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Bernhard Schlink: Der Vorleser

Erzählen unter Betäubung

Der Ich-Erzähler zwischen Verdrängung und Rationalisierung

Gert Egle

 
 
 

Betäubung ist ein psychischer Zustand, der in Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ immer wieder auftaucht, wenn es darum geht, auf die Verdrängung von Gefühlen zu verweisen. Betäubung befällt nach Darstellung des Ich-Erzählers dabei Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen. Ob es sich dabei um den Ich-Erzähler selbst (S.36, 96f. 147, 155, 159, 160, 162), um die Richter und Schöffen während des Prozesses, um Augenzeugenliteratur der Opfer, Aussagen der Täter oder die Angeklagten handelt, stets befinden sich die Personen in einer realen, in ihrer Erinnerung vergegenwärtigten oder bloß vorgestellten Extremsituation, denen sie ohne Betäubung, einem Zustand der gänzlichen oder teilweisen seelischen Schmerzfreiheit, psychisch nicht standhalten könnten. Die Betäubung, von der im Roman die Rede ist, stellt daher, psychologisch betrachtet, nichts anderes als einen Abwehrmechanismus des Ichs dar. Anders ausgedrückt ist es ein Schutzmechanismus, der verhindert, dass bestimmte Erlebnisse und Gefühle so ins Bewusstsein gelangen können, dass sie ein „normales“ Weiterleben verhindern. Und genau dieses Bemühen kennzeichnet auch die Art, wie der Ich-Erzähler seine und die Geschichte von Hanna erzählt. Es ist ein Erzählen unter Betäubung, ein Erzählen, das wie im vorliegenden Fall ständig bemüht ist, die Geschichte loswerden zu wollen, ohne es zu können (vgl. S. 206). Betäubung wird damit zur Chiffre eines Erzählens, das, indem es die tieferen Ursachen der Affekte weitgehend ausblendet und Ängste abwehrt, sich stets auch im Kreis dreht.
Das erste Mal, an dem der Erzähler im Roman von einem Gefühl der Betäubung spricht, ist nach der ersten Auseinandersetzung zwischen Hanna und dem jungen Michael Berg über dessen Schulschwänzen. Als Hanna ihn in diesem Zusammenhang aus ihrem Bett verweist und im Anschluss daran zu ihrem grotesken Spiel als nackte Schaffnerin in der Küche anhebt, ist der Fünfzehnjährige „wie betäubt“. (S.36) Anschließend entschuldigt sich Michael Berg in seiner Rolle als erlebendes Ich für eine Äußerung, von der er eigentlich nimmer mehr annehmen konnte, dass sie Hanna verletzen konnte. Zugleich aber traut er sich auch nicht, Hanna seine Liebe einzugestehen. Und: Innerlich zumindest bäumt er sich gegen die Bevormundung durch Hanna auf und weist sie zurück, wenngleich er nach außen hin seine Unterwerfung und Abhängigkeit signalisiert: „Ich kann dich nicht nicht sehen.“ (vgl. S.36) Die Betäubung, die der junge Michael Berg in dieser Situation erlebt, stellt letztendlich einen Verzicht auf die eigene Meinung dar, gefährdet bis zu einem gewissen Grad seine autonome Existenz und stürzt ihn in eine sexuelle Hörigkeit, die auch durch die darauf folgenden Reflexionen des erlebenden Ichs, in denen sich Potenzängste manifestieren, unterstrichen wird. Die Betäubung bewahrt den jungen Michael Berg davor, den Konflikt mit Hanna auszutragen und damit vor dem drohenden Liebesentzug.
Während der wochenlangen Gerichtsverhandlung gegen Hanna und ihre Mitangeklagten befindet sich Michael Berg nach Ansicht des erzählenden Ichs in einem anhaltenden Zustand der Betäubung. (vgl. S.96) Was auch immer im Prozess zur Sprache gebracht worden sei und was er sich auch immer im Hinblick auf Hanna vorgestellt habe, Erinnerungen an ihre gemeinsame sexuelle Affäre oder Vorstellungen über Hannas Verbrechen, niemals habe er dabei irgendetwas gefühlt. Es scheint, als seien sich das erlebende und das erzählende Ich dabei einig, auch wenn letzteres zumindest den Ansatz einer kritischen Betrachtung erkennen lässt, die den Schutzmechanismus der Betäubung sogar in die Nähe eines willentlichen Aktes rückt: „Wer hatte mir die Spritze gegeben? Ich mir selbst, weil ich es ohne Betäubung nicht ausgehalten hätte?“ (S.97) Die Auswirkungen der Betäubung auf den jungen Michael sind gewaltig: Sie ermöglichen ihm nicht nur gegenüber Hanna völlig auf Distanz zu gehen, sondern führen auch zu seiner, zumindest inneren Isolation von Familie und Freunden, bewegen sich im Grenzbereich einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung („Ich stand auch bei allem anderen neben mir und sah mir zu“). Es ist bemerkenswert, wie wenig kritische Aufmerksamkeit der reife Michael Berg als Erzähler diesem psychischen Zustand schenkt und stattdessen auf vordergründig ähnliche Betäubungsprobleme bei anderen (z. B. Richter, Schöffen, Zeugen) ausweicht. Die Behauptung des Erzählers am Romanende, er habe seinen Frieden mit der Geschichte gemacht (S.206), erweist sich schon an dieser Stelle als äußerst brüchig. Es verhält sich nämlich tatsächlich so,  wie der Erzähler es am Ende des Romans ausdrückt: „Die Schichten unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf“ (ebd.), dass die damaligen Verletzungen und Schuldgefühle tatsächlich wieder hochkommen, wenn er zu sehr an ihnen rührt. Was der Erzähler an gleicher Stelle zweifelnd konstatiert: „Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will, auch wenn ich es nicht kann.“ liefert dabei den Schlüssel auch für das Problem der Betäubung. Auch der reife Michael Berg zeigt im Umgang mit sich und seiner Geschichte, dass er sie nur unter Betäubung, d. h. unter Zuhilfenahme von Abwehrmechanismen, erzählen kann. Die dabei am häufigsten sichtbaren Abwehrreaktionen sind die der Intellektualisierung und der Rationalisierung. Während er beim Rationalisieren versucht, "Gefühlen, Gedanken und Handlungen, deren wirkliche psychische Bedingungen nicht erkannt sind, einen logisch stimmigen und/oder moralisch legitimierten Zusammenhang zu geben" (Haubl u. a. 1986, S.194), versucht er sich bei der Intellektualisierung von allen Gefühlen zu distanzieren. Indem auch der reife Michael Berg über weite Strecken bloß rationalisiert, wenn es darum geht, wie er sich während des Prozesses gegenüber Hanna gefühlt hat, bleibt er letzten Ende doch auf der Ebene jenes „Vernünftelns“, das er an anderer Stelle im Rückblick belächelt (vgl. S. 21) und verharrt damit letzten Endes ein Leben lang in einem Zustand neurotischer "Betäubung", auch wenn er selbst der Ansicht ist, er habe die Betäubung irgendwann überwunden. (vgl. S.160)
Dabei zeichnen sich auch während des Prozesses Möglichkeiten ab, den Zustand der Betäubung zu überwinden und die erst sehr viel später eingestandene, prägende Wirkung Hannas auf ihn aufzuarbeiten.
Als Hanna nach der Aussage der Tochter über das Vorlesen im Lager den Blick von Michael sucht, ihn aber sogleich wieder abwendet, als dieser errötet, zeigt Michael Berg zum ersten Mal während des Prozesses ganz offenkundig und unkontrolliert Gefühle. Und diese Gefühle sind im Prozess des Erzählens erneut so stark, dass das erzählende Ich für einen Moment die Kontrolle über die von ihm (rationalisierte) Geschichte verliert. Unmittelbar und in einer ungeheuren authentischen Dichte des Erlebens werden die Gefühle evoziert, die den jungen Michael Berg ergriffen haben: „Frag sie, dachte ich. Frag sie, ob sie die schwachen und zarten Mädchen gewählt hat, weil sie die Arbeit auf dem Bau ohnehin nicht verkrafteten [...] Sag’s Hanna. Sag, dass du ihnen den letzten Monat erträglich machen wolltest.“ (S. 113) Die Parteinahme für Hanna, die aus diesen Worten spricht, ist dabei nur eine Seite, die emotionale Beteiligung dabei die andere, die zeigt, wie sehr sich die „Schichten“ seines Lebens in die Quere kommen können, wenn die Rationalisierung von Gefühlen einmal versagt. So hilft ihm letzten Endes auch nicht weiter, dass er Hannas Analphabetismus aufdeckt. Was seine Deutung, Hanna ehemals "vertrieben, weil verraten und verleugnet zu haben" (S. 131) eigentlich in ein neues Licht rücken und ihm die Chance zur Verarbeitung von Schuldgefühlen geben könnte, wird vom Ich-Erzähler schlicht umgedeutet, so dass er sich im Grunde noch viel tiefer in Schuldgefühle verstrickt: "Allerdings änderte der Umstand, dass ich sie nicht vertrieben hatte, nichts daran, dass ich sie verraten hatte. Also blieb ich schuldig. Und wenn ich nicht schuldig war, weil der Verrat einer Verbrecherin nicht schuldig machen kann, war ich schuldig, weil ich eine Verbrecherin geliebt habe." (S.129)
Auch die Bilder, die sich dem jungen Michael Berg aufdrängen, nachdem er Hannas Analphabetismus erkannt hat, zeigen, dass die Betäubung nicht wirklich gelingt. (vgl. S. 140). Denn die Begegnung mit ihnen macht dem jungen Michael Berg schwer zu schaffen: „ Schlimm war, wenn die Bilder durcheinander gerieten. Hanna, die mich mit kalten Augen und dem schmalen Mund liebt [...] und deren Gesicht zur Fratze wird. Das schlimmste waren die Träume, in denen mich die harte, herrische, grausame Hanna sexuell erregte und von denen ich in Scham und Empörung aufwachte.“ (S.141f.)
Während sich das erzählende Ich der emotionalen Wirkung dieser Bilder „von großer Kraft“, allerdings wie üblich rationalisierend, entzieht und damit an der Fiktion einer weitgehend distanzierten Haltung zu Hanna festhält, stellt es auch Versuche an, die Betäubung rational zu überwinden.
Ein erster Versuch, die eigene Betäubung rational zu überwinden, zeigt sich, nachdem dem Erzähler klar wird, dass sich Hanna aus Scham über eine Bloßstellung wegen Analphabetismus „im Prozess um Kopf und Kragen“ redet (S.127). Denn nun beginnt er, zumindest ansatzweise, Hannas Verhalten beim Mord an den Häftlingen zu entschuldigen. („Hanna hatte sich nicht für das Verbrechen entschieden.“, S. 128) Zudem ist er sich bewusst, dass ihn das Wissen um Hannas Geheimnis zu einem Rollenwechsel zwingt. War er bis dahin einfach nur „Zuschauer gewesen“, so ist er nun, ob er will  oder nicht, „plötzlich Teilnehmer geworden, Mitspieler und Mitentscheider.“ (S.131) Diese neue Rolle bewegt ihn, bei seinem Vater Rat zu suchen (vgl. S.134-138). Doch kann er dessen Rat, mit Hanna über das Problem zu sprechen, nicht in die Tat umsetzen, da er überhaupt nicht weiß, wie er ihr gegenübertreten sollte. (S. 138) Im Rückblick gesteht sich der Erzähler ein, dass er das Ergebnis des Gesprächs aber auch als eine große Entlastung aufgefasst habe, da er die Äußerungen seines Vaters so interpretiert habe, dass es moralisch nicht vertretbar war, mit dem Richter hinter dem Rücken von Hanna zu reden. (S. 137)
Ein zweiter Versuch, die eigene Betäubung mit rationalen Mitteln zu überwinden, stellt der Besuch des elsässischen KZ Struthof dar, mit dem das erlebende Ich die Hoffnung verbindet, seine klischeeartigen Vorstellungen über die Konzentrationslager im Allgemeinen und Hannas Aufsehertätigkeit, die seine Erinnerungen an die von ihm geliebte Hanna "zersetzt" hatten (vgl. S.142), mit der Wirklichkeit "auszutreiben". (vgl. S. 144) Dabei geht es ihm ganz offensichtlich darum, jene zuvor erwähnten fantasierten Bilder von Hanna als grausamer und skrupelloser Täterin wieder loszuwerden, die ihm in seinen Träumen Angst bereiten. (vgl. S.140) Doch dieses Unterfangen scheitert und das erlebende Ich muss sich am Ende eingestehen: "In mir fühlte ich eine große Leere, als hätte ich nach der Anschauung nicht draußen, sondern in mir gesucht, und feststellen müssen, dass in mir nichts zu finden ist." (S. 150) Auch in diesem Fall führt sein Weg, die Betäubung rational zu überwinden, in eine Sackgasse. Aber: auch wenn ihm, rational betrachtet,  der Besuch des KZ Struthof  "die fremde Welt der Konzentrationslager" nicht näher rückt und seine Eindrücke dort offenbar auch zu Klischees erstarren (vgl. S. 152), löst er doch Affekte aus, die zeigen, wie sehr das erlebende Ich unter dem Einfluss von nicht eingestandenen Wünschen, Ängsten und Schuldgefühlen leidet. Unter diesem Blickwinkel erscheint auch die Empörung nicht wirklich überzogen, die den Ich-Erzähler am ganzen Leib zitternd zur Intervention gegen das "Spiel" der vier Männer mit dem alten Mann mit Holzbein im Dorfgasthof veranlasst. . Denn damit "verarbeitet" er schließlich auch, "das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens" (S. 149), das ihn beim Besuch des Konzentrationslagers erfasst und gelähmt hat. Und zugleich ist es als Parteinahme für das Opfer ein Versuch, sich gegen jene inneren Regungen zu stemmen, die auf eine Entschuldigung der Täter im Allgemeinen und Hannas im Besonderen hinauslaufen. Die Affekte, die dem Ich-Erzähler zu schaffen machen, werden schließlich so groß, dass er in der Nacht darauf "innerlich immer unruhiger" wird, bis er "auch äußerlich am ganzen Körper" zittert. (S.151) Die Entkoppelung von Affekt und der Vorstellungen darüber, auf welches Objekt sich dieser Affekt bezieht (Objektbeziehungsvorstellungen), setzt einen Affekt frei, der nur dadurch gedämpft werden kann, "dass er einen großen Teil seines Betrages körperlich bindet" (Haubl u. a. 1986, S.195). Dieser Abwehrmechanismus der Konversion kennzeichnet das Erleben des Ich-Erzählers während dieser Nacht und sein notgedrungen mangelndes Bewusstsein davon , das ihn zu der bezeichnenden Äußerung bringt: "Ich hatte Angst, nicht als Erwartung eines schlimmen Ereignisses, sondern als körperliche Befindlichkeit." (S.151) Erst im Rückblick erschließt sich dem Erzähler ein Stück weit die aufgebrochene Dynamik, als er das Dilemma benennt, "Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen" zu wollen. (S.151) Beides zugleich, so resümiert er, "ging nicht". Wenn er zugleich eingesteht, er sei damit nicht fertig geworden, so gewinnt man allerdings den Eindruck, dass das erzählende Ich dies allein als Regung des erlebenden Ichs ansieht und sich an dieser Stelle der Tragweite dieser Feststellung für sein weiteres Leben nicht bewusst ist.
Eine besondere Rolle im Kontext der Betäubungsproblematik spielt das Gespräch, das der der junge Michael Berg mit dem Autofahrer bei seiner Fahrt zum KZ Struthof führt. Der Mann, der die grundlegenden Fragen des Studenten der Rechtswissenschaft zum Holocaust antizipiert, zeigt in besonders unerbittlicher Weise, wohin die Betäubung der eigenen Empfindungsfähigkeit führt: zu völliger Abstumpfung gegenüber dem Leiden des anderen. Als er die Photographie von Massenerschießungen in Russland beschreibt, auf der auch ein offenkundig teilnahmsloser Offizier mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck den kommenden Feierabend erwartet, wird er von dem jungen Michael Berg indirekt mit dem Offizier identifiziert. Daraufhin wird der trampende Ich-Erzähler aus dem Auto des Mannes  verwiesen, gegen dessen Argumentation ihm trotz aller Empörung die Worte fehlen. Was er auch immer gegen den Mann vorbringt, seinen ironischen Unterton, die seltsame Art, wie er etwas sagt oder seine inquisitorische und zugleich suggestive Fragetechnik, die den Unwillen des Ich-Erzählers hervorruft, das Gesprächs hat eine so große Wirkung auf ihn, dass er draußen "erlöst“ atmet. (S.146) Und genau dieses Gefühl gibt zu denken. Es ist nicht Wut, was den Ich-Erzähler ergreift, sondern ein Gefühl der Entlastung. Es entlastet ihn letzten Ende von der Einsicht in die furchtbaren Konsequenzen der Betäubung, die er auch für sich stets reklamiert. Und ist das Verhalten dieses Offiziers, so sehr es auch moralisch zu verurteilen ist, nicht gerade auch Ausdruck dessen, wie Täter des Holocaust unter Betäubung aller menschlichen Regungen und Gefühle zum Trotz in den Alltag zurückkehren und in ihm ganz "normal" weiterleben konnten? (vgl. S. 155) Ein furchtbarer Gedanke für den Ich-Erzähler, so dass er erleichtert, ja erlöst, von weiteren Überlegungen seinen weiteren Weg Richtung Konzentrationslager nimmt.
Bei seinem Gespräch mit dem Richter nach der Prozesspause folgt der Erzähler seinem schon zu Beginn des Romans dargelegten Muster, wonach „das Handeln (…) nicht einfach (vollzieht), was davor gedacht und entschieden wurde.“ (S.22) Obwohl er sich ursprünglich dagegen entschieden hatte (vgl. S. 137), sucht er nun doch den Richter auf,  und macht damit einen dritten Anlauf, seine Betäubung rational zu überwinden. Allerdings geht es ihm dabei nur vordergründig darum, den Richter über Hannas Analphabetismus zu informieren. In Wahrheit, so bemerkt das erzählende Ich im Rückblick, sei es ihm aber mehr darum gegangen, an Hanna herumzumachen, weil er sie „(…) nicht lassen (konnte), wie sie war und wie sie sein wollte.“ (S.153) So nimmt es denn auch nicht Wunder, dass der Besuch beim Richter ohne dessen Information über Hannas Analphabetismus zu Ende geht. Die Konsequenzen, die das Gespräch für Michael Berg hat, sind indes beträchtlich. Er wechselt nämlich im Anschluss daran, so behauptet er jedenfalls, erneut die Rolle und wird wieder bloßer Beobachter des weiteren Geschehens. Wie schon früher registriert er zwar noch, was geschieht, gibt aber dabei vor, nichts mehr zu fühlen. Nichts, aber auch gar nichts, scheint er für Hanna mehr zu empfinden, als er äußert: „Ich war nicht mehr gekränkt, von Hanna verlassen, getäuscht und benutzt worden zu sein. Ich musste auch nicht mehr an ihr rummachen.“ (S.155) Doch auch dieses Mal erfolgt die Distanzierung von Hanna und damit auch von sich selbst nur als Verdrängung, die ihn vor der weiteren Aufarbeitung der Beziehung mit Hanna bewahrt: „Ich spürte, wie sich die Betäubung, unter der ich den Entsetzlichkeiten der Verhandlung gefolgt war, auf die Gefühle und Gedanken der letzten Wochen legte. Dass ich darüber froh gewesen wäre, wäre viel zu viel gesagt. Aber ich empfand, dass es richtig war, Dass es mir ermöglichte, in meinen Alltag zurückzukehren und ihn ihm weiterzuleben.“ (S.155)
Der Sommer nach dem Prozess steht nach den Aussagen des erzählenden Ichs noch ganz unter dem Eindruck dieser Betäubung, die zur Ablösung des Erzählers von seiner Familie und seiner Abkapselung von den wenigen Bekannten führt, die er überhaupt hat (vgl. S. 159). Erst das gemeinsame Skifahren mit ein paar Studenten an Weihnachten bringt ihn wieder aus seiner selbst gewählten Isolierung heraus. Seine dabei mehr oder weniger bewusst herbeigeführte Erkrankung, deren heraufziehendes Fieber er nach eigenen Worten geradezu genießt, interpretiert das erzählende Ich als Auswirkungen anhaltender Betäubung. Die gegen sich selbst gerichtete Destruktivität dieses Verhaltens zeigt allerdings, in welchem Maße es Ängste und Schuldgefühle beherrschen, dass den freigesetzten Gefühle nur mit dem Abwehrmechanismus der Konversion entgegengewirkt werden kann. Kennzeichen dieser Abwehrreaktion ist nämlich unter anderem, dass es zu Veränderungen der Sensibilität kommt: "Zu Abwehrzwecken wird der Körper (meist) mittels Empfindungsschwächen und Funktionseinbußen der Wahrnehmungsfähigkeit konkreten Objektbeziehungen partiell entzogen." (Haubl u. a. 1986, S.195) .
Das Fieber versetzt Michael Berg in einen geradezu euphorischen Zustand, in dem er seine reduzierte Wirklichkeitswahrnehmung und Sensibilität als so „wohltuend“ erlebt, dass er sich wie über allen Dingen schwebend wähnt. Als das rasch ansteigende Fieber einen Krankenhausaufenthalt erzwingt, entfaltet das Fieber nach Auffassung des erzählenden Ichs erst völlig seine kathartisch reinigende Kraft. Jedenfalls behauptet der Erzähler, dass nach der Entlassung aus dem Krankenhaus die „Betäubung vorbei“ gewesen sei. (S. 160). Nun scheint er sich darüber im Klaren zu sein, dass „alle Fragen, Ängste, Anklagen und Selbstvorwürfe, alles Entsetzen und aller Schmerz, die während des Prozesses aufgebrochen und gleich wieder betäubt worden waren“ (S.160), nicht einfach zu verdrängen waren und ihn sein Leben lang begleiten würden. Und doch, so zeigt der weitere Verlauf der Geschichte, ist diese scheinbar erwachsen aufgeklärte Haltung, die das erzählende Ich dem erlebenden Ich unterschiebt, erheblich getrübt von der fehlenden emotionalen Aufarbeitung seiner Beziehung zu Hanna.  Daher ist letzten Endes davon auszugehen, dass die Behauptung vom Ende der Betäubung zeigt, wie wenig sich auch das erzählende Ich der weiteren psychischen Dynamik bewusst ist, die das Ganze für sein weiteres Leben mit sich bringt.
Die Ehe mit seiner Frau Gertrud, der er niemals etwas von Hanna erzählt, sie aber zugleich stets mit ihr vergleicht, scheitert nach fünf Jahren daran. Während er allerdings bei Gertrud noch wünscht, dass sich seine Gedanken an Hanna irgendwann verlieren, gesteht er sich in seinen danach kommenden Frauenbeziehungen ein, „dass eine Frau sich ein bisschen wie Hanna anfassen und anfühlen, ein bisschen wie sie riechen und schmecken muss“, damit ein Zusammenleben überhaupt erst möglich wird. (S.160) Im Unterschied zu Gertrud sucht er aber mit diesen Frauen offenbar auch das Gespräch über seine Geschichte mit Hanna und über sich selbst, damit sie „sich ihren Reim auf das machen können, was ihnen an meinem Verhalten und meinen Stimmungen befremdlich erscheinen mochte.“ (S.166) Leider lässt sich der Erzähler nicht weiter über den Verlauf derartiger Gespräche aus. Offenkundig erhält er aber nicht das zurück, was er erwartet, und eine dauerhafte Beziehung zu einer anderen Frau kommt nicht zustande. So scheitern auch diese Versuche, mit der Vergangenheit umzugehen, so dass Michael Berg das Erzählen über seine Vergangenheit wieder einstellt. (S.166)
Nach diesen Versuchen, offensiv mit der eigenen Vergangenheit umzugehen, ist er danach bemüht, Erinnerungen an Hanna und den Prozess tunlichst zu vermeiden. So sträubt er sich zunächst gegen eine Teilnahme an der Beerdigung des Professors, der seinerzeit das KZ-Seminar angeboten hatte, weil er sich nicht erinnern will. Als er sich dann doch entscheidet zur Beerdigung zu gehen, wird das Ganze zu einer „Verabredung mit der Vergangenheit“ (S.167). Allein die Straßenbahnfahrt evoziert Erinnerungen an Hanna und das Wiedersehen mit einem ehemaligen Studienkollegen konfrontiert ihn direkt mit seiner Erinnerung an seine Jugendliebe. Als dieser wissen will, was während des Prozesses mit ihm und der angeklagten Hanna, die er seinerzeit ständig angestarrt habe, los gewesen sei (vgl. S.169), sieht er sich unversehens in einen Zwiespalt von Gefühlen gebracht. Er ist völlig konsterniert und unschlüssig, ob und was er antworten soll, fragt sich, ob er das Ganze verleugnen oder bekennen oder einfach irgendwie ausweichen soll. Am Ende entscheidet er sich für die Flucht in den nächstbesten Straßenbahnwaggon (S. 170). Dabei ist die Symbolkraft des fast verzweifelten Klopfens an die Türe der schon losfahrenden Straßenbahn nicht zu übersehen, die noch auf dem Hinweg Erinnerungen an Hanna ausgelöst hatte. In dem gleichen Augenblick, in der er den Fragen seines Gesprächspartners ausweicht und Hanna damit wieder einmal verleugnet, flüchtet er sich in den Schutz der Straßenbahn, einen Ort, der in seiner Erinnerung allerdings negativ als Ort der Demütigung besetzt sein muss (vgl. S. 47) Die Flucht vor dem unbequemen Frager ist dabei auch immer die Flucht des Erzählers vor sich selbst, einem Verhalten, das sich, wie er selbst sieht, sich durch sein ganzes Leben zieht („der ersten Flucht folgte die nächste“, S. 172).
Die Nächte nach der Trennung von Gertrud und seiner Tochter Julia verbringt der Erzähler nicht selten schlaflos. Seine Erinnerungen und Träume, an deren genaueren Inhalt er sich entweder nicht erinnert oder den er nicht preisgibt, drehen sich dabei aber weniger um seine gerade zerbrochene Familie oder gar um die Folgen seiner Trennung von seiner Frau für sein gerade fünfjähriges Kind, sondern um Hanna. Als ob es selbstverständlich wäre, erzählt er davon, wie er beginnt für Hanna auf Kassetten vorzulesen. Die wenigen lapidaren Bemerkungen dazu zeigen, dass er sich auch in der Rückschau über seine Motive dafür wenig im Klaren ist. So berichtet das erzählende Ich in ähnlich distanzierter Weise darüber, wie Michael Berg nach einiger Zeit Hannas Haftanstalt ermittelt und die besprochenen Kassetten zusammen mit einem Kassettenrekorder an sie versendet. (vgl. S.175) Interessant und bezeichnend zugleich, dass dieser äußerst bedeutsame Vorgang dem erzählenden Ich nicht Anlass ist, kommentierend Stellung zu nehmen oder das erlebende Ich mit seinen Gedanken und Gefühlen während der Monate, die er die Kassetten noch zurückgehalten hat, zu Wort kommen zu lassen. Und natürlich hat diese (Erzählpraxis) auch Methode. Sie folgt im Prinzip der gleichen Grundstruktur der Betäubung, zeigt die Schutzmechanismen, mit denen sich selbst das erzählende Ich umgeben muss, um der Dynamik seiner psychischen Probleme nicht zu erliegen. Es fällt auch auf, dass der Erzähler das Wiederaufnehmen der Vorlesetätigkeit für Hanna in keiner Weise hinterfragt. Im Gegenteil: Statt darüber zu reflektieren, wie es kommt, dass er in der Beziehung zu Hanna erneut diese Rolle spielt, lässt er sich länger über die zunächst wahllos aufgenommenen Titel aus, deren Auswahl „ein großes bildungsbürgerliches Urvertrauen“ (S. 176) ausgedrückt habe. Welche Absichten sich auch immer hinter dieser Auswahl zeigen mögen, der Erzähler lässt sich nur andeutungsweise darüber aus, hat diese Auswahl natürlich auch Signalcharakter. So verweist die Odyssee, die er als erstes aufnimmt, auf seine erstmalige Lektüre des Textes in der Schule, bei der die Geschichte von Nausikaa zur Folie für sein zeitweiliges Schwanken zwischen Hanna und seiner Mitschülerin Sophie wird (vgl. S. 66). Aber auch die anderen Titel geben der ansonsten distanzierten Haltung des Erzählers eine persönliche Note. Vorzulesen, was er selbst schon kannte und liebte (!) (vgl. S.175), zeugt von mehr als distanzierter Kontaktaufnahme. Wie emotional und psychisch weitreichend diese Kontaktaufnahme mit Hanna ist, bei der es ansonsten von ihm aus gesehen nie eine persönliche Bemerkung gegeben hat („Ich habe Hanna nie geschrieben.“, S.179), zeigt allerdings die Tatsache, dass er ihr auch seine eigenen Manuskripte vorliest. (S.176) Es kommt einem vor, als wolle er damit beantworten, was sie schon Ostern 1959 wissen wollte, als sie ihn danach gefragt hatte, ob er auch einmal Bücher schreiben werden (S.62). Dass er dazu Hanna noch zu einer entpersönlichten „Instanz“ erklärt, für die er beim Vorlesen noch einmal alle seine Kräfte bündele, zeugt weiter von der über alle Maßen wichtigen emotionalen Bedeutung, die Hanna allen Rationalisierungsversuchen zum Trotz auch weiterhin im Leben Michael Bergs spielt. (vgl. S. 176) So erfüllt ihn auch Hannas Überwindung des Analphabetismus, den er als einen Schritt aus der Unmündigkeit ansieht, mit Stolz (vgl. S.178). Allerdings nutzt er die damit verbundene Chance, mit Hanna wirklich zu kommunizieren nicht und belässt es auch weiterhin beim Vorlesen. Die Erklärung „Das Vorlesen war meine Art zu ihr, mit ihr zu sprechen.“ (S.180) kann über diese mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zur Aufnahme einer echten Kommunikation daher auch nicht hinwegtäuschen. So bleibt das Vorlesen seine Sprache der Betäubung, eine Sprache der Unfähigkeit, in sich hineinzuhören und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Und aus dem gleichen Grund will er sich auch, als Hannas Entlassung aus der Haft ansteht, zunächst vor einem Besuch drücken, auch wenn er sich um Arbeit und eine Wohnung für Hanna kümmert (vgl. S.183). Nur notgedrungen besucht er Hanna schließlich eine Woche vor ihrer Haftentlassung. Aber schon der Geruch, den Hanna bei ihrer Begegnung verströmt, hält den Ich-Erzähler auf Distanz, da er mit seinem im Gedächtnis gespeicherten, erotisch besetzten Duft seiner ehemaligen Geliebten nichts mehr gemein hat (vgl. S.185f.). Und im Gespräch mit ihr, indem sie ihn nach so vielen Jahren weiterhin mit „Jungchen“ anspricht (vgl. 185, 188, 191), wird klar, dass er selbst an Hannas Entwicklung nach ihrer Überwindung des Analphabetismus nicht wirklich interessierten Anteil genommen hat. Mit schlechtem Gewissen spürt er, dass er Hanna lediglich für seine eigenen Belange funktionalisiert hat: „Ich habe Hanna eine kleine Nische zugebilligt […] aber keinen Platz in meinem Leben.“ (S.187) Fast möchte man dem Erzähler glauben, wäre da nicht eine andere Äußerung, die der Erzähler während seiner Liebesaffäre mit Hanna macht: „Wir hatten keine gemeinsame Lebenswelt, sondern sie gab mit in ihrem Leben den Platz, den sie mir geben wollte.“ (S.75) Während der Haftzeit von Hanna hat er dabei letztlich die Verhältnisse umgedreht. Und doch ist es nur die halbe Wahrheit. Denn in eine Nische ließ sich Hanna für ihn überhaupt nicht abdrängen, zu sehr bleibt sein ganzes Leben in die Beziehung mit ihr verstrickt. Als der Erzähler beim Besuch von Hanna zur Sprache bringt, was ihn wirklich beschäftigt, nämlich die Frage, ob Hanna ihm mit dem Verschweigen ihrer NS-Vergangenheit während ihrer früheren Liebesaffäre, insbesondere beim Vorlesen, bewusst getäuscht habe, weist sie sein Ansinnen zurück. Rechenschaft hätten nur die Toten von ihr zu fordern, erklärt sie, die anderen Menschen hätten ohnehin nie verstanden, wer sie sei und wie sie „hierzu und dazu gebracht hat“ (S.187) Da Michael Berg darauf nichts zu antworten weiß, endet das Gespräch in Belanglosigkeiten und der Ankündigung des Erzählers, er werde Hanna bei ihrer Entlassung aus dem Gefängnis abholen. Als sie sich voneinander verabschieden, wirkt der Erzähler distanzierter denn je zuvor. Denn zu dem vorher schon befremdlichen Geruch gesellt sich nun bei einer Umarmung der Eindruck, dass sie sich nicht „richtig“ anfühlte (vgl. S.188) Es dauert eine Weile, bis er das Wiedersehen mit Hanna zu verarbeiten beginnt. Erst im Laufe der kommenden Woche, in der er Hannas Wohnung „eigentümlich gehetzt und verbissen“ (S. 190) einrichtet, stellen sich wieder Erinnerungen ein, die offenbar lange Zeit verschüttet waren. Insbesondere die Szene im Schwimmbad, als er vor langen Jahren Hanna vor seinen Freunden verleugnet hatte, steht ihm so drastisch vor Augen, dass er die gleichen Gefühle wie damals augenblicklich wieder erlebt. Für einen Moment kommt es einem so vor, als sei er einmal mehr aus seiner Betäubung erwacht, als er davon spricht, „sie verraten zu haben und an ihr schuldig geworden zu sein“ (S.190). Schnell aber empört er sich gegen die aufkommenden Schuldgefühle, indem er Hannas Antwort auf seine drängende Frage im Gefängnis kritisiert. Während er sie dort noch wortlos hingenommen hatte, verteidigt er nun vor sich sein Recht, von ihr Rechenschaft zu fordern. Aber ebenso quälend wie in früheren Überlegungen auch stellt sich dem Erzähler letzten Ende wieder die Frage nach seiner Bedeutung für Hanna und damit auch die beklommene Frage nach der eigenen Identität („Wo blieb ich!“, S. 190). Erst der Selbstmord Hannas, der den Erzähler tief traurig stimmt, gibt ihm Gelegenheit mehr über deren Zeit im Gefängnis zu erfahren. Was im Gespräch mit ihr selbst niemals Thema gewesen war, wird nun von der Leiterin des Gefängnisses berichtet: wie Hanna Lesen und Schreiben gelernt hat, wie sie sich über Konzentrationslager informiert hat usw. Dazu kommen die kleinen, man möchte sagen intimen Dinge des Lebens hinter den Gefängnismauern, die ihm beim Aufsuchen von Hannas Zelle Aufschluss über die reale Hanna in Haft und deren Befindlichkeit geben: Bildchen aus Zeitungen, Naturgedichte und eine Zeitungsbild von ihm selbst, das ihn bei seiner Abiturfeier drei Jahre nach dem Ende ihrer gemeinsamen Affäre zeigt (vgl. S.194). Für einen Moment scheint der Erzähler zumindest zu ahnen, dass er eine wirkliche Bedeutung für Hanna gehabt haben muss. Als er aber von der Leiterin des Gefängnisses noch erfährt, dass Hanna sich immer einen Brief von ihm erwünscht habe, hüllt er sich in Schweigen. (vgl. S. 195) Was ihn beschäftigt, wird dagegen deutlich, als sich das Gespräch um das Testament Hannas dreht. Dass Hanna ihm keine persönliche Nachricht hinterlassen hat, verunsichert den Erzähler erheblich. Er ist sich nicht sicher, ob Hanna ihn damit kränken oder strafen will oder ob sie einfach mit dem Leben abgeschlossen hatte (vgl. S.196). Daher ist sein Interesse an Hannas Entwicklung, das er im Anschluss an diese Gedanken zeigt, neben ihrer Entwicklung während der gesamten Haftzeit besonders auf Hannas Verhalten in den letzten Tagen gerichtet, um vielleicht daraus Hinweise für eine Antwort zu gewinnen, die ihm allerdings versagt bleibt. Während der Ich-Erzähler zu Beginn seines Gesprächs mit der Leiterin des Gefängnisses noch seine Tränen unterdrücken muss (vgl. S.193), verspürt er beim Anblick der toten Hanna keine Veranlassung mehr zum Weinen. Verunsichert ist er dagegen darüber, dass er im Gesicht der Toten ihr junges Gesicht wiederzusehen glaubt, das ihm bei seinem Besuch eine Woche zuvor überhaupt nicht mehr vor Augen gestanden hatte (vgl. 198f.). Dessen ungeachtet folgt er danach wieder dem Schema der Betäubung, denn der Erzähler verliert kein weiteres Wort mehr über seine Befindlichkeit unmittelbar nach dem Tod von Hanna. Erst im darauf folgenden Herbst, als er sich in die USA begibt, um Hannas Vermächtnis zu erfüllen, holt ihn Hanna während einer Zugfahrt wieder ein: „Als ich vom Rollen der Räder und Schaukeln des Wagens müde wurde, träumte ich von Hanna und mir in einem Haus in den herbstbunten Hügeln, durch die der Zug fuhr. Hanna war älter, als ich sie kennen gelernt, und jünger, als ich sie wieder getroffen hatte, älter als ich, schöner als früher, mit dem Alter noch gelassener in ihren Bewegungen und in ihrem Körper noch mehr zu Hause. Ich sah sie aus dem Auto steigen und Einkaufstüten auf die Arme nehmen, sah sie durch den Garten ins Haus gehen, sah sie die Einkaufstüten abstellen und vor mir die Treppe hinaufsteigen. Die Sehnsucht nach Hanna wurde so stark, dass sie weh tat. Ich wehrte mich gegen die Sehnsucht, hielt ihr entgegen, sie gehe an Hannas und meiner Realität völlig vorbei, an der Realität unseres Alters, unserer Lebensumstände. Wie sollte Hanna, die nicht englisch sprach, in Amerika leben? Und Auto fahren konnte sie auch nicht.
Ich wachte auf und wusste wieder, dass Hanna tot war. Ich wusste auch, dass sie Sehnsucht sich an ihr festmachte, ohne ihr zu gelten. Es war die Sehnsucht danach, nach Hause zu kommen.“ (S.199f.)
In diesem Traum werden zumindest für einen Moment jene Wünsche wach, die der Erzähler seit dem Beginn des Prozess nicht ein einziges Mal mehr zugelassen hat. Hanna besitzt auch in einem Alter, in dem sie real hinter Gittern ist, eine hohe sexuelle Attraktivität für den Erzähler, die, weil sie nun nicht mehr in der Sprache des adoleszenten Jugendlichen beschrieben wird, eine gewisse Abgeklärtheit signalisiert, aber eindeutig dem Gleichen gilt. Wenn der Erzähler, der sie im Traum für schöner, denn je zuvor hält, die Art, wie sie sich bewegt, registriert, dann ist dies die Sprache des erzählenden Ichs, das die Angelegenheit unter Kontrolle halten will. Allerdings gelingt dies nur zum Teil, was sich im Ablauf der geträumten Szene deutlich zeigt. Während Michael Berg in diesem Traum zunächst nur als Zuschauer agiert, geht alle Aktion von Hanna aus: sie stellt die Einkaufstüten ab, bricht ihre täglichen Verrichtungen ab und geht vor dem Erzähler die Treppe hinauf. Und als ob sie es genau wüsste, folgt ihr Michael Berg auf der Treppe. Auch wenn die Szene im Traum woanders spielt, die Treppe ist die Treppe in der Bahnhofstraße und was nun folgt, aber im Traum nicht mehr ausgelebt werden kann, ist das altbekannte Ritual: „Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bisschen beieinander liegen“ (S.43). Dass diese Phantasie selbst im Traum nicht mehr ausgelebt werden kann und darf, zeigt, wie stark die Abwehrmechanismen des Ich-Erzählers geworden sind, die sich im Halbschlaf sofort zu Wort melden und mit dem rationalisierenden Verweis auf Realitäten der emotionalen Fahrt ins Ungewisse schnell ein Ende setzen. Dass die Phantasien im Traum nicht mehr ausgelebt werden, hat dabei zunächst nichts damit zu tun, dass der ganze Traum nur funktioniert, weil er die NS-Vergangenheit von Hanna und ihren Prozess gänzlich ausblendet. Wichtiger ist vielmehr, dass sich diese Gefühle trotz dieser, stets den Kern rationalisierender Distanzierung von Hanna ausmachenden Haltung, Bahn brechen und die darin zum Ausdruck kommende „Sehnsucht nach Hanna“ (S.200) nur mit Mühe kontrolliert werden kann. Wenn der Erzähler die Sehnsucht nach Hanna freilich wieder dadurch abtut, dass er erklärt, „dass die Sehnsucht sich an ihr festmachte, ohne ihr zu gelten“ (S.200), scheint er die aufbrechende psychische Dynamik wieder im Griff zu haben. Zugleich lässt die geäußerte „Sehnsucht danach, nach Hause zu kommen“ erkennen, dass der Ich-Erzähler irgendwie ahnt, dass sein Weg zu sich selbst nur über Hanna führen kann. So ist auch nicht verwunderlich, dass den Ich-Erzähler in den ersten Jahren nach Hannas Tod „die alten Fragen“ quälen. Fünf Fragen geben ihm keine Ruhe: Er ist im Zweifel, ob er Hanna verleugnet und verraten hat, ob er ihr etwas schuldig geblieben ist, ob er und wie er sich von ihr hätte lossagen bzw. loslösen sollen und letztlich gar, ob er für ihren Tod verantwortlich ist. Aber neben diesem eher rationalen Zugang überkommen ihn auch Gefühle des Zorns auf Hanna und das, was sie ihm angetan hat. (vgl. S. 205) Aber mehr als dies lässt der Ich-Erzähler den Leser über seine Gefühle nicht wissen. So drängt sich der Gedanke auf, dass der Erzähler selbst nicht weiß, was Hanna im angetan hat, auch wenn er sein Schicksal anzunehmen scheint, als er sagt: „Was ich getan und nicht getan habe und sie mir angetan hat – es ist nun mein Leben geworden.“ (S.205) Nur: was sein Leben geworden ist, und seine Beziehung zu Hanna ist schließlich Dreh- und Angelpunkt seiner Biographie, existiert auch für den Ich-Erzähler in vielen unterschiedlichen Versionen, auch wenn er meint, dass die niedergeschriebene die richtige sei. (S.205) Sie sei erst entstanden, als er schon längere Zeit seinen Frieden mit der Geschichte gemacht habe, sei nicht mehr der zwanghafte Versuch, die Geschichte „zu schreiben, um sie loszuwerden“ oder um „sie durchs Schreiben zurückzuholen“ (S.206). Doch das erzählende Ich kann seiner eigenen Interpretation kaum Glauben schenken, so dass ganz im Gegensatz dazu doch resignierend feststellt: „Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben, weil ich sie loswerden will, auch wenn ich es nicht kann." (S.206) Der Weg zu dieser Einsicht sind Gefühle, die sich immer wieder gegen Rationalisierung und Betäubung gleichermaßen durchsetzen: "Wenn ich verletzt werde, kommen immer wieder die damals erfahrenen Verletzungen hoch, wenn ich mich schuldig fühle, die damaligen Schuldgefühle, und in heutiger Sehnsucht, heutigem Heimweh spüre ich Sehnsucht und Heimweh von damals." (S.206) Das Eingeständnis der noch immer unbewältigten Vergangenheit und das, wenn auch sehr distanziert beschriebene Wahrnehmen von Gefühlen, zeigt, dass der Ich-Erzähler am Ende seiner Geschichte eigentlich am Anfang steht. Seine verallgemeinerte Einsicht "Die Schichten unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf, dass uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig und lebendig." (S.206) könnte dabei Ausgangspunkt für den Erzähler sein, den Zustand der Betäubung dadurch endlich zu überwinden, dass er den zwiespältigen Gefühlen den nötigen Raum zur Entfaltung gewährt. Und doch stimmt der Schlusssatz den Leser, der auf diesen Anfang setzt, eher skeptisch: Wahrscheinlich ist das einzige Mal, an dem der Ich-Erzähler das Grab Hannas aufsucht, auch das letzte Mal, damit die Betäubung von sexueller Lust und Schuldgefühlen auch weiterhin, von einigen besonderen Momenten abgesehen, weiter funktioniert.

(22.02.04, unveröffentlichtes Manuskript)

 

 
       
     
   Arbeitsanregungen:

Arbeiten Sie die wichtigsten Interpretationsthesen des Verfassers heraus und setzen Sie sich damit auseinander.

 →Operatorenkatalog des Landes Baden-Württemberg)

   
       
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