In den Niederlanden entwickelte sich die Gesangskultur im Zuge der von der
Reformation inspirierten Psalmproduktion (vgl.
Roberts 2012
S. 194) besonders stark.
Über die Produktion von geistlichen Liedern
hinaus, wurden aber auch für alle möglichen gesellschaftlichen Anlässe eigens Lieder
verfasst und gesungen. Das Sprechen in Reimen und das eigenständige Reimen
war ebenso gängiger Unterrichtsgegenstand wie das Kontrafazieren, d. h.
schon bekannte Melodien mit neuen Reimen zu versehen.
In den Niederlanden kursierten
neben geistlichen Liederbüchern und Gesangbüchern schon früh rein weltliche und eine
ganze Reihe von Liederbüchern, die sich zwar den Anstrich gaben,
hauptsächlich der Unterhaltung zu dienen, aber doch hauptsächlich
didaktische Funktion besaßen und religiöse und moralische Inhalte
verbreiten sollten. Sie sollten offenbar vor allem junge, wohlhabende und
gebildete Leute in den Städten ansprechen.
Dementsprechend wurden vor allem die Titelkupfer so
anmutend, oft mit »Cupido-Motiven gestaltet, damit sie gerade auch
diese Zielgruppe ansprachen. Vor allem »Jacob
Cats (1577-1660) hatte damit viel Erfolg, weshalb auch andere seinem
Beispiel folgten und mit aufwändigen Titelkupfern und Illustrationen, die zu
Assoziationen einluden, ihre Werke ausgestattet haben. (vgl.
ebd. S. 195)
Der Inhalt der Liederbücher von Cats zeichnete sich dabei stets durch ihre
"praktische, auf die Verhältnisse der bürgerlichen Mittelschicht
zugeschnittene Lehrhaftigkeit" (Van Gemert, zit. n. Jungmayr 2009, S.140,
Dröse 2014 S.229) aus.
Auch wenn solche Titelgestaltungen junge Leute beiderlei Geschlechts
ansprechen sollten, zielten sie doch vor allem auf junge Frauen.
Manche der
Titel gaben dazu Aufschluss über den Familienstand junger Frauen, wenn sie
sich direkt an Mädchen und Jungfrauen richteten. In jedem Fall waren es vor
allem junge Frauen, die die Liederbücher rezipierten.
Sie mochten das Singen
offenbar einfach und offenbar galt das Singen, das lässt sich auch in
zahlreichen Gemälden und Emblemen der Zeit feststellen, eher als eine
weibliche als eine männliche Charaktereigenschaft. (vgl.
ebd. S.196)
Ein Liederbuch an eine Dame zu verschenken, war dagegen ein für die
werbenden Männer wohl immer geeignetes und gern gesehenes Geschenk.
Wer Anfang des 17. Jahrhunderts
als junge Frau eine schöne Stimme hatte, war
unter herrschenden Werberitualen, die die Annäherung der Geschlechter
regelten, durchaus im Vorteil. Allerdings ist auch davon auszugehen, dass
die Liederbücher, was das anging, nicht unbedingt dem Alltag der jungen
Leute abbildeten, sondern eher Klischees frühneuzeitlicher Werberituale.
(vgl. ebd.
S.206)

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Dies wird auch in den Abbildungen, in Gemälden und Kupferstichen, die
singende und musizierende Paare zeigen, immer wieder deutlich. In solchen
Darstellungen spielt der junge Mann meistens die Laute und begleitet damit
das Singen der bei ihm weilenden jungen Dame. Was solche Darstellungen
symbolisierten, entsprach auch dem Idealbild der Geschlechterbeziehung in
der Ehe, nämlich die Harmonie der Eheleute (nicht zu verwechseln mit
Gleichberechtigung). (vgl.
ebd. S.207)
Natürlich darf man sich die Begegnung unverheirateter junger Leute beiderlei
Geschlechts aus dem wohlhabenden Bürgertum nicht so vorstellen, als sei
Singen und Musizieren, die einzige Möglichkeit gewesen, wie sie sich
näherkommen und in geradezu unschuldiger Weise miteinander Kontakt aufnehmen
konnten. Es war nur die am weitesten verbreitet. Wenn sie sich
im Rahmen der
konventionellen Werberituale bewegten, war Flirten, gegenseitiges Berühren
und Küssen durchaus üblich. (vgl.
ebd. S.207)

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Unter allen diesen Vorzeichen waren die Liederbücher außerordentlich beliebt
unter den jungen Leuten, die die in den wohlhabenden städtischen Zentren
aufwuchsen. (vgl. Roberts 2012 S. 188). Insbesondere die populären Liederbücher Anfang des
17. Jahrhunderts hatten einen großen Anteil daran, dass sich den
Niederlanden in den 1610er und 1620er Jahren eine mehr oder weniger
zusammenhängende städtische Jugendkultur entwickelt hat.
▪
Auswahl zeitgenössischer Liederbücher (externe Links)
▪
Barock (1600-1720)
▪
Lyrik des Barock
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
10.03.2022