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Aspekte der Analyse und Interpretation

Natürliche Begegnung der Geschlechter vs. petrarkistisches Liebeskonzept

Fleming, Wie Er wolle geküsset seyn


FAChbereich Deutsch
Glossar
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 »Lesbia-Gedichte von Catulll in Latein und in deutscher Übersetzung (einschl. Analyse und Interpretation)
»Kussgedichte  von Johannes Secundus in deutscher Übersetzung (Deutsche Gedichte-Bibliothek)

teachSam-Auswahl von Kussgedichten von Johannes Secundus

Text
Text (modernisierte Sprachfassung)

Aspekte der Analyse und Interpretation
Ein Gedicht mit großem Identifikationspotential

▪  Inhaltliche, bildliche und rhetorische Aspekte
Bausteine
Petrarkismus und barocke Liebesauffassung

Paul Flemings (1609-1640) Kussgedicht ▪ Wie er wolle geküsset sein, dass wohl zu den bekanntesten Gedichten der ▪ barocken Liebeslyrik gehört, lebt von einer bis in die Antike zurückreichenden und in der Renaissance weiter gepflegten Tradition, welche die Liedform nutzt, um die "in der antiken Tradition wurzelnde »Natürlichkeit« der Begegnung zwischen den Geschlechtern" (Kühlmann 1982, S.185) auszudrücken.

Wer zu einem vertieften Verständnis des Textes gelangen will und das Fremde in ihm entdecken will, muss sich daher auch auf "diese(n) aus der Hochblüte der Renaissanceliteratur herüberreichenden poetischen Erinnerungsraum" (Kühlmann 1982, S.185) einlassen, dessen Elemente den kompetenten Lesern im Barock hinlänglich bekannt waren und die sie vom petrarkistischen System und dem ▪ Liebeskonzept des Petrarkismus klar unterscheiden konnten.

Das Genre der Kussgedichte von der Antike bis zum Barock

Ein Gedicht, das sich mit dem Küssen befasste, war eigentlich in dieser Zeit nichts Besonderes. Im Grunde existierte das Genre des Kussgedichts schon seit der römischen Antike, als »Catull (87-55 v- Chr.) mit solchen Gedichten in seinem »Lesbia-Zyklus "eine Philosophie der erotischen Lebenslust und der totalen Hingabe an die Sinnlichkeit" darbot, welche das Schicksal der Liebenden davon abhängig machte, ob die Frau sich eben auch "hingab" oder nicht. Was Catull dabei auch auszeichnete, war, dass er "auch ein lyrisches Ich geschaffen (hat), dem bei aller literarischen Maskerade doch immer ein gesundes Maß an Authentizität ablesbar blieb." (Bauer 2011)

Zwei exemplarische Auszüge aus Übersetzungen solcher Gedichte, die auf der Webseite »Gaius Valerius Catullus angeboten werden,  können dies verdeutlichen:

»Carmen 5 - Vivamus, mea Lesbia, atque amemus

»Carmen 8 - fulsere quondam candidi tibi soles

Lass uns leben, meine Lesbia, und lieben
und das ganze Gerede der allzustrengen alten
Leuten einen Pfennig wertschätze!

[...]

Gib mir 1000 Küsse, darauf 100,
dann 1000 weitere, ein zweites 100,
dann in einem fort 1000 weitere und darauf 100.

[...]

Unglücklicher Catull, hör auf dich wie ein Narr zu verhalten
und halte für verloren, was, wie du siehst, verloren gegangen ist. [...]
Einst leuchteten dir glänzende Sonnen,
immer wenn du gingst, wohin dein Mädchen dich führte,

(5) das von dir geliebt wurde (so sehr), wie keine geliebt werden wird!
Immer wenn dort jene vielen neckischen Dinge geschahen,
die du wolltest und die auch das Mädchen nicht ablehnte,
strahlten dir wahrlich glänzende Sonnen.
Jetzt will jene nicht mehr [...]

Miststück, weh dir! Welches Leben wird dir bleiben?
Wer wird jetzt zu dir kommen? Wem wirst du schön erscheinen?
Wen wirst du jetzt lieben, zu wem wirst du gehören?
Wen wirst du küssen? Wem wirst du in die Lippen beißen?
Aber du, Catull, bleibe standhaft und hart.

Mit dem 16. Jahrhundert beginnt die Erfolgsgeschichte der Kussgedichte und entsprechender Sammlungen, die sich bis in 18. Jahrhundert fortsetzte.

Die neulateinischen Gelehrtendichter der Zeit orientierten sich dabei an dem in Latein abgefassten »Basia-Zyklus von »Johannes Secundus (1511-1536) aus dem niederländischen »Den Haag. Darin finden sich 19 Gedichte, an denen der Autor verschiedene Versmaße erprobt und dabei Catull nachahmt (Imitatio-Poetik) zum Thema Kuss und Küssen. (▪ Auswahl von vier Gedichten, die sich zum Vergleich mit dem Gedicht von Fleming eignen)

Zur Sprache kommen darin u. a. die "Arithmetik des Kusses", Küsse als Nahrungs- und Heilquelle, Küsse, die Verwundungen oder Tod bringen, und der Seelentausch durch das Küssen. Mal "verweigert die Geliebte ihre Lippen, bald ist ihr Kuss ein Hauch, dann wieder sind ihre Liebkosungen unzählbar wie Tränen, schon vergeht der Liebende in zärtlicher Umarmung; bald jedoch wird ihm so fest in die Zunge gebissen, dass er nur noch lallen kann." (Bauer 2011)

Eigentlich, so betont das lyrische Ich in einem der Gedichte, gehe es ihm nur um das Küssen "also verschwindet, ihr Unanständigen, ruft er seinem Publikum zu und preist einen Atemzug weiter die Sittsamkeit seiner Geliebten, »die ganz sicher ein Büchlein ohne Schwanz lieber will als einen Dichter ohne Schwanz«. So leicht ist der Voyeurismus des Publikums enttarnt. Darauf verstand sich schon Catull, Secundus steht dem Römer in nichts nach." (ebd.) Dass selbst »Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) dem "König der Küsser" (ebd.) seine Anerkennung nicht versagte, sei hier, nur als Marginalie erwähnt: "»An den Geist des Johannes Secundus« schrieb Goethe: »Lieber, heiliger, grosser Küsser, / Der du mirs in lechzend atmender / Glückseligkeit fast vorgetan hast!« (zit. n. ebd.)

Fleming hat sich selbst einen neulateinischen Gedichtzyklus (Suavia) verfasst und sich dabei u. a. auch auf Secundus und andere späthumanistische Dichter bezogen. In seiner Vorrede zu dieser Sammlung hat er betont, dass erotische Dichtung als »Spiel« (ludus) verstanden werden dürfe und auf ein Publikum ziele, das »Reize ohne Verletzung des Respekts und Anmut jenseits von Obszönität liebt« (Fleming, zit. n. Kühlmann 1982, S.182) Damit machte er unversmissverständlich klar, dass die durch die Dichtung geschaffene Welt des Eros eben "durch keine Wirklichkeit einlösbar" sei und "erst gar nicht Biographisches enthüllen" sollte. (Kühlmann 1982, ebd.) In diesem Sinne verstehen sich seine Liebesgedichte auch als durchaus »keusch« und "bewegen sich in der Uneigentlichkeit der scherzhaften Fiktion" (ebd.), um ein den Leser*innen ein intellektuelles Vergnügen bereiten zu können.

Fleming bewegt sich also durchaus im gleichen vom christlichen Neostoizismus vorgegebenen Rahmen, für den die Affektkontrolle und die Beherrschung der Leidenschaften, insbesondere der zur Sünde gewordenen sexuellen, in den Vorstellungen von Keuschheit mündete, die vor allem Frauen "als eine höchste Tugend " (Willems 2012, Bd. I, S.51) abverlangt wurde. Die bis ins 16. Jahrhundert hinein zu beobachtende "obsessive Angst vor der weiblichen Sexualität" (Bologne 2001, S.6), die sich am  biblischen Sündenfall mit Eva als sündiger Verführerin orientierte, zeigt die ▪ geschlechtsspezifische Seite der Scham auf. Die Beherrschung der Leidenschaften, die wenn sie misslang, zum Laster, dem "Ausleben »fleischlicher Gelüste«" (Willems 2012, Bd. I, S.51) führen musste, war dabei Teil des Prozesses der Sozialdisziplinierung im Zivilisationsprozess, die »Nobert Elias (1897-1990) hin seinem 1939 erstmals erschienen Werk »"Der den Prozess der Zivilisation" (1997, Bd. 1, S.324-356 und Bd. II, S.408-420) analysiert und beschrieben hat.

So muss man also auch im Kontext des Kussgedichtes von Fleming, aber auch anderer barocker Liebesgedichte bis hin zur galant-erotischen Lyrik verstehen, dass die ▪"Lizenz des Erotischen" in dieser Zeit "auf ihrem Beitrag zur zunehmenden Kultivierung des menschlichen Zusammenlebens" (Niefanger 32012, S.42) beruht. Fleming will dementsprechend auch die Schamgrenzen nicht verschieben, sondern mit seinem Gedicht, das sich als reines "Spiel" ausweist, bestätigen.

Die Lizenz des Erotischen, das steht auch bei ihm außer Zweifel, zielt auf Beherrschung der Wollust, der Kontrolle des menschlichen Körpers und der Regungen und Wallungen der Geschlechtorgane. Dies ist wohl neben ihrer unterhaltenden Funktion der maßgebliche Kontext, in dem die Barockerotik als Ganzes verstanden werden muss. (vgl. Niefanger 32012, S.42)

Und auch in Flemings Sicht ist es eine männliche Sicht, wird zunächst einmal ausgedrückt, "wie Er wolle geküsset seyn". Nicht außergewöhnlich in der Zeit, in der Frauen ohnehin keine selbstbestimmte Sexualität zugebilligt wurde. Weise, zugebilligt wurde die Sicht eines Geschlechts zur Sprache kommt, was angesichts der patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft auch nicht weiter verwundert: "eine dominierende und unterdrückende Männlichkeit" (ebd.)

So galt in dieser männlich dominierten Welt denn auch Keuschheit vor allem für Frauen "als eine höchste Tugend [...] und wenn man von dem Gegenteil von Tugend, vom Laster sprach, [...] dann dachte man dabei in erster Linie an das Ausleben »fleischlicher Gelüste« (Willems 2012, Bd. I, S.51), das Frauen ohnehin nicht, jedenfalls nicht in selbstbestimmter Weise, zugebilligt wurde.

Carpe diem vs. Vanitas oder natürliche Begegnung der Geschlechter vs. petrarkistisches Liebeskonzept

Man kann das Gedicht von Fleming, insbesondere unter wegen seiner spielerisch-graziösen Liedform (vgl. Meid 22008, S.91) und der Aufforderung am Ende, jedes Liebespaar solle beim Küssen das tun, was ihm gefällt, durchaus als Gestaltung des Carpe diem-Motivs verstehen. An keiner Stelle des Gedichts ist dabei antithetisch das dazu komplementäre Vanitas-Motiv, die Vorstellung, dass alles Dasein und aller "Küsserei" zum Trotz eben vergänglich ist, gestaltet.

Mag sein, dass das zeitgenössische Publikum diese grundsätzliche Antithetik stets mitbedacht hat, aber in diesem Fall spricht sicherlich allein schon die leichte, eingängige Liedform dagegen. Dessen ungeachtet wird das liedhafte Kussgedicht Flemings oft vor allem als Beispiel für das Carpe diem-Motiv herangezogen und in oft mit einem dafür entsprechend "antithetisch" arrangierten Vergleichstext, z. B. dem Sonett von Andreas Gryphius ▪ »Es ist alles eitel« präsentiert, um vor allem das Besondere des sogenannten barocken Lebensgefühls vonallseits bedrohtem Leben und unstillbarem Lebenshunger und des menschlichen Lebens in bipolarer Spannung zu vermitteln.

Statt dieser eher bewusstseins- und mentalitätsgeschichtlichen Bezugspunkte bietet sich aber an, das Gedicht im Kontext der Entwicklung des Genres und vor allem als ein Gedicht zu lesen, das einer anderen Traditionslinie als das petrarkistische Liebeskonzept steht.

Die, wie eingangs erwähnt, "in der antiken Tradition wurzelnde »Natürlichkeit« der Begegnung zwischen den Geschlechtern" (Kühlmann 1982, S.185), wie sie das Lied Flemings gestaltet, wäre also dementsprechend besser mit einem streng petrarkistischen Liebesgedicht, z. B. ▪ Hofmannswaldaus »Vergänglichkeit der Schönheit«, zu vergleichen, um seiner Besonderheit gerecht zu werden.

Ebenso könnte man ein Kussgedicht »Johannes Secundus (1511-1536). z. B. ▪ 5. Kuss, ▪ 10. Kuss, ▪ 11. Kuss oder ▪ 12. Kuss heranziehen. um die unterschiedliche Traditionslinie darzustellen.

Und natürlich können sich aus dem manieristischen ▪ »Auf den Mund« von Hofmannswaldau ebenso interessante Vergleichsaspekte ergeben.

 »Lesbia-Gedichte von Catulll in Latein und in deutscher Übersetzung (einschl. Analyse und Interpretation)
»Kussgedichte  von Johannes Secundus in deutscher Übersetzung (Deutsche Gedichte-Bibliothek)

teachSam-Auswahl von Kussgedichten von Johannes Secundus

Text
Text (modernisierte Sprachfassung)

Aspekte der Analyse und Interpretation
Ein Gedicht mit großem Identifikationspotential

▪  Inhaltliche, bildliche und rhetorische Aspekte
Bausteine

Petrarkismus und barocke Liebesauffassung

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 23.12.2023

 
 

 
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