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Es gibt einen Pluralismus toleranter Interpretationen
Am
Beispiel von ▪ Franz
Kafkas ▪
Parabel
"▪
Der Aufbruch"
zeigt Ulrich
Gaier (1969) auf, dass die Ergebnisse, zu denen werkorientierte
Interpretationsansätze wie z. B. historisch-politische bzw.
historisch-soziologische, geistes- oder ideengeschichtliche oder
werkimmanente Ansätze gelangen, jede für sich genommen "richtig"
sind, sofern sie "mit den Daten der Erzählung übereinstimmen". (zit. n.
Leibfried
1977, S.19ff.)
Seit Gaiers Aufsatz sind freilich eine ganze Reihe weiterer
Interpretationsmethoden hinzugekommen und die moderne
Literaturwissenschaft hat mit dem "Gespenst der richtigen
Interpretation" aufgeräumt.
Heute gilt, dass ein literarischer Text
keine fest umrissene Bedeutung besitzt. Der in den "Daten" eines Textes
verborgene Textsinn lässt sich nämlich auch bei bestem Willen im Text
nicht finden, denn "welchen Sinn, welche Bedeutung man mit literarischen
Texten verbindet, ist ... eine Entscheidung, die der Interpret fällt." (Horst
Steinmetz 1995, S.475). Dementsprechend sind auch alle derartigen
Interpretationsansätze legitim, ohne jedoch auch
gleichermaßen überzeugend oder
schlüssig zu
sein.
Gaiers (1969) Forderung nach einem "Pluralismus toleranter Interpretationen" (ebd.)
ist jedenfalls bis heute gültig. Anhand verschiedener Auslegungen der
Parabel "Der Aufbruch" stellt er dies in seinem Aufsatz von 1969 unter
Beweis. Er unterscheidet dabei zunächst einmal allegorische von
symbolischen Auslegungen der Parabel. Die allegorischen
Interpretationsansätze, die er vorstellt, sollen hier beschrieben
werden.
Allegorische Interpretationsansätze nach Ulrich Gaier (1969)
Zur Gruppe der allegorischen Auslegungen
zählt er drei einander zum Teil völlig entgegengesetzte
Interpretationen, nämlich die biblisch-christliche, die
geschichtsphilosophische und die marxistische Deutung. Gemeinsam ist
diesen das Prinzip der allegorischen Interpretation. Unter einer
Allegorie versteht man eine bildhafte Veranschaulichung
eines Begriffes, eines abstrakten Gedankens oder Begriffsfeldes durch
eine Bild- und/oder Handlungsfolge. Oftmals wird dafür die Form der
Personifikation
verwendet. Die Veranschaulichung, die eine Allegorie vornimmt, wird
dabei quasi flächendeckend über einen ganzen Text oder mindestens einen
Textabschnitt ausgedehnt. Dementsprechend strebt die allegorische
Interpretation der Parabel "Der Aufbruch" zunächst einmal danach für
"die Fakten des Textes: Herr, Diener, Pferd, Stall, Tor, Trompete,
Abreise, Reise, Proviant, Hunger, Ziel [...] analoge Bedeutungen
in einem anderen sinnvollen Kontext" zu finden. (ebd.)
Dabei Und: "Diese Methode kann etwa so betrieben werden, dass ein
bedeutendes Moment wie das Ziel bis zum Ende, wo es dann als gelungenes
Resultat einer Interpretation erscheint, nicht ausgedeutet wird."
Die
biblisch-christliche Variante
der allegorischen Interpretation geht nach Gaier (1969) von folgenden
Annahmen aus: "Christus ist der Herr, die Menschheit ist der Diener.
Dieser Diener, unvorbereitet für den Tod wie er ist, hört nicht den
Klang der Trompete und weiß sogar nichts über dessen Bedeutung. Er ist
unfähig zu verstehen, dass der Herr einen besonderen Dienst ausgeführt
wünscht, einen Dienst, für welchen er wesentlich angestellt ist."
Christus, so fährt Gaier (1969) an gleicher Stelle sinngemäß fort, wolle
das Jüngste Gericht über Menschheit und Welt abhalten, treffe die
Menschheit aber damit völlig unvorbereitet. Christus selbst entspricht,
so wie er sich zu erkennen gibt, in keiner Weise den Erwartungen der
Menschen. Er "erscheint in einem neuen und fremden Licht, er scheint
äußerlich und innerlich immer weiter entfernt, und das Ziel, das er für
sich selbst formuliert - weg von hier - ist gleichzeitig ein strenger
Befehl für die Menschheit." (ebd.)
Aus diesen Überlegungen ergebe sich die christlich-biblisch gedeutete
Aussage der Parabel, wonach der Herr dem Diener alle Möglichkeit offen
lasse, " aber wehe ihm, wenn er ihm nicht folgt, wenn er diese Welt
nicht verlässt und alles Angenehme, was sie enthält, und wenn er sich
nicht völlig der Gefahr und Ungewissheit des Weges zu Gott anheim gibt.
Wenn er bleibt, dann wird Christus urteilen, das Urteil wird eine
völlige Vernichtung von allem sein, was hier ist." (ebd.)
Auf diese Weise wird das, wie es Friedrich
Beißner
(1958) formulierte, durchgehende Thema Franz Kafkas "die
misslingende Ankunft oder das verfehlte Ziel", das "aus der
Grunderfahrung einer auswegslosen Einsamkeit (resultiert)" in der
christlichen Eschatologie, der Lehre von den letzten Dingen und dem
Jüngsten Gericht, aufgehoben.
Die
geschichtsphilosophisch, historisch fundierte Variante sieht, so
Gaier (1969)
im Meister einen Menschen, "der sich selbst zu einem bestimmten
Zeitpunkt aus einer konkreten historischen Situation hinausstößt". Die
diese Situation setzenden Begriffe seien die Wörter Stall, Tor und
Diener. Dabei könne der Diener "für all die Gegenstände der belebten und
unbelebten Natur stehen, soweit sie von der Menschheit in einer
bestimmten historischen Situation genutzt werden. Fortschritt bedeutet
der Klang der Trompete, Fortschritt ist das Ziel des 'Weg-von-Hier';"
Auf diese Weise erscheine es daher ausgesprochen vernünftig, "dass die
Welt mit ihren traditionellen Formen der Nützlichkeit einen Menschen
nicht versteht und ihm nicht helfen kann, der zu einer besseren Zukunft
aufbricht und dessen Denken schon an dieser Zukunft orientiert ist."
Aus Sicht dieser Deutungsperspektive ergibt sich nach
Gaier (1969)
als Lehre der Parabel:
-
Der Mensch
müsse in einer historischen Situation unterscheiden zwischen dem,
was für den Fortschritt nützlich sei - hier das Pferd - und was nur
hinderlich wirke - hier: Stall, Tor und Diener.
-
Er dürfe
sich nicht mit unnötigen Traditionen belasten, weil die Reise
glücklicherweise endlos sei und weil der Fortschritt so gewaltig
sein werde, dass die allmählich zur Vollendung gelangende Menschheit
alles, was jetzt vorstellbar sei, hinter sich lasse.
-
Er sollte
darauf vertrauen, dass die Zukunft ihm immer wieder mit neuer Kraft
für seinen ununterbrochenen Fortschritt ausstattete und dass es nur
von ihm abhänge, ob er sich das Verhungern erlaube. So brauche er
sich nicht mit unnötigen Dingen zu belasten, die im 21. Jh.
bedeutungslos würden. Ob das so sei oder nicht, können er allerdings
nicht wissen.
-
Der Mensch
könne nur seiner Hoffnung vertrauen, die ihm eine bessere Zukunft
ausmalte, denn menschlicher Fortschritt sei schon immer gefährlich
und mühselig und werde es auch künftig bleiben.
Die
marxistische Variante allegorischer Deutung geht nach
Gaier (1969)
davon aus, dass die Parabel Kafkas "genau die Situation des Künstlers in
der spätbürgerlichen Phase wider(spiegelt)." Die kapitalistischen
Produktionsverhältnisse seien "so überwältigend starr und drückend
geworden", dass der Künstler, im Bildbereich der Parabel also der Herr,
nur noch aufbrechen und diesen Verhältnissen entfliehen könne. Diesem
bourgeoisen Typ des Künstlers gehe nämlich davon aus, dass " jede
Verbindung zwischen der Kunst und einer solchen Wirklichkeit schädlich
für das Wesen des Kunstwerks schädlich" sei, weshalb ihm nach eigener
Überzeugung nur die Flucht bleibe " - weg von hier - die Flucht in eine
abstrakte und hochfliegende Sprache - der Diener kann ihn nicht
verstehen - die Flucht in Träume - Klänge einer Trompete, die sonst von
niemand gehört werden - Flucht in eine Form des Verhaltens, die der
Wirklichkeit nur in einer sehr indirekten, künstlichen und unwirksamen
Weise begegnet" Unter der marxistischen Deutungsperspektive würden in
dieser Parabel die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Zeit Kafkas
kritisch unter die Lupe genommen. Zugleich wird aber auch keine Lösung
angeboten. So sei denn auch der Autor weder willens noch in der Lage,
die gesellschaftlichen Verhältnisse zu einem Besseren zu verändern. denn
er sei eben" bei all seiner Reflexivität so schwach und labil wie seine
Helden" und mit seiner parabolischen, metaphorischen und paradoxen Kunst
ein Fatalist, der sich damit begnüge, "die äußere Hilflosigkeit
festzustellen, anstatt einen Weg zur Verbesserung der Verhältnisse
anzugeben." (ebd.)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.11.2023
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