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Formen des Gesprächs im Drama
Am Ende des▪ ersten Aktes in
▪ Friedrich Dürrenmatts ▪ "Der
Besuch der alten Dame" macht ▪ Claire
Zachanassian den Güllenern ihr Angebot ("Ich gebe euch eine Milliarde
und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit.", S,45).
Die Güllener, die zu diesem
Zeitpunkt noch nicht wissen, dass Gerechtigkeit für Claire darin besteht,
dass jemand aus Güllen ihren ehemaligen Geliebten Alfred Ill tötet (vgl.
S.49), zeigen sich über diese Bedingung der Milliardärin verwundert.
Stellvertretend für alle Güllener fragt der Bürgermeister nach, wie das zu
verstehen sei. Als er zu hören bekommt, dass Claire dies genauso gemeint
habe, wie sie es gesagt habe, widerspricht er ihr mit den Worten: "Die
Gerechtigkeit kann man doch nicht kaufen!" (S.45)
Um das von ihr keinen
weiteren Widerspruch duldende "Man kann alles kaufen." zu demonstrieren,
lässt sie ihr Gefolge eine Art Gerichtsverhandlung in Szene setzen:
Diese erfüllt zwei verschiedene Zwecke.
-
Sie enthüllt weitere wichtige Elemente
der Vorgeschichte.
-
Zugleich soll
sie zeigen, dass sie sich schon in der Vergangenheit über
alle rechtsstaatlichen Normen hinweggesetzt hat und mit
anderen Beteiligten des Vaterschaftsprozesses vor 45 Jahren
auf dem Weg der Selbstjustiz abgerechnet hat.
Unter der Regie von ▪ Claire
Zachanassian, die als Klägerin in der inszenierten Verhandlung agiert, gibt der seit nunmehr schon
25 Jahren in ihren Diensten als Butler Boby stehende ehemalige Oberrichter
Hofer seine wahre Identität preis und räumt ohne Skrupel öffentlich ein,
dass er sich wegen der phantastischen Besoldung von Claire Zachanassian habe
kaufen lassen. (vgl. ▪
Prozess auf zwei Ebenen)
Fener rollt der Butler bzw. ehemalige Oberrichter die Vaterschaftsklage
von 1910 noch einmal auf und befragt, nachdem er Alfred Ill in die Rolle des
Angeklagten versetzt hat ("Treten Sie vor, Herr Ill!", S.46), die damals für
Ill aussagenden Zeugen.
Die
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Befragung von Koby und Loby, die von dem Butler und Claire
durchgeführt wird, ist nicht nur unter dem Blickwinkel der Inszenierung als
Gerichtsverhandlung, sondern nach
Beilhardt u. a. (1975) auch auf der Basis des sozialen Gestus der
Sprache und der in ihnen wirksamen kommunikativen Handlungen als ein
Verhörgespräch zu erkennen. (▪
Formen des Gesprächs im Drama).
Verhörgespräche |
Gestus des Verhörens |
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Modus der asymmetrischen Kommunikation von
vornherein festgelegt
-
Geltungsansprüche unterliegen den
institutionellen Bedingungen und den Randbedingungen des Verhörs
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Umrisse herrschaftsgebundener
Kommunikation sichtbar
-
Rollentausch von Verhörendem und Verhörtem
höchstens vorübergehend möglich
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Es bringt an den Tag, dass beide seinerzeit von Alfred Ill bestochen
worden waren, um falsch auszusagen. Für einen Liter Schnaps, so erklären
sie, hätten sie 1910 zu Protokoll gegeben, dass auch sie mit Klara Wäscher,
wie Claire Zachanassian damals noch hieß, geschlafen hätten.
In einer Zeit,
in der man die Vaterschaft noch nicht wissenschaftlich feststellen konnte,
war damit eine eindeutige Vaterschaft Ills nicht nachzuweisen. Daher kam es
1910, wie es kommen musste, was der Butler pointiert zusammenfasst: "Dies
ist die Geschichte: Ein Richter, ein Angeklagter, ein Fehlurteil" (S.48,
Herv. d. Verf.)
Doch Claire, das ergibt das weitere Verhör von Koby und Loby, hat sich nach
diesem Fehlurteil, dessen Aufhebung sie auf rechtsstaatlichem Wege aber
offenkundig nie angestrebt hat, wie eine absolute Macht selbst schon
Gerechtigkeit verschafft, indem sie willkürlich mit den damals meineidigen
Zeugen Jakob Hühnlein und Ludwig Spar abgerechnet hat.
Über den ganzen
Erdball hinweg ließ sie nach den beiden jagen und als sie endlich in ihrer
Hand waren, überließ sie die beiden ihren für je eine Million Dollar
freigekauften Gangstern aus Manhattan, Roby und Toby, um die beiden zu
blenden und zu kastrieren.
So mit brutaler Härte und Konsequenz um das
gebracht, was sie als Grundlage ihres Meineids benötigten, das Augenlicht,
um etwas zu erkennen, Männlichkeit, um angeblich mit Klara Wäscher zu
schlafen, bleibt den beiden nichts anderes als sich als körperliche und
psychische Krüppel in die Gefolgschaft ihrer nicht minder skrupellosen
Peinigerin zu begeben, um überhaupt noch zu überleben.
Das Verhörgespräch,
das der Butler und Claire Zachanassian mit Koby und Loby führen, stellt den
in der Inszenierung der teilweisen Neuverhandlung der Vaterschaftsklage von
1910 zu Recht an den Pranger.
Zugleich zeigt es aber auch, dass Ills
Hoffnungen darauf, dass seine Bestechung der Zeugen nach 45 Jahren verjährt
sei ("Verjährt, verjährt! Eine alte, verrückte Geschichte.", S.48) an der
von Claire Zachanassian gestalteten Realität zerschellen müssen. Die von
Claire geschaffene Realität, die sich so absolut versteht,
dass sie selbst die Zeit aufheben und das Rad der Geschichte einfach
zurückdrehen kann ("Du wolltest, dass die Zeit aufgehoben würde [...] nun
habe ich sie aufgehoben", S.49) ist von Ill nicht zu beeinflussen
Claire Zachanassian
will mit Alfred Ill "abrechnen" , ohne sich jedoch mit dem von ihr
geforderten Mord an Güllen selbst die Hände schmutzig zu machen.
Was sie auf
der Basis persönlicher Rachegelüste als Gerechtigkeit ausgibt, kann sie
sich, wie sie betont, "leisten": "Ich gebe euch eine Milliarde und kaufe
mir dafür die Gerechtigkeit. [...] Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand
Alfred Ill tötet." (S.45, 49, Hervorh. d. Verf.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024