Erzählperspektive und Perspektiven
Jede Erzählung präsentiert ihre Geschichte in
perspektivierter Form, das heißt die Auswahl und Darstellung des
Geschehens ist immer vom Blickwinkel bzw. der Sicht und Sichtweise sowie
dem Wissen der jeweiligen Erzählinstanz. Eine Geschichte ohne diese
Perspektivierung undenkbar. Wie stark sie indessen spürbar ist, wenn
man eine Geschichte liest, steht auf einem anderen Blatt, das hat mit
verschiedenen Dingen zu tun, die dabei zusammenkommen.
Mit dem Begriff der Erzählperspektive tut sich die
neuere
Erzähltheorie schwer, setzt ihn am liebsten in Anführungszeichen (z.
B. Schmid 2005,
S.125), weiß sich dann eben auch nicht recht zu helfen und führt ihn
dann quasi über die Hintertüre wieder ein. (vgl.
ebd.) Das
hat den Grund, dass der Begriff so sehr mit Konzepten der älteren
Erzähltheorie, z. B. Franz K. Stanzels ▪
Erzählsituationen, verbunden ist und zudem auch darin
vergleichsweise "nur vage gefasst" (Lahn/Meister
2013, S.104) worden ist.
Am besten verwendet man den Begriff der
Erzählperspektive im Kontext der allgemeinen Fragen zur Perspektive in
Erzähltexten als einen Oberbegriff, unter den die verschiedenen
Perspektiven eines Erzähltextes zusammengefasst werden können. Dazu
eignet sich die Definition der Perspektive, wie sie Wolf
Schmid (2005,
S.125) in seinem Modell der Erzählperspektive vorgenommen hat.
Unter Erzählperspektive wird daher "der von inneren
und äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen
und Darstellen eines Geschehens" (Schmid
2005, S.125, S.308, Hervorh. d. Verf.) verstanden.
-
Innere Faktoren sind dabei
Faktoren, die mit der inneren Wahrnehmung, dem Wissen und dem
Wertungshorizont des Erzählers zu tun haben,
äußere Faktoren sind Faktoren wie
Raum und Zeit.
-
Diese
Definition unterscheidet die beiden Akte des Erzählens
Erfassen und Darstellen von
Geschehen und fordert, diese auseinanderzuhalten.
Kommt es nämlich zu einer Inkongruenz
zwischen beiden, dann hat das für die Analyse große Bedeutung und gibt
wichtige Aufschlüsse über das Erzählerverhalten.
Inkongruentes Erzählen liegt dann
vor, wenn der Erzähler, wie das bei der
figuralen
bzw.
personalen Perspektive der Fall ist, nicht das wiedergibt, was er
selbst wahrgenommen hat, sondern "scheinbar eigene Wahrnehmungen
darstellend, in Wirklichkeit die subjektive Wahrnehmung einer oder
mehrerer der erzählten Figuren (reproduziert)" (ebd.,
S.126)
Perspektiven des Autors und des Erzählers
Wenn von Perspektiven die Rede ist, sollte man
zuallererst daran denken, welche Instanzen eines Erzähltextes überhaupt
zur Gestaltung von Perspektive in Frage kommen.
Grundsätzlich kommen dafür nur zwei Perspektiven in
Frage:
Für größere Ansicht bitte anklicken!
Die Perspektiven des Erzählers bzw. der Erzählinstanz
Für die Erzähltextanalyse sind vor allem die beiden
Perspektiven wichtig, die dem Erzähler zugeordnet werden können.
Der Erzähler kann eine narratoriale oder figurale
Perspektive einnehmen. (vgl.
Schmid 2005,
S.132ff.)
-
Narratorial ist die Perspektive angelegt, wenn sie nicht figural
ist. Was zunächst etwas verwirrend erscheinen mag, hat doch seinen Sinn.
Denn: Da Erzählen ohne Perspektive und damit subjektive Wahrnehmung und
Gestaltung prinzipiell unmöglich ist, liegt auch dann eine narratoriale
Perspektive vor, wenn der Erzähler sich fast vollständig hinter das
erzählte Geschehen zurückzieht, die Geschichte ohne Spuren eines
Erzählers quasi erzählerlos und "objektiv" gestaltet daherkommt. Im
Normalfall allerdings kann man den Erzähler gut "heraushören", wenn er
z. B. ein Geschehen kommentiert und die Gedanken und Gefühle aller
x-beliebigen Figuren als Introspektion wiedergeben kann.
Wichtig:
Eine "neutrale" Perspektive gibt es also de facto nicht, es sei
denn, man will damit die oft beobachtbare Tendenz der narratorialen
Perspektive zur quasi Unkenntlichkeit bezeichnen oder das
Wertungsverhalten des Erzählers beschreiben, der sich in solchen Fällen
eben Kommentaren und sonstiger Einmischungen enthält. Nur in dieser
eingeschränkten Weise macht es Sinn, von einem "neutralen"
Erzählerverhalten bzw. einer
neutralen Erzählperspektive bzw.
neutralen Erzählsituation, wie dies lange in der
älteren
Erzähltheorie vertreten worden ist.
-
Figural,
man kann auch personal sagen, ist die (Erzähler-)Perspektive dann, wenn der
Erzähler bzw. die Erzählinstanz das Wissen und die Sicht einer Figur
übernimmt. Diese Perspektive, die häufig auch mit dem Parameter der
▪ räumlichen Perspektive gestaltet wird, ist oft durch Wertungen und den
Sprachstil markiert, der einer bestimmten Figur zugeschrieben werden kann.
Figurale Perspektive bleibt auf die
▪ Innensicht der Figur beschränkt, der
figurale Erzähler kann also innere Vorgänge (Gedanken, Gefühle etc.) anderer Figuren nicht per Introspektion darstellen. Was er über die Gefühle
der anderen zu wissen glaubt, kann er nur aus der Beobachtung ihres
Verhaltens schließen.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
|