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"In der Frage, wie man sich die Sinnbildung während des
Lesens zu denken hätte und welche Rolle dabei der Text, welche der Leser
spielen, schlägt Iser einen mittleren Weg ein: Weder ist der Sinn eines
Textes vollständig in ihm enthalten und lässt sich durch sachgerechtes
Verstehen gleichsam entnehmen (objektivistische Position), noch ist der
Text lediglich eine Projektionsfläche für beliebige
Bedeutungszuweisungen (subjektivistische Position). Vielmehr sind
fiktionale Texte so beschaffen, dass sie zwar immer neue und gleich
angemessene Realisationen erlauben, zugleich aber doch nicht alle
Realisationen als gleichberechtigt akzeptiert werden müssen. Denn
fiktionale Texte sind in mancher Hinsicht bestimmt, gleichzeitig jedoch in
anderer Hinsicht unbestimmt.[...] Zu unterscheiden sind die pragmatische
und die semantische Unbestimmtheit fiktionaler Texte.
Ihrem kommunikativen Status nach unterscheidet Iser fiktionale von
nicht-fiktionalen Texten dadurch, dass er sie nicht als Teil einer realen
Kommunikationssituation zwischen einem bestimmten Absender und einem
bestimmten Adressaten und mit einem bestimmten Zweck sieht. Vielmehr sind
sie entpragmatisiert, und das ist die Voraussetzung dafür, dass sie an
die Erfahrungswelt vieler verschiedener Leser auch unterschiedlicher
Epochen anschließbar sind. [...]
Zur pragmatischen Unbestimmtheit tritt die semantische. Ein fiktionaler
Text stellt einen ästhetischen Gegenstand dar, der niemals mit bereits
Existierendem identisch ist und ausschließlich mit Hilfe dieses Textes
konstituiert wird. Der ästhetische Gegenstand und seine Konstituierung
ist aber vom Text nicht vollständig determiniert; er weist - in von Text
zu Text variierendem Maße - Momente von Unbestimmtheit auf. Zu deren
Behebung bei der Lektüre kann der Leser von den Gegebenheiten des Textes
ausgehen, ist aber bei der Ausgestaltung des im Text Angelegten
unausweichlich auch auf seine Subjektivität angewiesen. [...]
Die bei fortschreitender Lektüre entstehenden einzelnen
Vorstellungssegmente werden, entsprechend dem fortschreitenden Auftauchen
und Verschwinden der Textelemente, durch ständige vorausgreifende
Hypothesenbildung und ständige Bestätigung oder Revision der
ursprünglichen Erwartung zueinander in Beziehung gesetzt, nämlich zu
einem als stimmig empfundenen Ganzen verknüpft, einer »konsistenten
Interpretation« (Iser, 1984), »Sinnkonfiguration« [...]. Die
Vorstellungssegmente stehen dabei während des Lese- und
Verarbeitungsvorgangs in einem Verhältnis zum Thema (dem jeweils aktuell
gebildeten Vorstellungssegment) und Horizont (einem oder mehreren damit
verknüpfbaren anderen Segmenten). Die Sinnbildung vollzieht sich zumal
bei längeren Texten auf der Basis einer sehr großen Zahl zu
verknüpfender Vorstellungssegmente und auf mehreren Ebenen. Im Roman oder
im Drama gilt es etwa den »plot«
[das temporal-kausal strukturierte Handlungsgerüst, d. Verf.] zu
rekonstruieren."
(aus:
Richter
1996, S.522-525, gekürzt und leicht verändert)
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