Ein Idealtypus der Dramenkomposition
Das
▪ Drama der
geschlossenen Form weist im Hinblick auf die dramaturgischen
Formparameter von Handlung, Personal, Raum, Zeit, Sprache und
Komposition eine bestimmte idealtypische Form auf, die es von
dem meist ex negativo aus dessen Merkmalen gewonnenen ▪
Drama der offenen Form
unterscheidet.
Während
Gustav Freytag (Technik des Dramas,
1863), der heutzutage zu schnell und "zu Unrecht als
pedantischer Beckmesser der Dramaturgie belächelt wird" (Pfister
1977, S. 318), einer normativen Tradition folgend, deduktiv
"allgemeingültige Regeln für den Handlungsablauf eines dramatischen Textes
zu formulieren versucht hat" und sein
drei- bzw. fünfaktiges Strukturmodell
entworfen hat, verfolgt
Volker Klotz (Geschlossene und offene Form im
Drama, 1969) einen deskriptiven Ansatz, der empirisch-historisch und
überhistorisch typisierend zugleich ist.
Die Idealtypen, die er dabei
gewinnt, dienen heutzutage unter Beachtung der dem Modell innewohnenden
"Tendenz zur mechanistischen Antithetik" (ebd.,
S. 319) als Analyseraster und Beschreibungsmodelle der Dramenanalyse.
Grundsätzlich darf die Konstruktion der beiden Idealtypen
und ihrer "formalen Komponentenbündel" (Asmuth 62004,
S.49) freilich nicht so verstanden werden, als ob sich damit die
tatsächliche Vielfalt von Dramenformen erfassen ließe. Es sind
also viele Varianten möglich und es kann daher auch zu
Überlagerungen von Elementen kommen. Vom Aufbau der
Dramenhandlung her gedacht, passt das "Konstruktionsschema des ▪
analytischen Dramas [...]
in besonderen Maße" zu einem Drama der geschlossenen Form (Klotz
1969, S. 41)
Die geschlossene Komposition des Dramas basiert auf einer
szenisch präsentierten Ideenwelt mit einer "idealistischen
Ideologie von Harmonie, Mäßigung und Ausgewogenheit" (Boehnisch
2012, S. 139), die sich in den streng stilisierten
Kompositionsprinzipien des Dramentyps bis hin zur sprachlichen
Gestalt mit ihrer "austarierten und zu Sentenzen neigenden
Figurenrede" (ebd.,
S.140) niederschlägt. Dieser strenge Funktionszusammenhang macht
diesen Typ zu einer besonderen Form, die als Ganzes von einer
vorgestellten Idee bestimmt wird.
Ein Ausschnitt als Ganzes: Der Totalitätsanspruch der
geschlossenen Form
Was das geschlossene Drama szenisch darbietet, ist - so
könnte man sagen - ein Mikrokosmos, der den Anspruch erhebt, den
Makrokosmos der gesamten Welt mit seinen Triebkräften und
Entwicklungspotentialen abzubilden und in die Handlung zu
integrieren. Was auf der Bühne inszeniert hat, hat damit auch
eine Art Modellcharakter für die Welt und die in ihr geltenden
ideologischen, religiösen moralischen, sozialen und allgemein
gesellschaftlichen Gesetze. Um dies zu erreichen, "strebt [das
geschlossene Drama] danach, eine geistige Totalität zu
vermitteln." (Klotz
1969, S.216)
Auch wenn das geschlossene Drama nur einen Ausschnitt aus dem
Ganzen der Welt darbieten kann, ist es für es keine verarmte
oder verkümmerte Darstellung von Welt und auch "nichts
Fragmentarisches, sondern eine Befreiung, ein Herausstellen
dessen, was `eigentlich` zählt und was die universale Ganzheit
zu spiegeln allein würdig ist."
(ebd.)
"Action" liegt dem geschlossenen Drama fern
Dabei funktioniert die von dem geschlossenen Drama
inszenierte Ideenwelt nur, wenn es ihm gelingt, "das
Empirisch-Faktische in hohem Maße ein(zu)dämmen" (ebd.)
und den Fokus ganz auf die Idee und ihre Wirkmächtigkeit
richtet. Das geschlossene Drama klammert "krasse Faktizität" und
die sinnlich-emotionale Anmutung von Dingen und Räumen mit ihrer
Wirkung auf das Handeln der Figuren bewusst und weitgehend
konsequent aus, verzichtet auf "Action-Szenen" und lässt die
szenische Darstellung körperlicher Gewalt außen vor. Dabei hat
es nur ein Ziel: Durch den Verzicht auf solche "störende(n), die
großen Linien verstellende(n) Akzidentien" (ebd.)
soll die Aufmerksamkeit des Zuschauers "auf die vom Drama
inszenierte Ideenwelt und somit auf die Figuren in ihrer
Entwicklung" gerichtet werden (Boehnisch
2012, S. 140): "Nicht das äußerliche fiktional-dramatische
Geschehen an sich, sondern die innere Handlung, der Charakter
der Figuren steht im Vordergrund." (ebd.)
Die Handlung, die das geschlossene Drama präsentiert, ist von
"Ganzheit, Einheit, Unversetzbarkeit der Teile" (ebd.)
charakterisiert, "die einen Ausschnitt aus einem
pragmatisch, zeitlich und räumlich Größeren und Komplexeren
darbietet. Dieser Ausschnittcharakter wird jedoch durch
mannigfache Mittel getilgt, sodass gerade Beschränkung und
Absonderung ein ganzheitlich geschlossenes Gebilde entstehen
lassen." (ebd.)
Was im geschlossenen Drama aus verschiedenen Gründen nicht in
Szene gesetzt wird (z. B. brutale Gewaltszenen,
Schlachtenverläufe u. a.), wird als Wortkulisse nur sprachlich
in einem Imaginationsraum erzeugt, der allerdings in einem ▪
engen raum-zeitlichen
Zusammenhang zu dem
Ort
bzw. Schauplatz
steht, der auf der Bühne gestaltet wird. Die Vorgeschichte wird
mit der Exposition sprachlich in das dramatische Ganze
integriert, und was sich eben sonst nicht inszenieren lässt oder
nicht zum Harmonie-Ideal des Dramentyps passt, wird "durch eine
Art synchroner Reportage (vom Turm, von der Mauer, aus dem
Fenster u. ä)" auf der Bühne vergegenwärtigt. (Metzler
Literaturlexikon, 21990, S. 456) (Mauerschau
(Teichoskopie),
Botenbericht). Das außen liegende berichtete Geschehens wird
dabei sprachlich so dem "Modus des gedämpften szenisch
Gegenwärtigen" des sonstigen Dramas "angeglichen" (Klotz
1969; S.216), dass der Eindruck eines gerundeten Ganzen nicht
verlorengeht.
Beispiele für Damen der geschlossenen Form
Musterbeispiele/Prototypen
Grundsätzlich darf diese Konstruktion von Idealtypen freilich
nicht so verstanden werden, als ob sich damit die tatsächliche
Vielfalt von Dramenformen erfassen ließe.
Die Merkmale des geschlossenen Dramas im Überblick
|
Geschlossene Form |
Handlung |
|
Zeit |
|
Raum |
|
Personal / Figuren |
-
geringe Figurenanzahl
-
ohne Massenszenen
-
Protagonist und Antagonist als zentrale Figuren
umgeben von einem symmetrisch, aber
antagonistisch konzipierten Kreis von Begleitern
und Vertrauten
-
Ständeklausel
-
autonome, rational
orientiert und zur Selbstreflexion fähige Charaktere mit einer komplexen
Innenwelt, die sich entwickeln können
|
Sprache |
-
einheitlicher, in der Regel erlesener,
regelhafter gehobener Sprachstil
-
Versform bevorzugt
-
rhetorische Sprachgestaltung mit sprachlich
austarierter und zu
Sentenzen neigender Figurenrede
-
häufig hypotaktische Satzstrukturen, die den
Reflexionsgrad der Figuren und die Komplexität
der das Drama tragenden Idee ausdrücken
-
Dialog als Rededuell (Stichomythie)
-
geringe Bedeutung von Mimik und Gestik und
andere nonverbale Ausdruckselemente
-
Welt ist sprachlich rational erfassbar (daher
auch keine szenischen von Gewaltdarstellungen)
-
stilisierte Kunst-Sprache kann Gegensätze der
Realität aufheben und Harmonie herstellen
|
Komposition |
-
von der Gesamtheit der allgemeinen vorgestellten
Idee bestimmt
-
Ausschnitt als Totalität von Welt:
Ausschnitt als Ganzes
-
Teile können nicht weggelassen oder ausgetauscht
werden
-
Vorgeschichte in der
▪
Exposition
-
Einteilung in Akte, ▪
konventionell 5 Akte, aber auch als
Dreiakter
-
hierarchische Ordnung von Akten und Szenen
-
Proportionalität z. B. beim Figurenarsenal
-
fein abgestimmte Analogien
-
Symmetrien: symmetrische Architektur,
symmetrisches Gleichgewicht o. ä.
|
(vgl. u. a.
Klotz 1960;
Pfister 1977;
Müller 1988;
Asmuth 62004; Boehnisch
2012,
Fricke/Zymner 1993;
Schößler 2017,
Becker/Hummel/Sander 22018)
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
|