. Sie
führten den Reisenden bis zur Rückwand, wo an einigen Tischen Gäste saßen.
Es waren wahrscheinlich Hafenarbeiter, starke Männer mit kurzen, glänzend
schwarzen Vollbärten. Alle waren ohne Rock, ihre Hemden waren zerrissen, es
war armes, gedemütigtes Volk. Als sich der Reisende näherte, erhoben sich
einige, drückten sich an die Wand und sahen ihm entgegen. »Es ist ein
Fremder«, flüsterte es um den Reisenden herum, »er will das Grab ansehen.«
Sie schoben einen der Tische beiseite, unter dem sich wirklich ein Grabstein
befand. Es war ein einfacher Stein, niedrig genug, um unter einem Tisch
verborgen werden zu können. Er trug eine Aufschrift mit sehr kleinen
Buchstaben, der Reisende musste, um sie zu lesen, niederknien. Sie lautete:
'Hier ruht der alte Kommandant. Seine Anhänger, die jetzt keinen Namen
tragen dürfen, haben ihm das Grab gegraben und den Stein gesetzt. Es besteht
eine Prophezeiung, dass der Kommandant nach einer bestimmten Anzahl von
Jahren auferstehen und aus diesem Hause seine Anhänger zur Wiedereroberung
der Kolonie führen wird. Glaubet und wartet!' Als der Reisende das gelesen
hatte und sich erhob, sah er rings um sich die Männer stehen und lächeln,
als hätten sie mit ihm die Aufschrift gelesen, sie lächerlich gefunden und
forderten ihn auf, sich ihrer Meinung anzuschließen. Der Reisende tat, als
merke er das nicht, verteilte einige Münzen unter sie, wartete noch, bis der
Tisch über das Grab geschoben war, verließ das Teehaus und ging zum Hafen.
Der Soldat und der Verurteilte
hatten im Teehaus Bekannte gefunden, die sie zurückhielten. Sie mussten sich
aber bald von ihnen losgerissen haben, denn der Reisende befand sich erst in
der Mitte der langen Treppe, die zu den Booten führte, als sie ihm schon
nachliefen. Sie wollten wahrscheinlich den Reisenden im letzten Augenblick
zwingen, sie mitzunehmen. Während der Reisende unten mit einem Schiffer
wegen der Überfahrt zum Dampfer unterhandelte, rasten die zwei die Treppe
hinab, schweigend, denn zu schreien wagten sie nicht. Aber als sie unten
ankamen, war der Reisende schon im Boot, und der Schiffer löste es gerade
vom Ufer. Sie hätten noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob
ein schweres, geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie
dadurch von dem Sprunge ab
(aus: Franz
Kafka, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt/M.: Fischer 1970, S.113-139)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
13.07.2024