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Was will der Spartakusbund?
Rede von
Karl Liebknecht
(23.12.1918)Wir müssen uns in diesem Augenblick vor allem völlige Klarheit über die
Ziele unserer Politik verschaffen. Wir bedürfen eines genauen Einblickes
in den Gang der Revolution; wir haben zu erkennen, was sie bisher gewesen
ist, um zu begreifen, worin ihre zukünftige Aufgabe bestehen wird.
Bis jetzt ist die deutsche Revolution nichts
anderes gewesen als ein Versuch zur Überwindung des Krieges und seiner
Folgen. Ihr erster Schritt war daher der Abschluss eines
Waffenstillstandes mit den feindlichen Mächten und der Sturz der Führer
des alten Systems. Die nächste Aufgabe aller entschiedenen Revolutionäre
besteht darin, diese Errungenschaften aufrechtzuerhalten und sie zu
erweitern.
Wir sehen, dass der Waffenstillstand, über den die gegenwärtige Regierung
mit den feindlichen Mächten verhandelt, von diesen zur Erdrosselung
Deutschlands benutzt wird. Das aber ist mit den Zielen des Proletariats
unvereinbar; denn eine solche Erdrosselung würde weder mit dem Ideal eines
dauernden noch eines menschenwürdigen Friedens übereinstimmen.
Nicht ein Friede des Augenblicks, nicht ein Friede der Gewalt, sondern ein
Friede der Dauer und des Rechts, das ist das Ziel des deutschen wie des
internationalen Proletariats. Aber es ist nicht das Ziel der gegenwärtigen
Regierung, die, ihrem ganzen Wesen entsprechend, mit den imperialistischen
Regierungen der Entente lediglich einen Frieden des Augenblicks zu
schließen vermag; und zwar deshalb, weil sie es verabsäumt, an die
Fundamente des Kapitals zu rühren.
Solange der Kapitalismus besteht, sind – das wissen
alle Sozialisten sehr wohl – Kriege unvermeidlich. Welche Ursachen sind es
gewesen, die zum Weltkriege getrieben haben? Die Herrschaft des
Kapitalismus bedeutet die Ausbeutung des Proletariats; sie bedeutet eine
ständige und ungehemmte Ausdehnung des Kapitalismus auf dem Weltmarkt.
Hier stoßen in scharfem Kontrast die kapitalistischen Mächte der
verschiedenen nationalen Gruppen zusammen. Und dieser wirtschaftliche
Zusammenstoß führt mit Notwendigkeit zuletzt zu einem Zusammenstoß der
politischen und militärischen Waffen – zum Kriege. Man will uns jetzt mit
der Idee des Völkerbundes zu beruhigen suchen, der einen dauernden Frieden
zwischen den verschiedenen Staaten herbeiführen soll. Als Sozialisten sind
wir uns völlig klar darüber, dass ein solcher Völkerbund nichts anderes
ist als ein Bündnis der herrschenden Klassen der verschiedenen Staaten
untereinander – ein Bündnis, das seinen kapitalistischen Charakter nicht
verleugnen kann, gegen das internationale Proletariat gerichtet ist und
einen dauernden Frieden nie zu garantieren vermag.
Die Konkurrenz, das Wesen der kapitalistischen Produktion, bedeutet für
uns Sozialisten Brudermord; wir aber fordern im Gegensatz dazu die
internationale Gemeinsamkeit der Menschen. Nur der Wille des Proletariats
ist auf einen dauernden und menschenwürdigen Frieden gerichtet; nie und
nimmer kann der Imperialismus der Entente dem deutschen Proletariat diesen
Frieden geben; ihn wird es von seinen Arbeitsbrüdern in Frankreich,
Amerika und Italien erhalten. Den Weltkrieg
durch einen dauernden und menschenwürdigen Frieden abzuschließen, das also
allein vermag die Tatbereitschaft des internationalen Proletariats. So
lehrt es uns unsere sozialistische Grundauffassung.
Jetzt, nach diesem ungeheuren Morden, gilt es fürwahr ein Werk aus einem
einzigen Guss zu schaffen. Die ganze Menschheit ist in den glühenden
Schmelztiegel des Weltkrieges geworfen worden. Das Proletariat hält den
Hammer in der Hand, um daraus eine neue Welt zu formen.
Nicht nur unter dem Kriege und seiner Verwüstung leidet das Proletariat,
sondern im Prinzip an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, der
wahren Ursache dieses Krieges. Die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu
beseitigen, das ist die einzige Rettung des Proletariats aus dem dunklen
Verhängnis seines Schicksals.
Wie aber kann dieses Ziel erreicht werden? Zur Beantwortung dieser Frage
ist es nötig, sich völlig klar darüber zu sein, dass nur das Proletariat
selbst in eigener Tat sich aus seiner Knechtschaft erlösen kann. Man hat
uns gesagt: Die Nationalversammlung ist der Weg zur Freiheit. Die
Nationalversammlung bedeutet aber nichts anderes als eine formelle
politische Demokratie. Sie bedeutet durchaus nicht diejenige Demokratie,
die der Sozialismus stets gefordert hat. Der Wahlzettel ist sicherlich
nicht der Hebel, mit dem die Macht der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung aus den Fugen gehoben werden kann. Wir wissen, dass
eine Reihe von Staaten diese formale Demokratie der Nationalversammlung
seit langem besitzt, Frankreich, Amerika, Schweiz. Aber gleichwohl
herrscht auch in diesen Demokratien das Kapital.
Es ist keine Frage, dass sich bei den
Wahlen zur Nationalversammlung der Einfluss des Kapitals, seine
wirtschaftlich organisierte Überlegenheit in höchstem Maße geltend machen
wird. Große Massen der Bevölkerung werden sich unter dem Druck und
Einfluss dieser Überlegenheit in Gegensatz zu sich selbst, in Gegensatz zu
ihren eigenen und wahren Interessen setzen und ihre Stimmen ihren Feinden
geben. Schon aus diesem Grunde wird die Nationalversammlung niemals ein
Sieg des sozialistischen Willens sein. Es ist völlig verkehrt, zu glauben,
dass in der formalen Demokratie des Parlaments die sichere Voraussetzung
und Bedingung für die Verwirklichung des Sozialismus gegeben sei. Vielmehr
ist gerade umgekehrt erst der verwirklichte Sozialismus die grundlegende
Voraussetzung für eine wahre Demokratie. Das revolutionäre deutsche
Proletariat kann von einer Wiedergeburt des alten Reichstages in der neuen
Form der Nationalversammlung nichts für seine Ziele erwarten; denn diese
Nationalversammlung wird den gleichen Charakter tragen wie die alte
"Schwatzbude" am Königsplatz. Wir werden in ihr sicherlich alle die alten
Herrschaften wieder finden, die dort vor dem Kriege und während des
Krieges die Geschicke des deutschen Volkes in so verhängnisvoller Weise zu
bestimmen suchten. Und wahrscheinlich ist es auch, dass die bürgerlichen
Parteien in dieser Nationalversammlung die Mehrheit haben werden. Aber
selbst, wenn das nicht der Fall sein sollte, wenn die Nationalversammlung
mit einer sozialistischen Mehrheit die Sozialisierung der deutschen
Wirtschaft beschließen sollte, so wird ein solcher parlamentarischer
Beschluss ein papiernes Dekret bleiben und an dem energischsten Widerstand
der Kapitalisten scheitern. Nicht im Parlament, nicht mit seinen Methoden
kann der Sozialismus verwirklicht werden; hier ist einzig und allein der
außerparlamentarische, revolutionäre Kampf des Proletariats entscheidend.
Nur durch ihn ist das Proletariat imstande, die Gesellschaft
nach seinem Willen zu formen.
Die kapitalistische Gesellschaft ist ihrem Wesen nach nichts anderes als
die mehr oder minder verhüllte Herrschaft der Gewalt. Ihre Absicht geht
jetzt dahin, zu den gesetzlichen Zuständen der früheren "Ordnung"
zurückzukehren und die Revolution, die das Proletariat gemacht hat, als
einen ungesetzlichen Vorgang, gleichsam als ein geschichtliches
Missverhältnis zu diskreditieren und zu beseitigen. Aber nicht umsonst hat
das Proletariat die schwersten Opfer in dem blutigen Kriege gebracht; wir,
die Vorkämpfer der Revolution, werden uns nicht von unserem Platz
verdrängen lassen. Wir bleiben so lange am Leben, bis wir die Macht des
Sozialismus fundiert haben.
Die politische Macht, die sich das Proletariat am 9. November erobert hat,
ist ihm zum Teil schon wieder entrissen worden; entrissen worden ist ihm
vor allen Dingen die Macht, die entscheidenden Stellen in der
Staatsverwaltung durch die Männer seines Vertrauens zu besetzen. Auch der
Militarismus, gegen dessen Herrschaft wir uns erhoben, ist noch am Leben.
Wir kennen sehr wohl die Ursachen, die dazu geführt haben, das Proletariat
aus seinen Positionen zu verdrängen. Wir wissen, dass die Soldatenräte zu
Beginn der revolutionären Entwicklung die Situation nicht immer klar
gesehen haben. Es haben sich in ihre Reihe zahlreiche schlaue Rechner
eingeschlichen, Konjunkturrevolutionäre, Feiglinge, die nach dem
Niederbruch der alten Macht sich an die neue anschlossen, um hier ihre
bedrohte Existenz zu salvieren. In zahlreichen Fällen übergaben die
Soldatenräte solchen Leuten verantwortungsvolle Stellungen und machten
dadurch den Bock zum Gärtner. Andererseits hat die gegenwärtige Regierung
die alte Kommandogewalt wiederhergestellt und auf diese Weise den
Offizieren die Macht zurückgegeben.
Wenn jetzt allenthalben in
Deutschland ein chaotisches Durcheinander herrscht, so trägt die
Verantwortung dafür nicht die Revolution, die die Macht der herrschenden
Klassen zu beseitigen suchte, sondern diese herrschenden Klassen selbst
und der Brand des Krieges, der von den herrschenden Klassen entzündet
worden ist. "Ordnung und Ruhe muss herrschen", so ruft uns die Bourgeoisie
zu, und sie meint damit, dass das Proletariat vor ihr kapitulieren solle,
um diese Ordnung und Ruhe wiederherzustellen; dass das Proletariat seine
Macht in die Hände derjenigen zurückgeben solle, die jetzt unter der Maske
der Revolution die Gegenrevolution vorbereiten. Gewiss, eine revolutionäre
Bewegung lässt sich nicht auf glattem Parkettboden durchführen; es setzt
Splitter und Späne in dem Kampfe um eine neue und höhere Ordnung der
Gesellschaft und einen dauernden Frieden der Menschheit.
Dadurch, dass die Regierung den alten Generälen und Offizieren die
Kommandogewalt zu dem Zwecke der Demobilisation der Armee zurückgegeben
hat, hat sie die Demobilisation erschwert und zerrüttet. Sicherlich hätte
sich die Demobilisation weit ruhiger und ordnungsmäßiger gestaltet, wenn
sie der freien Disziplin der Soldaten überlassen worden wäre. Dagegen
haben die Generäle, mit der Autorität der Volksregierung ausgerüstet, auf
alle Weise versucht, die Soldaten mit Hass gegen die Regierung zu
erfüllen. Sie haben die Soldatenräte
eigenmächtig abgesetzt, sie haben schon in den ersten Tagen der Revolution
das Tragen von roten Fahnen verboten und die roten Fahnen von öffentlichen
Gebäuden herunterreißen lassen. Alle diese Vorgänge kommen auf das
Schuldkonto der Regierung, die, um die "Ordnung" der Bourgeoisie
aufrechtzuerhalten, in Wahrheit die Revolution erstickt, wenn es sein
muss, in Blut.
Und da wagt man, uns anzuklagen, dass wir es seien, die den Terror, den
Bürgerkrieg und das Blutvergießen wollen; da wagt man, uns zuzumuten, wir
sollten auf unsere revolutionäre Aufgabe verzichten, damit die Ordnung
unserer Gegner wiederaufgerichtet werde! Nicht wir sind es, die
Blutvergießen wollen. Aber sicher ist es, dass die Reaktion, sobald sie
die Macht dazu hat, sich keinen Augenblick besinnen wird, die Revolution
im Blut zu ersticken. Erinnern wir uns
doch ihrer grausamen und niederträchtigen Schandtaten, mit denen sie sich
noch vor wenigen Wochen und Monaten besudelte. In der Ukraine hat sie
Henkersarbeit verrichtet, in Finnland hat sie Tausende von Arbeitern
gemordet – das sind die Blutspuren an den Händen des deutschen
Imperialismus, dessen Wortführer uns revolutionäre Sozialisten jetzt der
Propaganda des Terrors und des Bürgerkrieges in ihrer lügenhaften Presse
verdächtigen.
Nein! Wir wollen, dass sich der Umbau der
Gesellschaft und der Wirtschaft ohne Unordnung und in aller Friedlichkeit
vollziehe. Und wenn Unordnung und Bürgerkrieg entstehen sollten, so werden
einzig und allein diejenigen die Schuld tragen, die ihre Herrschaft und
ihren Profit stets mit Waffengewalt befestigt und erweitert haben und die
auch jetzt wieder versuchen, das Proletariat unter ihr Joch zu beugen.
Also nicht zur Gewalt und nicht zum Blutvergießen rufen wir das
Proletariat auf; aber wir rufen es auf zu revolutionärer Tatbereitschaft
und zur Entfaltung all seiner Energie, auf dass es den Neubau der Welt in
seine Hände nehme. Wir rufen die Massen der Soldaten und Proletarier dazu
auf, an dem Ausbau der Soldaten- und Arbeiterräte tatkräftig fortzuwirken.
Wir rufen sie dazu auf, die herrschenden Klassen zu entwaffnen, sich
selbst aber zu bewaffnen zum Schutze der Revolution und zur Sicherung des
Sozialismus. Das allein gibt uns die Gewähr für die Erhaltung und für den
Ausbau der Revolution im Sinne der
unterdrückten Volksklassen. Das revolutionäre Proletariat darf keinen
Augenblick mehr zögern, die bürgerlichen Elemente aus allen ihren
politischen und sozialen Machtstellungen zu entfernen; es muss die ganze
Macht selbst in seine Hände nehmen. Gewiss, wir werden zur Durchführung
der Sozialisierung des Wirtschaftslebens die Mitwirkung auch der
bürgerlichen Intelligenz, der Fachmänner, der Ingenieure brauchen; aber
sie werden unter Kontrolle des Proletariats ihre Arbeit verrichten.
Von allen diesen dringendsten Aufgaben der Revolution hat die gegenwärtige
Regierung noch nicht eine einzige in Angriff genommen. Dagegen hat sie
alles getan, um die Revolution zurückzubremsen. Jetzt hören wir, dass
unter ihrer Mitwirkung draußen auf dem Lande Bauernräte gewählt werden,
Räte derjenigen Bevölkerungsschicht, die stets zu den rückständigsten und
erbittertsten Feinden des Proletariats gehört hat und die bis auf den
heutigen Tag der heftigste Feind des ländlichen Proletariats geblieben
ist. All diesen Machenschaften müssen die Revolutionäre fest und
entschlossen entgegentreten. Sie müssen von ihrer Macht Gebrauch machen
und vor allem mit der Sozialisierung energisch und sicher beginnen.
Der erste Schritt wird darin bestehen,
dass die Waffenlager und die gesamte Rüstungsindustrie vom Proletariat mit
Beschlag belegt werden. Dann müssen die industriellen und
landwirtschaftlichen Großbetriebe in den Besitz der Gesellschaft überführt
werden. Es kann kein Zweifel bestehen, dass sich diese sozialistische
Umschaltung der Produktion bei der hohen und stark zentralisierten Form
dieser Wirtschaftsgebilde in Deutschland verhältnismäßig leicht und
schnell vollziehen lässt. Wir besitzen ferner ein bereits hoch
entwickeltes Genossenschaftswesen, an dem vor allem auch der Mittelstand
interessiert ist. Auch dies ist ein geeignetes Mittel zu einer wirksamen
Durchführung des Sozialismus.
Wir sind uns völlig klar darüber, dass es sich bei dieser Sozialisierung
um einen langen und großen Prozess handelt. Wir verhehlen uns keineswegs
die Sch wierigkeiten, die dieser Aufgabe entgegenstehen, zumal in der
gefährlichen Situation, in der sich unser Volk jetzt befindet. Aber glaubt
jemand allen Ernstes, dass sich die Menschen den geeigneten Zeitpunkt für
eine Revolution und für die Verwirklichung des Sozialismus nach ihrem
Gutdünken und Belieben auszusuchen vermögen? So ist der Gang der
Weltgeschichte wahrlich nicht! Jetzt geht es nicht an zu erklären: Für
heute und morgen passt uns die sozialistische Revolution nicht in unseren
sorgfältig ausgerechneten Plan; aber übermorgen, wenn wir besser dazu
vorbereitet sind, wenn wir wieder Brot und Rohstoffe haben und unsere
kapitalistische Produktionsweise sich wieder in vollem Gang befindet, dann
wollen wir über die Sozialisierung der Gesellschaft mit uns reden lassen. Nein, das ist eine grundfalsche und lächerliche Auffassung von dem Wesen
der geschichtlichen Entwicklung.
Man kann sich weder den geeignet erscheinenden Zeitpunkt für eine
Revolution aussuchen noch die Revolution nach eigenem Ermessen vertagen.
Denn was sind Revolutionen ihrem Wesen nach anderes als große und
elementare gesellschaftliche Krisen, deren Ausbruch und Entfaltung nicht
von dem Willen einzelner abhängt und die sich, über die Köpfe einzelner
hinweg, gleich gewaltigen Gewittern entladen! Schon Karl Marx hat uns
gelehrt, dass die soziale Revolution in eine Krise des Kapitalismus fallen
muss. Nun wohl, dieser Krieg ist nichts anderes als eine solche Krise; und
darum hat jetzt, wenn irgendwann, die Stunde des Sozialismus geschlagen.
Am Vorabend der Revolution, in jener Nacht vom Freitag zum Samstag, da
hatten die Führer der sozialdemokratischen Parteien noch keine Ahnung,
dass die Revolution schon vor der Tür stand. Sie wollten nicht daran
glauben, dass die revolutionäre Gärung in den Massen der Soldaten und
Arbeiter bereits so weit fortgeschritten sei. Als sie aber dann erfuhren,
dass die große Schlacht bereits begonnen habe, da liefen sie alle eilig
herbei, weil sie sonst hätten befürchten müssen, dass die gewaltige
Bewegung über sie hinwegfluten werde.
Der entscheidende Augenblick
ist gekommen. Töricht und schwächlich sind alle diejenigen, denen er als
ungeeignet erscheint und die darüber jammern, dass er gerade jetzt
erschienen ist. Auf unsere Tatbereitschaft, auf unseren revolutionären
Ernst und Willen kommt es jetzt an. Die große Aufgabe, auf die wir uns so
lange vorbereitet haben, drängt der Lösung entgegen. Die Revolution ist
da. Sie muss sein! Es handelt sich nicht mehr darum ob, sondern nur noch
wie! Die Frage ist gestellt; und aus der Schwierigkeit der Situation, in
der wir uns befinden, darf nicht der Schluss gezogen werden, dass jetzt
keine Revolution sein solle.
Ich wiederhole, dass wir diese Schwierigkeit nicht verkennen. Vor allem
sind wir uns jener Schwierigkeit bewusst, die darin besteht, dass das
deutsche Volk noch keine revolutionäre Erfahrung und Überlieferung
besitzt. Andererseits ist aber gerade dem deutschen Proletariat die
Aufgabe der Sozialisierung durch mancherlei Umstände wesentlich
erleichtert. Die Gegner unseres Programms geben uns zu bedenken, dass es
in einer so bedrohlichen Lage, jetzt, wo Arbeitslosigkeit, Mangel an
Nahrungsmitteln und Rohstoffen vor der Türe stehen, unmöglich sei, mit der
Vergesellschaftung der Wirtschaft zu beginnen. Aber hat die Regierung der
kapitalistischen Klasse nicht gerade im Verlauf des Krieges, also in einer
mindestens ebenso schwierigen Lage, wirtschaftliche Maßnahmen der
durchgreifendsten Art getroffen, Maßnahmen, welche Produktion und
Konsumtion grundlegend umgestalteten? Und alle diese Maßnahmen geschahen
damals im Dienste des Krieges, zum Zwecke des Durchhaltens, im Interesse
des Militarismus und der herrschenden Klasse.
Die Maßnahmen der Kriegswirtschaft konnten nur durch die Selbstdisziplin
des deutschen Volkes durchgeführt werden. Damals stand diese
Selbstdisziplin im Dienste des Völkermordens, sie war zum Schaden des
Volkes wirksam. Jetzt aber, wo sie im Interesse des Volkes, zu seinem
eigenen Nutzen wirken soll, wird sie imstande sein, noch weit größere
Leistungen und Umwandlungen zu vollbringen als je zuvor. Im Dienste des
Sozialismus wird sie das Werk der Sozialisierung schaffen. Waren es doch
gerade die Sozialpatrioten, die jene tief einschneidenden
kriegswirtschaftlichen Maßnahmen als Kriegssozialismus bezeichneten, und
Scheidemann, dieser gefügige Diener der Militärdiktatur, trat voller
Begeisterung dafür ein. Nun, wir dürfen jedenfalls diesen
Kriegssozialismus als eine Umbildung unseres Wirtschaftslebens betrachten,
die wohl geeignet ist, als Vorbereitung der echten, im Zeichen des
Sozialismus stehenden Sozialisierung zu dienen.
Die Verwirklichung des
Sozialismus ist unvermeidlich; sie muss kommen, gerade weil wir die
Unordnung, über die man sich jetzt so aufregt, endgültig überwinden
müssen. Aber diese Unordnung ist unüberwindlich, solange die Machthaber
von gestern, die wirtschaftlichen und politischen Gewalten des
Kapitalismus, am Ruder bleiben; denn sie haben dieses
Chaos verursacht.
Die Pflicht der gegenwärtigen Regierung wäre es
gewesen, zuzugreifen und schnell und entschieden zu handeln. Aber sie hat
die Aufgabe der Sozialisierung nicht um einen Schritt gefördert. Was hat
sie in der Ernährungsfrage geleistet? Sie spricht zum Volke: "Du musst
hübsch artig sein und Dich gesittet benehmen, dann wird uns Wilson
Lebensmittel schicken." Das gleiche ruft uns Tag für Tag die gesamte
Bourgeoisie zu, und diejenigen, die sich noch vor wenigen Monaten nicht
genug darin tun konnten, den Präsidenten von Amerika zu beschimpfen und
mit Kot zu bewerfen, sie begeistern sich jetzt für ihn und fallen ihm
voller Bewunderung zu Füßen – um Lebensmittel von ihm zu erhalten. Ja
freilich! Wilson und seine Genossen werden uns vielleicht helfen, aber
sicherlich nur in dem Maße und in der Form, als es den imperialistischen
Interessen des Ententekapitalismus entspricht. Jetzt beeilen sich alle
offenen und heimlichen Gegner der proletarischen Revolution, Wilson als
den guten Freund des deutschen Volkes anzupreisen, aber gerade dieser
menschenfreundliche Wilson ist es ja gewesen, der den grausamen
Waffenstillstandsbedingungen Fochs seine Billigung erteilt und dadurch
dazu beigetragen hat, die Not des Volkes ins unermessliche zu steigern.
Nein, wir revolutionären Sozialisten glauben keinen Augenblick lang an den
Schwindel von der Menschenfreundlichkeit Wilsons, der nichts anderes tut
und tun kann, als die Interessen des Ententekapitals in kluger Berechnung
zu vertreten. Doch wozu dient jener Schwindel, mit dem die Bourgeoisie und
die Sozialpatrioten jetzt hausieren gehen, in Wahrheit? Um das Proletariat
zu überreden und zu verleiten, die Macht, die es sich durch die Revolution
erobert hat, preiszugeben.
Wir werden nicht darauf hereinfallen. Wir stellen unsere sozialistische
Politik auf den granitenen Boden des deutschen Proletariats; wir stellen
sie auf den granitenen Boden des internationalen Sozialismus. Wir halten
es weder mit der Würde noch mit der revolutionären Aufgabe des
Proletariats für vereinbar, dass wir, die wir mit der sozialen Revolution
begonnen haben, an die Barmherzigkeit des Ententekapitals appellieren,
sondern wir rechnen auf die revolutionäre Solidarität und die
internationale Tatbereitschaft der Proletarier Frankreichs, Englands,
Italiens und Amerikas. Die Kleinmütigen und Ungläubigen, die jedes
sozialistischen Geistes bar sind, rufen uns zu, dass wir Toren seien, auf
den Ausbruch einer sozialen Revolution in den Ländern zu hoffen, die
siegreich aus diesem Weltkrieg hervorgegangen seien. Wie steht es mit
diesem Einwurf? Selbstverständlich wäre es völlig verkehrt, zu glauben,
dass schon im nächsten Augenblick, gleichsam auf ein Kommando, die
Revolution in den Staaten der Entente ausbrechen wird. Die Weltrevolution,
die unser Ziel und unsere Hoffnung ist, ist ein viel zu gewaltiger
historischer Prozess, als dass sie sich Schlag auf Schlag, in Tagen und
Wochen entfalten könnte. Die russischen Sozialisten haben die deutsche
Revolution vorausgesagt als notwendige Konsequenz der russischen. Aber
noch ein volles Jahr nach dem Ausbruch der russischen Revolution war alles
bei uns still, bis schließlich doch die Stunde schlug.
Jetzt herrscht bei den Völkern der Entente begreiflicherweise ein
mächtiger Siegestaumel, und die Freude über die Zertrümmerung des
deutschen Militarismus, über die Befreiung Belgiens und Frankreichs ist so
laut, dass wir ein revolutionäres Echo von seiten der Arbeiterschaft
unserer bisherigen Feinde in diesem Augenblick nicht erwarten dürfen. Und
außerdem wird die Zensur, die in den Ententeländern noch gebietet, jede
Stimme, die zum revolutionären Anschluss an das revolutionäre Proletariat
auffordert, gewaltsam unterdrücken. Auch ist nicht zu übersehen, dass die
verräterische und verbrecherische Politik der Sozialpatrioten dazu geführt
hat, während des Krieges den internationalen Zusammenhang des Proletariats
zu zerreißen und zu zerstören.
Und was für eine Revolution ist es denn eigentlich, die wir jetzt von den
Sozialisten Frankreichs, Englands, Italiens und Amerikas erwarten? Welches
Ziel und welchen Charakter soll diese Revolution haben? Die Revolution vom
9. November stellte sich in ihrem ersten Stadium die Aufrichtung einer
demokratischen Republik zur Aufgabe, sie hatte ein bürgerliches Programm;
und wir wissen sehr gut, dass sie diesen Standpunkt auch auf der Stufe
ihrer gegenwärtigen Entwicklung in Wahrheit noch nicht überwunden hat.
Aber eine Revolution von solcher Art erwarten wir keineswegs von dem
Proletariat der Entente, und zwar deswegen nicht, weil Frankreich,
England, Amerika und Italien sich seit Jahrzehnten und Jahrhunderten
bereits im festen Besitz dieser bürgerlich demokratischen Freiheit
befinden, um die wir hier am 9. November gerungen haben. Sie besitzen die
republikanische Staatsverfassung, also gerade dasjenige, was uns die
gepriesene Nationalversammlung erst bescheren soll; denn das Königtum in
England und Italien ist nur eine belanglose Äußerlichkeit, eine Dekoration
und eine Fassade. Also wir können von dem
Proletariat der Ententestaaten mit Fug gar keine andere als eine soziale
Revolution erwarten. Doch wie sind wir zu einer solchen Erwartung
berechtigt, wie können wir an das Proletariat der anderen Länder die
Forderung einer sozialen Revolution stellen, solange wir selbst sie noch
nicht gemacht haben! Wir müssen also den ersten Schritt dazu tun. Je
schneller und entschiedener das deutsche Proletariat mit dem guten
Beispiel vorangeht, je schneller und entschiedener wir unsere Revolution
zum Sozialismus hin entwickeln, je schneller wird uns das
Proletariat der Entente folgen.
Damit uns aber der große Wurf des
Sozialismus gelingt – dazu ist es unbedingt erforderlich, dass die
politische Macht dem Proletariat erhalten bleibe. Denn jetzt gibt es kein
Schwanken und Zögern mehr, sondern nur noch ein klares Entweder – Oder.
Entweder der bürgerliche Kapitalismus fährt fort zu leben und die Erde und
die gesamte menschliche Gesellschaft zu beglücken mit seiner Ausbeutung
und Lohnsklaverei und der Verewigung der Kriegsgefahr, oder aber das
Proletariat besinnt sich auf seine weltgeschichtliche Aufgabe und auf sein
Klasseninteresse, das es dazu aufruft, alle Klassenherrschaft
für immer aufzuheben.
Jetzt versucht man von sozialpatriotischer
und bürgerlicher Seite, das Volk von dieser seiner geschichtlichen Mission
abspenstig zu machen, indem man ihm die Gefahren der Revolution schwarz
und gruselig an die Wand malt; indem man in den blutigsten Farben die Not
und Zerstörung, den Aufruhr und Schrecken schildert, von denen die
Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse angeblich begleitet sein
wird. Aber diese Schwarzmalerei ist
vergebene Liebesmüh! Denn die Verhältnisse selbst, die Unfähigkeit des
Kapitals, das Wirtschaftsleben, das von ihm zerstört wurde,
wiederaufzubauen, sie sind es, die das Volk mit eiserner Notwendigkeit auf
den Weg der sozialen Revolution treiben werden. Wenn wir die großen
Streikbewegungen der letzten Tage mit Aufmerksamkeit betrachten, so
erkennen wir deutlich, dass selbst mitten in der Revolution der Konflikt
zwischen dem Unternehmertum und der Lohnarbeiterschaft lebendig ist. Der
proletarische Klassenkampf ruht nicht, solange sich die Bourgeoisie auf
den Trümmern ihrer ehemaligen Herrlichkeit behauptet; er wird erst ruhen
in dem Augenblick, wo die soziale Revolution zum siegreichen Ende gelangt
ist.
Das ist es, was der Spartakusbund will.
Jetzt greift man die Spartakusleute mit
allen erdenklichen Mitteln an. Die Presse der Bourgeoisie und der
Sozialpatrioten, vom Vorwärts bis zur Kreuz-Zeitung, strotzt von den
abenteuerlichsten Lügen, von den frechsten Verdrehungen, von Entstellungen
und Verleumdungen. Was schimpft man uns nicht alles nach? Dass wir den
Terror verkünden; dass wir den blutigsten Bürgerkrieg entfesseln wollten;
dass wir uns mit Waffen und Munition ausrüsten und den bewaffneten
Aufstand vorbereiten. Mit einem Wort: dass wir die gefährlichsten und
gewissenlosesten Bluthunde der Welt seien. Diese Lügen sind leicht
zu durchschauen. Als ich gleich im Beginn
des Krieges ein kleines, mutiges, opferbereites Häuflein von
revolutionären Genossen um mich scharte und es dem Krieg und dem
Kriegstaumel entgegenwarf, da wurden wir von allen Seiten niedergebrüllt,
verfolgt und in den Kerker geworfen. Und als ich es offen und laut
aussprach, was damals niemand auszusprechen wagte und was damals noch die
wenigsten erkennen wollten: dass Deutschland und seine politischen und
militärischen Leiter am Kriege schuldig seien – da hieß es, ich sei ein
gemeiner Verräter, ein bezahlter Agent der Entente, ein vaterlandsloser
Geselle, der den Untergang Deutschlands wolle. Wir hätten es bequemer
haben können, wenn wir geschwiegen oder in den allgemeinen Chor des
Chauvinismus und Militarismus eingestimmt hätten. Aber wir zogen es vor,
die Wahrheit zu sagen, ohne auf die Gefahr zu achten, in die wir uns
dadurch begaben. Jetzt sehen alle, auch diejenigen, die damals gegen uns
wüteten, ein, dass das Recht und die Wahrheit auf unserer Seite waren.
Jetzt, nach der Niederlage und nach den ersten Tagen der Revolution, sind
dem ganzen Volk die Augen geöffnet worden, so dass es erkennt, dass es von
seinen Fürsten, seinen Alldeutschen, seinen Imperialisten und
Sozialpatrioten in diesen Abgrund seines Unglücks hineingestoßen worden
ist. Und gerade jetzt wieder, wo wir abermals unsere Stimme erheben, um
dem deutschen Volke den einzigen Weg zu zeigen, der es aus diesem Unglück
zur wahren Freiheit und zum dauernden Frieden zu führen vermag, in diesem
Augenblick kommen dieselben Menschen, die damals uns und die Wahrheit
niederschrien, und nehmen ihren alten Feldzug der Lüge und der Verleumdung
gegen uns wieder auf. Mögen sie auch jetzt geifern und schreien, mögen sie
wie bellende Hunde hinter uns herlaufen – wir werden unseren geraden Weg,
den Weg der Revolution und des Sozialismus, unbekümmert verfolgen, indem
wir uns sagen: Viel Feind, viel Ehr! Nur zu wohl wissen wir es, dass die
gleichen Verbrecher und Verräter, die im Jahre 1914 das deutsche
Proletariat mit der Phrase des Sieges und der Eroberung, mit der
Aufforderung zum "Durchhalten" und mit dem niederträchtigen Abschluss des
Burgfriedens zwischen Kapital und Arbeit betrogen, dass diejenigen, die
auf solche Art den revolutionären Klassenkampf des Proletariats zu
ersticken suchten und jeden Streik als wilden Streik während des Krieges
mit Hilfe ihres Organisationsapparates und der Behörden niederknebelten –
dass sie die gleichen sind, die jetzt, im Jahre 1918, abermals vom
Nationalfrieden sprechen und die die Solidarität aller Parteien zum Zweck
des Aufbaues unseres Staates proklamieren.
Dieser neuen Einigung von Proletariat
und Bourgeoisie, dieser verräterischen Fortsetzung der Lüge von 1914 soll
die Nationalversammlung dienen. Das soll ihre wahre Aufgabe sein. Mit
ihrer Hilfe soll der revolutionäre Klassenkampf des Proletariats zum
zweiten Male erstickt werden. Aber wir erkennen, dass hinter dieser
Nationalversammlung in Wahrheit der alte deutsche Imperialismus steht, der
trotz der Niederlage Deutschlands nicht tot ist. Nein, er ist nicht tot;
und bleibt er am Leben, so ist das deutsche Proletariat um die Früchte
seiner Revolution geprellt.
Niemals darf das geschehen. Noch ist das Eisen
warm, jetzt müssen wir es schmieden. Jetzt oder nie! Entweder wir gleiten
zurück in den alten Sumpf der Vergangenheit, aus dem wir in revolutionärem
Anlauf versucht haben, uns zu erheben, oder wir setzen den Kampf fort bis
zum Sieg und zur Erlösung, bis zur Erlösung der ganzen Menschheit von dem
Fluche der Knechtschaft. Damit wir dieses große Werk, die größte und
erhebendste Aufgabe, die der menschlichen Kultur je gestellt worden ist,
siegreich vollenden, dazu muss das deutsche Proletariat zur Aufrichtung
der Diktatur schreiten.(aus: Karl Liebknecht, Was will der Spartakusbund?
Rede in den Unionsfestsälen in der Hasenheide in Berlin, 23. Dezember
1918, in: ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin (DDR) 1952,
S.505-520)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.12.2024
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