Den Funktionszusammenhang von Form und Inhalt erkennen
Bei der Interpretation eines literarischen Textes ist es unerlässlich,
sich mit der ästhetischen Gestalt des Textes zu befassen. Dabei kommt es
darauf an, zu erkennen, welche Funktion bestimmte Merkmale oder Strukturen
eines erzählenden Textes im Hinblick auf die ihm zugemessene Bedeutung
besitzen. In diesem Zusammenhang spricht man vom ▪
Funktionszusammenhang von Form und Inhalt.
Der
mehr oder weniger bewusst gestaltete Einsatz bestimmter sprachlicher oder
erzähltechnischer Mittel durch den Autor steht dabei im Dienst der
Intentionen, die ein Autor mit seinem Text verfolgt, und beeinflusst in
hohem Maße die Wirkung, die von einem Text ausgeht.
Für die ▪
Interpretation
erzählender Texte in der Schule ist es
daher wichtig, sich den Unterschied einer ohne Bezug zum
Textverstehen erfolgten Auflistung verwendeter erzähltechnischer oder
sprachlich-stilistischer Mittel und ihrer funktionsorientierten Beschreibung
für die (vermutete) Textbedeutung klarzumachen.
Im ersten Fall wirkt die
Zusammenstellung immer "angeklebt", zeigt nur damit nur eine geringe
Kohärenz zum Ganzen und lässt eine
konsistente Gesamtdeutung in jedem Fall vermissen.
Der Funktionszusammenhang bei der Textinterpretation
Wie dies im Idealfall aussehen kann, hat der Literaturwissenschaftler
Michael Kielinger
(1971) bei seiner Interpretation von
▪ Franz Kafkas ▪
Parabel "▪
Gibs auf"
demonstriert, aus der hier ein kleiner Auszug wiedergegeben wird:
"Jemand ist auf dem Weg
zum Bahnhof. Die Zeit: 'Sehr früh am Morgen', die Straßen: 'rein und
leer'. Das suggeriert Sicherheit; wer sehr früh am Morgen, bei offenem
Weg, zum Bahnhof aufbricht, braucht nicht zu fürchten, seinen Zug zu
verpassen. Diese Freiheit von Angst gibt auch der Sprache ihre Form: die
Worte wiegen sich in der Ruhe abgewogener Alternation. Man hört den
gleichmäßigen Schritt der ihrer Sache, ihres Weges sicheren Person. Zwei
kurze Hauptsätze, von einer hauptsatzartigen Apposition unterbrochen,
aber im Fluss nicht gehindert, geben der Einleitung ihre thematische wie
sprachliche Zielstrebigkeit. Den Abschluss bildet der Spondeus1
'Bahnhof' - das Bild zweifelsfreier Zuversicht ist vollkommen,
Vertrauen verbreitet sich."
1 Spondeus: Versfuß aus
zwei Längen
Etwas später fährt Kielinger fort:
"Aus dem ruhigen Schrift wird ein hastiges
accelerando2, ein
hektisches Tempo; von 'ich musste mich sehr beeilen' bis 'fragte ihn
atemlos nach dem Weg' 'überstürzen' sich sechs parataktisch3
gefügte, ungleich rhythmisierte Kurzhauptsätze; schon das verrät
den Verlust an Souveränität, an Freiheit. Das Ich fällt in sich
steigernde Abhängigkeit, Getriebenheit. Das Adjektiv 'atemlos'
charakterisiert den inhaltlichen und formalen Aspekt ('atemlose Sätze')
des Mittelteils der Geschichte. Kein Zweifel, aus dem offenen Raum droht
ein Labyrinth zu werden, aus gleichmäßig ausgreifenden Schritten
panische Bewegungen."
2
accelerando: schneller werdend
3
Parataxe: Aneinanderreihung von Hauptsätzen
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.10.2024
|