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Ehe

Das Liebes- und Lebenskonzept der bürgerlichen Ehe


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In Mitteleuropa haben sich von der Antike bis ins späte Mittelalter hinein Familienstrukturen und der Charakter der Ehen kaum verändert. Es gab nebeneinander eine Reihe verschiedener Familientypen mit unterschiedlicher Haushaltsgröße und -zusammensetzung, und in allen sozialen Schichten und Ständen folgte man einer weitgehend sachlich-nüchternen Einstellung bei Partnerwahl, Eheschließung und ehelichem Miteinander. Das ging so weit, dass in der Agrargesellschaft dieser Zeit nur der das Recht besaß, eine Ehe zu schließen und sich auf legitime Weise fortzupflanzen, der eine entsprechende eigenständige Ernährungsgrundlage vorweisen konnte. Arme und die bei der Erbschaft nicht zum Zuge gekommenen Adeligen oder Bauernkinder blieben daher in einer Zeit, in der die Ehe "in erster Linie Arbeitsgemeinschaft und für den Fortbestand der Subsistenzgrundlage, des Hofes oder Betriebes, von größter Wichtigkeit war" (Schenk 1995, S. 67), von dieser Lebensform ausgeschlossen. Solche Adelige wurden häufig Geistliche und die Bauernkinder blieben lebenslang unverheiratete Mägde und Knechte. Wer wenig Wohlstand besaß, lebte meist als Kernfamilie mit seinen erwachsenen Kindern zusammen, während landbesitzende Bauern oder wohlhabende Handwerker und Kaufleute die Lebensform des so genannten "ganzen Hauses" lebten. Hier lebte die Kernfamilie - je nach Vermögen - mit einer oder mehreren anderen nicht-verwandten Personen zusammen. Die Dreigenerationenfamilie war dagegen kaum verbreitet und nur mancherorts in adeligem oder bäuerlichem Milieu zu finden.

Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft veränderte diese erstarrten Verhältnisse und unterwarf sie wie alle anderen Bereiche der Gesellschaft der Dynamik eines umfassenden und tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels. Ideologisch auf protestantisch-pietistische Strömungen des frühen 17. Jahrhunderts zurückgehend entwickelte sich im Bürgertum ein neuartiges Ehe- und Familienideal, das durch die nun einsetzende Trennung von Wohnung und Arbeitplatz maßgeblich bestimmt worden ist. Die wichtigsten Elemente dieses neuen Ehe- und Familienbildes wurden:

  • Trennung von Wohnung und Arbeitplatz und damit Auflösung einer Beziehung, die auf gemeinsamer produktiver Arbeit beruhte

  • Familie wird "Insel der Intimität" (ebd., S. 68), in der Ehepartner zueinander wie auch zu ihren Kindern gefühlsbetonte Beziehungen herstellen konnten (Intimisierung, Individualisierung und Emotionalisierung der Beziehungen)

  • Entstehung breiter verarmter Schichten, die nach Aufhebung der entsprechenden Heiratsbeschränkungen, in ihrer Partnerwahl eher individuellen Neigungen folgten als Bauern, Handwerker oder das Bürgertum

  • allmähliche schichtenübergreifende Übernahme des bürgerlichen Ehe- und Familienmodells nach dem Zerfall der ständischen Gesellschaft bei gleichzeitigem, über einen langen Zeitraum anhaltendem Nebeneinander verschiedener Lebensformen

Das Konzept der bürgerlichen Ehe und Familie entstand also in einer Zeit tiefgreifenden politischen, sozialen und ökonomischen Wandels, "gewissermaßen an der Schwelle zwischen der traditionellen, ökonomisch begründeten Sachehe und der modernen Liebesehe" ebd., S.84). Aus diesem Grunde enthält dieses Leitbild Altes wie Neues und auch Widersprüchliches. Als "Konstrukt des Übergangs" (ebd.) stand es daher auch von Anfang an unter der Spannung von Ideal und Wirklichkeit.

Historische Typen der Ehe
Arrangierte Ehe Liebesehe Psychologische Ehe
bis zum 18. Jahrhundert üblich

keine gegenseitige Zuneigung

Zweck: Haushalt- und Wirtschaftsgemeinschaft, Sex, Nachwuchs

entstanden im 18. /19. Jh.

gegenseitige Zuneigung maßgebend

seit etwa 1970 in der BRD

Ehe wird nicht mehr legitimiert als Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft, als  Beziehung, die Sex erlaubt, oder als Institution, die für Nachwuchs sorgt

aber: starke Bedeutungszunahme

  • durch höhere Lebenserwartung der Menschen

  • weil einziger Fixpunkt bei sonst sich auflösenden Sinngebungen

  • weil zum Teil  mit widersprüchlichen Erwartungen (Treue vs. freie Sexualität...) überfrachtet

In Deutschland bildete sich der Typus der bürgerlichen Ehe Ende des 18. Jahrhunderts heraus. Sie war von ihrer inneren Ordnung her gesehen patriarchalisch, d. h. "Aufgabe und Lebensprojekt der Geschlechter waren verschieden, die wesentlichen letzten Entscheidungen lagen - nach Recht wie nach Sitte - beim Mann, er dominierte eindeutig." (ebd.)  Wegen der eher zögerlichen industriellen Entwicklung fiel dabei dem so genannten Bildungsbürgertum (höhere Beamte, Vertreter der freien Berufe, Gelehrte, Pfarrer, Intellektuelle, Großkaufleute etc.) eine besondere Rolle zu. Es grenzte sich nach unten klar gegen Bauern, Handwerker, städtische Unterschichten, insbesondere das entstehende Industrieproletariat ab und fühlte sich durch das selbst erworbene Wissen und durch individuelle Leistung dem parasitären Adeligen überlegen.

Die Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz und der wachsende Wohlstand des Bürgertums brachte es mit sich, dass die bürgerliche Ehe das "ganze Haus", die traditionelle Lebensform landbesitzender Bauern und vermögender Handwerker und Kaufleute, ablöste. Zugleich definierte die bürgerliche Ehe die Rolle der Frau neu.

Die bürgerliche Frau

  • war wegen des vorhandenen Wohlstandes von der Notwendigkeit zur Erwerbsarbeit befreit

  • sollte fortan die Arbeit der Hausangestellten und Dienstboten überwachen

  • hatte die Erziehung der Kinder durch das Kindermädchen zu beaufsichtigen

Das Leben einer normalbürgerlichen Hausfrau war deshalb keineswegs untätiger Müßiggang, ihr tägliches Leben keinesfalls ein Wechselspiel "zwischen Delegation der Arbeit und Einladungen, Lesen und Handarbeiten. Ihr Leben bestand zuerst immer noch aus Arbeiten und Sparen, Haushaltsführung und Kindererziehung." (Nipperdey 1990, Bd. 1, S. 54) Und dies war "vor allem in vormaschineller Zeit, der Zeit von Öfen und lange auch dem Kohleherd, der Zeit von Kleidernähen und Flicken, ein ausgebreitetes und anstrengendes Tätigkeitsfeld" und dazu "auch eine anspruchsvolle Aufgabe - denn man stand unter dem Gesetz der Knappheit, musste sparen, rechnen, billig einkaufen und Vorrats- und Restewirtschaft betreiben." (ebd., S. 53)

Das Konzept der bürgerlichen Ehe brachte es auch mit sich, dass sich die bürgerliche Kernfamilie räumlich und sozial von den Dienstboten im Haus zu distanzieren begann, die noch in der Lebensform des "ganzen Hauses" mehr oder weniger gleichwertig in die Familie integriert waren. Und doch war das Verhältnis zu den Dienstboten nicht eindeutig. Das Verhalten gegenüber dem Dienstmädchen war nämlich "charakterisiert durch eine eigentümliche Mischung von sozialer Distanz und persönlicher Bindung, von Ausbeutung und Patriarchalismus". So wurde ihnen unter harten Arbeitsbedingungen häufig viel abgefordert, was sie zum häufigen Wechsel der Familie veranlassten. "Auf der anderen Seite gab es die jahrzehntelang dauernden Verhältnisse und die, die über Schwestern und auch Generationen hinreichten." (ebd., S. 54)

Das vom Bildungsbürgertum geprägte Leitbild der bürgerlichen Ehe, das zusehends für alle sozialen Schichten der Gesellschaft verbindlich wurde, ist in • Friedrich Schillers • "Lied von der Glocke" aus dem Jahre 1799 geradezu programmatisch veranschaulicht (vgl. auch • Textauszug dazu mit den entscheidenden Passagen zur bürgerlichen Ehe), dessen Wirkungsgeschichte als geschlechtsspezifischer Erziehungskatechismus bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht.

  • Grundlage der Ehe ist in dieser Ballade "die Liebe, die romantische Liebe, die ihr Objekt idealisiert und durch die Distanz zwischen heranwachsenden Jungen und Mädchen, durch eine geschlechtsspezifische Erziehung genährt wird" (Schenk 1995, S.85)

  • Die Partnerinnenwahl junger Männer findet noch immer in der heimatlichen Umgebung und innerhalb des sozialen Milieus statt, dem man selbst angehört.

  • Mädchen erwerben frühzeitig hauswirtschaftliche Kenntnisse.

  • Idealisierung und soziale Distanz kennzeichnen die Zeit der Werbung und sexuelle Beziehungen vor der Ehe sind selbstverständlich tabu.

  • Die eheliche Beziehung der Partner lässt voreheliche Verliebtheit hinter sich und "soll sich in eine ruhige, gleichmäßige Neigung verwandeln, die ein Leben lang hält wie das Band der Ehe" (ebd. S.86)

  • Ehe und Familie sind in der bürgerlichen Idealvorstellung untrennbar miteinander verbunden.

  • Der bürgerliche Ehealltag weist eine Zweiteilung auf, welche die Welt in einen "inneren" und "äußeren" Bereich aufteilt und den Geschlechtern klare Rollen vorschreibt, die vom unterstellten natürlichen Wesen der Geschlechter abgeleitet werden. Für den einen "äußeren Bereich" des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens sind die Männer, für den privaten und häuslichen Bereich die Frauen zuständig.

  • Der Vater ist das Oberhaupt der Familie, während die Frau auf ihre Weise mit bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Ordnung und Sauberkeit ihren Teil zur Erhaltung und zum Wachstum des vom Mann geschaffenen Wohlstandes beiträgt.

  • Die Frau ist neben ihren hauswirtschaftlichen Tätigkeiten für die immer wichtiger werdende Kindererziehung zuständig, zu der sie ihre wesenseigene Mutterliebe prädestiniert. Ihre Hausarbeit wird zusehends idealisiert und die Rolle der Hausfrau in gewissem Sinne aufgewertet, indem sie sich als "teure Gattin" und "´treue Mutter" nicht nur "für das Nützliche, sondern auch für das Schöne, das Dekorative, die Gemütlichkeit" zuständig fühlen darf. (vgl. Schenk 1995, S.85-87)

Auch wenn die Wirklichkeit der bürgerlichen Ehe als "vernünftige" Liebe vom Ideal der romantischen Liebe zum Teil beträchtlich weit entfernt war, keimte doch eine Vorstellung einer "partnerschaftlichen Liebe" (Nipperdey 1990, S. 48) heran, bei der die Eheschließung mehr auf individueller Entscheidung als auf dem Arrangement elterlicher Familien beruhte.

Diese Vorstellungen wurden vom frühen 19. Jahrhundert an von metaphysischen Theorien über die biologischen Unterschiede der Geschlechter gestützt, die Konzepte, wie sie auch Schiller in seinem "Lied von der Glocke" entwickelte, als Rollenmodelle und geschlechtsspezifische Lebensprojekte für die bürgerliche Ehe festgeschrieben haben. Die" Polarisierung der Geschlechtscharaktere" (Gestrich 2013, S.6), die den Frauen "Passivität, Emotionalität und Mütterlichkeit", den Männern "Aktivität, Rationalität und Berufsorientierung" (ebd.) zuschrieben, konnte auf diese Weise "das Gleichheitsdenken der Aufklärung, das im Prinzip ja auch die Gleichheit der Geschlechter umfasste, rückwirkend [...] entschärfen und in die alten patriarchalischen Familienstrukturen und Rollenzuweisungen" (ebd.) einfügen.

Thomas Nipperdey (1990, S. 48f.) hat den Zustand der Geschlechterbeziehungen im frühen 19. Jahrhundert in einer vielleicht nicht sonderlich differenzierten Weise, aber doch inhaltlich sehr anschaulich und kompakt, wie folgt zusammengefasst:

"Die Zeit um 1800 hatte die partnerschaftliche Liebe als Grundlage der Ehe und der Eltern Kind Beziehung entwickelt. Darüber bildete sich im frühen 19. Jahrhundert eine ganze Theorie, eine Geschlechtermetaphysik, aus den biologischen Unterschieden der Geschlechter wurden unterschiedliche Rollenmodelle und Lebensprojekte entwickelt und begründet. Die Geschlechter sind gleichwertig, aber ungleich, sie sind anders, sie stehen in einem polaren und in einem kompensatorischen Gegensatz zueinander. Und insofern die Entlastung der Frau von der Berufsarbeit alten Traditionen der oberen Schichten ebenso entsprach wie der neuen Realität der Bürger, in der die Frau, Kinder gebärend und aufziehend, ans Haus gebunden war, aus dem die Berufs- und Erwerbsarbeit auswanderte, war solches Rollenkonzept auch ganz ohne Philosophie zum Normalbestand der Lebensinterpretation geworden. [...] Der Mann - so das Modell - ist aktiv, die Frau passiv; der Mann von seinem Tun, die Frau von ihrem Sein her lebend; der Mann gehört in die Leistungswelt, die Frau steht jenseits der Leistungszwänge in einer anderen Welt - der der Freiheit; der Mann lebt von seiner Kultur, die Frau von ihrer Natur, ihrer Geschlechtsrolle; der Mann ist aufs äußere und öffentliche Leben bezogen, auf Markt, Konkurrenz und Macht, auf Arbeit und Politik und auch auf deren Anonymität, die Frau aufs Innere und Private, aufs Intime und auch aufs Personale; der Mann ist bestimmt von Rationalität und Objektivität, die Frau von Emotionalität und Subjektivität. Das ist nicht einfach eine Unterscheidung; vielmehr: Die Frau ist notwendige kompensatorische Ergänzung zur Einseitigkeit des Mannes. Dazu kommt, dass ihre familiale Rolle nicht als eigene ausgreifende Aktivität beschrieben wird, sondern vor allem als aufopfernde, geduldig hinnehmende Liebe. Die Frau ist für andere, für den Mann, für die Kinder da. Und die Frau ist dem Mann gegenüber schutzbedürftig, hilflos - so ist jedenfalls der Stil des Umgangs. Das spitzt sich zu zum Verhältnis von Welt und Heim: auf der einen Seite das Heim, der Ort der Nähe, der Harmonie, des Friedens und der Geborgenheit. Und das war dann eine Beschreibung der Ehe. In ihr besorgt die Frau das Heim, das ist ihre Sphäre, sie bestimmt als liebende Mutter die Familienatmosphäre. Das Heim ist der Ruhepunkt des Mannes, dessen Leben in den Auseinandersetzungen mit und in der Welt abläuft, und es ist der Ort der Bildung der künftigen Generationen; öffentliche Einrichtungen wie Schulen hatten nur Hilfsfunktionen."

Und doch, so betont Nipperdey ausdrücklich, darf man die bürgerliche Ehe nicht nur unter dem Blickwinkel der Herrschaft der Männer über die Frauen betrachten, denn sie stellte auch eine Notwendigkeit von Arbeitsteilung dar, einer Aufgabenteilung aus Sicht der Männer allerdings, "aus der sich bei aller Gleichwertigkeit und aller Hochstilisierung der Frau - sie war das bessere menschliche Wesen, im Höheren zuhause - der faktische Entscheidungsvorrang, um nicht zu sagen, das Entscheidungsmonopol des Mannes, ein paternalistischer Patriarchalismus, beinahe problemlos ergab." (ebd., S. 49)

Auch wenn diese paternalistische Patriarchalismus die Geschlechterbeziehung im Allgemeinen wohl gut beschreibt, gestalteten sich, das haben neuere Studien ergeben, weder "die Autoritätsbeziehungen zwischen Männern und Frauen oder Eltern und Kindern, noch die geschlechts- und generationsspezifische Trennung der Arbeits- und Kommunikationssphäre so rigide [...] wie dies in der älteren, auch frauengeschichtlichen Literatur z. T. dargestellt worden war". (Gestrich 2013, S.121)

Nicht zuletzt an diesem Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, aber auch an der Tatsache, dass allem Gerede von der "Liebesehe" zum Trotz viele bürgerliche Ehen eher "Konventionsehen" darstellten, "denen ökonomisches Kalkül zugrunde lag" (Schenk 1995, S.84) entzündete sich die Ehekritik des 19. Jahrhunderts. Denn während die bürgerliche Gesellschaft sich die bürgerliche Frau idealisierte und "das Ideal der Ehe als einer Gefühlsgemeinschaft" predigte , "in der sich Gemüt und Verstand, jeweils vertreten durch Frau und Mann", gleichwertig ergänzen sollten" (ebd., S.93), führte der "strukturelle Machtvorsprung des Mannes" auch in der bürgerlichen Institution der Ehe dazu, "dass sich günstigenfalls eine Art Vater-Tochter-Verhältnis und im negativen Fall die Beziehung zwischen einem Familientyrannen und einer vom Gefühl ihrer eigenen Minderwertigkeit durchdrungenen Dienerin entwickeln konnte." (ebd., S.93). Diese Beziehung hat in der Literatur ihren vielfältigen Niederschlag gefunden und in Henrik Ibsens Drama "Nora (Ein Puppenheim)" (1879) ein besonders eindrücklichen Ausdruck gefunden.

Jenseits der Ehe gab es im Bürgertum, wenn auch in vergleichsweise geringerer Zahl als in den ländlichen und städtischen Gebieten, nichteheliche Lebensgemeinschaften. Solche wilde Ehen konnten bei Studenten oder der Boheme durchaus vorkommen, bewegten sich aber stets am Rande der Gesellschaft. Vor allem "junge Männer der Boheme, die auf niemanden Rücksicht nehmen mussten, lebten häufig mit 'Grisetten' zusammen. Grisetten waren junge Frauen aus der Unterschicht, meist Wäscherinnen, Näherinnen, Putzmacherinnen, gelegentlich Fabrikarbeiterinnen, und in der Regel aus großen Familien, die finanziell auf sich selbst angewiesen waren und relativ freizügige Liebesverhältnisse eingingen." (ebd., S.109, S.111) Für Studenten waren solche wilden Ehen meist nur Übergangsphänomene, bis sie nach ihrem Eintritt ins Berufsleben standesgemäß heiraten konnten. Aber auch wenn solche wilden Ehen von der Öffentlichkeit hingenommen wurden und selten die Polizei auf den Plan riefen, gerne gesehen waren sie natürlich nicht. Normalerweise konnte man dann nicht mehr im normalen Kreis anständig verheirateter Leute verkehren. (vgl. ebd., S.111)

Ein Leben ohne Ehemann zu führen, war für bürgerliche Frauen im 19. Jahrhundert keine echte Wahl. Ihnen drohte das trostlose Schicksal einer so genannten alten Jungfer, "nach dem Tod der Eltern, die soziale Isolation, wenn nicht verheiratete Brüder oder Schwestern bereit waren, sie zu sich zu nehmen". (ebd., S.89) Meist aber verharrten sie dadurch lebenslang in völliger finanzieller Abhängigkeit, wenn sie nicht als Erbinnen eines größeren Vermögens ihren Unerhalt selbst bestreiten konnten. An eine Berufstätigkeit als alleinstehende bürgerliche Frau war zudem kaum zu denken, zumal dafür allenfalls Tätigkeiten als Gesellschafterin oder Lehrerin in Frage kamen. Dessen ungeachtet gab es aber offenbar doch auch eine größere Anzahl unverheirateter Frauen im Bürgertum. Das lag weniger an ihnen selbst als an der finanziellen Lage der möglichen männlichen Ehepartner. Viele von ihnen konnten es sich einfach nicht leisten, eine Familie zu gründen. Denn, wer dies plante, musste "entweder ererbtes Vermögen oder eine einträgliche Position (etwa im Staatsdienst) oder eine Praxis, ein Geschäft, ein Unternehmen aufgebaut haben."  (ebd.) So entschieden sich etliche von ihnen dafür, ihr Leben als Junggesellen zu führen. Grundsätzlich erhöhte natürlich die Mitgift, die eine Frau in die Ehe einbringen konnte, ihre Chancen geheiratet zu werden. Ihre Höhe hing jedoch von der Anzahl ihrer Geschwister ab und, da in bürgerlichen Familien ohnehin alles in die Ausbildung der Söhne investiert wurde, waren die Aussichten eine attraktive Mitgift zu erhalten eben nicht immer die besten. Auch wenn also für das Bürgertum durchaus persönliche Liebe die Basis einer Ehe darstellen durfte, waren die finanziellen Überlegungen letztlich meist maßgebend. Da konnten gerade Frauen noch so sehr zur Liebesheirat tendieren, "die strukturelle Notwendigkeit zu Geldheiraten (hielt) unvermindert an" (ebd.). ;
So stellt Herrad Schenk (1995, S. 88f.) nüchtern und pointiert fest: "Es war eine zentrale Schwachstelle der bürgerlichen Ehe, dass so viel von Liebe geredet wurde, obwohl oft genug und immer noch Mitgift gemeint war."

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Gert Egle, 2004 zuletzt bearbeitet am: 25.10.2023

     
    
   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie aus dem Text heraus:

    • Inwiefern änderten sich das Familien- und das Ehebild beim Übergang zur Industriegesellschaft?

    • Wie entsteht der Typus der bürgerlichen Ehe?

  2. Erläutern Sie, wie sich das Rollenverständnis von Männer und Frauen in diesen Wandlungsprozessen verändert hat.

  3. Erläutern Sie, was Thomas Nipperdey unter dem paternalistischen Patriarchalismus in der bürgerlichen Ehe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts versteht.

  4. Arbeiten Sie die Situation von bürgerlichen Frauen, die ehelos geblieben sind, aus dem Text heraus:

  5. Stellen Sie Männer- und Frauenrolle der bürgerlichen Ehe einander gegenüber.

 
 
 

 
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