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Arno Holz und Johannes Schlaf, Ein Tod

Text

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur Autorinnen und Autoren Arno Holz Lyrische Texte Erzählende Texte von Arno Holz und Johannes Schlaf [ Ein Tod Text Aspekte der Erzähltextanalyse Bausteine ] Papa Hamlet Der erste Schultag Die papierne Passion ...   Schreibformen
Rhetorik Filmanalyse ● Operatoren im Fach Deutsch
 

»Arno Holz/Johannes Schlaf, Papa Hamlet (zeno.org)

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Die Erzählung "Ein Tod" stammt aus dem von »Arno Holz (1863-1929) und »Johannes Schlaf (1862-1941) 1889 unter dem gemeinsamem Pseudonym Bjarne P. Holmsen gemeinsam verfassten dreiteiligen Erzählband »Papa Hamlet, der neben dieser noch zwei weitere Novellen »Der erste Schultag und die Titelnovelle »Papa Hamlet enthält.

Die beiden Autoren folgten konsequent der literarischen Programmatik des ▪ Naturalismus (1880-1910) und nutzten den dafür typischen naturalistischen Sprachstil (▪ sinnlicher Stil). Dabei ging es vor allem, so wie es auch auf auf internationaler Bühne Schriftsteller wie z. B. »Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), »Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910), »Henrik Ibsen (1828-1906), »Guy de Maupassant (1850-1893), vor allem aber »Emile Zola (1840-1902) (z. B. »Les Rougon-Macquart, 20-bändiges Romanwerk, ab 1869) vormachten, darum, die Wirklichkeit detailgetreu und exakt zu erfassen, "die Erscheinungen der Wirklichkeit möglichst deckungsgleich wiederzugeben, wobei (...) die künstlerische Subjektivität und Unvollkommenheit der künstlerischen Mittel, möglichst klein zu halten war, um die Differenzen zwischen Realität und Abbild auszuschalten." (Hoffacker 31989, S.311)

Arno Holz und Johannes Schlaf,
 Ein Tod (1889)

Endlich, nachdem jetzt der alte Svendsen unten seine eintönige Patrouille eingestellt hatte, konnte sich auch Olaf nicht mehr länger aufrecht erhalten.
Die lange Nachtwache, der scharfe Karboldunst, der das ganze enge, schwüle Zimmer füllte, das feine Ticken der Taschenuhr drüben vom Sofatische her, das leise, unermüdliche Brühen und Blaffen, mit dem sich das Öl in der kleinen, tief heruntergeschraubten Lampe verzehrte, sein eigenes Blut, das ihm in den Ohren summte und zwischendurch wie fernes, dünnes Glockengeläute klang: das alles betäubte ihn!
Er hatte sich jetzt in den alten, großen, kattunenen Lehnstuhl dicht neben dem Bett noch tiefer zurücksinken lassen. Die glitzernde Flüssigkeit in dem halbvollen Glase neben ihm, die er vergeblich zu fixieren suchte, war jetzt in einen orangefarbnen Lichtklecks verschwommen, der allmählich ins Bläuliche überging, Schließlich war's nur noch ein braunroter Funke, der übrigblieb, zuletzt war auch der verloschen. Alles schien jetzt schwarz! Das Glas, das Bett, die Lampe, das ganze Zimmer ...
Sein Kinn war ihm auf die Brust gefallen, er war eingeschlafen.

... Gott sei Dank! Er war wieder wach geworden. Es musste eine Maus gewesen sein!
Sein Schatten, der jetzt lang und wunderlich geknickt drüben über die weiße, niedrige Tür weg, das kleine, blaue Stück Tapete drüber und die alte, verräucherte Zimmerdecke hinfiel, brachte ihn wieder zu sich.
Er sah nach der Uhr.
Drei!
Der Kranke lag noch immer da wie tot.
Er hatte sich jetzt über ihn gebeugt.
Das trübe, grellrote Lampenlicht zeichnete die Augenhöhle neben der spitz vorspringenden Nase wie ein tiefes, scharf umrändertes Loch in den Schädel.
»Armer Kerl!«
Das große, feuchte Handtuch über seiner Stirn war jetzt wieder behutsam zurechtgerückt, er war jetzt abermals in seinen Lehnstuhl zurückgefallen.
»Armer Kerl!«
Und nun wieder nur das leise, unermüdliche Brühen der Lampe, das Ticken der Uhr und Jens, der sich jetzt auf dem alten, wackligen Sofa drüben im Schlaf auf die andere Seite gedreht hatte ...
Olaf seufzte.
Der schmutzige, gelbe Lichtfleck oben an der alten, rissigen Decke zitterte und zitterte, die Uhr tickte, das Blut summte, er war abermals eingeschlafen.

»O ... Oolaf!!«
Unten, irgendwo auf dem totenstillen Hofe hatten eben ohrenzerreißend ein paar Katzen aufgekreischt; jetzt war auch Jens in die Höhe gefahren.
»Um Gottes willen! Was ...«
»Halt's Maul! ... Diese verfluchten Biester!«
Er war jetzt wieder total munter.
Jens gähnte.
»Ha ... hach! Ich ... ich glaub', ich – hab 'n bisschen geschlafen!«
Er hatte den Kneifer, der ihm auf das Sofa gerutscht war, aufgeknipst und drückte ihn jetzt wieder auf seine Stumpfnase. »Hm!«
»Geht's besser?«
»Nein! Er schläft immer noch!«
»Hm!«
Eine Weile war alles wieder still. Sogar die Katzen draußen hatten sich auf einen Augenblick beruhigt. Jetzt sah auch Jens nach seiner Uhr. Sie war stehngeblieben.
»Drei! Nicht wahr?«
»Ja! Erst!!«
»Schön! ... Ist noch Bier da?«
»Ja! Ich glaube.«
Jens ging nachsehn. Seine dicken Filzsocken machten seine Schritte unhörbar. Vor dem Bette blieb er einen Augenblick stehn.
»Du! Vielleicht wird's doch besser!«
Olaf zuckte nur die Achseln.
Eins ... zwei ... drei ... fünf Stück noch.
»Dir auch eine?«
»Nein! Danke!«
»Aah! das tut wohl! – Übrigens ... scheußlicher Muff hier!«
»Ja! Zum Zerschneiden!«
»Schauderhaft! Schauderhaft!«
Er hatte sich jetzt, beide Hände in den Hosentaschen, dicht vor das Fenster gestellt.
»Dieses verdammte Viehzeug!«
Olaf, der schon eine ganze Zeit auf dem kleinen, rotgeheizten Bücherregal über der Kommode gekramt hatte, sah auf.
»Ja! Weiß Gott! Schon die ganze Nacht!«
Jens sah jetzt auf den Hof hinaus. Er hatte die Gardinen beiseite genommen.
Drüben auf die dunkle Wand des Hinterhauses hatten die beiden Fenster ihre zwei trüben Lichtvierecke gelegt, oben auf einem Schornstein zeichneten sich die schwarzen Schattenrisse zweier Katzen deutlich gegen den blauen Nachthimmel ab. Zwei, drei Sternchen flinkerten müde über den mit einem leisen, grauen Lichte überzogenen Dächern.
»Tegnér? Hm! Na! Ist ja schließlich egal!«
Plötzlich hatten sich beide wieder unruhig umgedreht.
Ein scharfes Knacken war deutlich durch das totenstille Zimmer gegangen.
»Nein! ... Nein! ... Es war wieder nur der dämliche Schrank!«
»Ich dachte schon ... hm! Wenn's nur nicht wiederkommt!«
Jens hatte unwillkürlich tief aufgeatmet.
Seiner ganzen Länge nach hatte er sich jetzt wieder über das Sofa geworfen.
Olaf hatte sich den Tegnér dicht unter die kleine, altmodische Lampe gerückt, um deren Glocke ein großer, gelber Zeitungsbogen gesteckt war, dessen Zipfel bis auf den Tisch herunterreichte.
Die Blätter knitterten unter seinen Händen. Den Ellbogen aufgestützt, las er jetzt halblaut vor sich hin.

»Wie schön die Sonne lacht! Wie freundlich
Von Zweig zu Zweigen ...«

Wieder knitterten die Blätter. Die Furche zwischen seinen dichten, buschigen Augenbrauen hatte sich noch tiefer gegraben.
Jens, der jetzt auf dem Bauch liegend über das Seitenkissen des Sofas weg zwischen den Arabesken der Gardinen hindurch den kleinen, grünen Stern drüben über dem Schornstein beobachtete, langweilte sich scheußlich.
»Willst du nicht lieber 'n bisschen schlafen?«
»Nein!«
»Aber Kind! ... Warum nicht? Ich löse dich ab!«
»Lass nur! ... Kann nicht schlafen!«
»Ae! Eigentlich! Ich auch nicht mehr!«
Ein langes Schweigen war eingetreten. Stumpf und müde starrten die beiden vor sich hin.
»Du!«
»Ja?«
»Nichts!«
»Was denn?«
»Still! Hörst du nichts?!«
Unten im Flur krackelte jetzt etwas an der Haustür herum. »Aha!«
Schläfrig blinzelte jetzt Jens wieder nach seinem Stern hinüber. »Hm!«
Olaf blätterte wieder weiter.
Unten hatte es unterdessen das Schlüsselloch gefunden und drehte nun mühsam auf. Es torkelte herein.
»Du! Hör mal den!«
»Na? Ei, du Donnerwetter!«
Schwer kam es jetzt die Treppe in die Höhe gestapft. Am Geländer hielt es sich. Manchmal polterte es wieder ein paar Stufen zurück. Es schnaufte und prustete. Eine tiefe, heisere Bassstimme brummte. Jetzt, endlich kam es schwerfällig über den Flur. Ein dicker Körper war dumpf gegen eine Tür geschlagen. Ein abgebrochener Fluch, dann half es sich wieder weiter.
»Heiliger Bimbam!«
Jens lachte leise.
Jetzt hatte es sich sogar gegen die Wand gestemmt und schurrte sich daran entlang. Ein paar Kalkstücke waren abgebröckelt und prasselten unten auf die Dielen.
»Was?! Famose Kröte!«
»Still mal!!«
Es kam ... ja! ... es kam sogar ... auf die Tür zu?
Jetzt ... Schwer war es dagegen gekracht! Der dumpfe Schlag war durch das ganze Zimmer gegangen.
»Herrgott! Was ist denn das für ein Knote?!!«
Olaf war steil in die Höhe gefahren.
Auch Jens war die Sache etwas bunt geworden ...
Sie standen jetzt beide mitten im Zimmer, die Augen aufmerksam auf die Tür gerichtet.
Es tastete nach der Klinke.
»Das heißt ...«
Schnell, auf den Zehen, war jetzt Olaf auf die Tür zugegangen.
Aber in demselben Augenblicke war sie auch bereits aufgeprallt und ein unförmiger, schwarzer Klumpen über die Schwelle weg prustend ins Zimmer gekugelt.
Der kühle Luftzug hatte die kleine Lampe neben dem Bett hoch aufflackern lassen.
Jens war sofort zugesprungen.
Mit Olafs Hilfe gelang es ihm endlich, den Betrunkenen aufzurichten.
In dem matten Schein der Lampe jetzt ein blaurotes, gedunsenes Gesicht, das mit seinen kleinen, verschwommenen Augen blöde im Zimmer umherglotzte. Unter dem eingedrückten Hut vor dünne, flachsblonde Haare in die rote, fette, schweißtriefende Stirn.
»Mein Herr! Bitte!«
Ein Schlucken und Schnieben war die einzige Antwort.
»Sie sind fehlgegangen!«
»Wa ... hbf ... wa ... waas? Hbf! ...«
»Sie sind fehlgegangen!«
»Ah! ... En ... en ... hbf! ... schul ... jen ... i ... hbf! ...
ich ...«
»Bitte!«
»Hb! Hbf! ...«
Hinterrücks war jetzt der Dicke mit seiner Verbeugung auf den Flur zurückgetaumelt. Olaf drückte die Tür fest an und drehte den Schlüssel um ...
»Nette Wirtschaft hier!«

Endlich hatten sie sich wieder beruhigt.
Olaf blätterte wieder zerstreut in seinem Tegnér herum, Jens hatte sich auf das Sofa zurückgeworfen und blinzelte wieder schläfrig vor sich hin durch die Gardine.
Am Kopfende des Bettes, in irgendeinem Winkel, summte verschlafen ein durch das Licht aufgestörter Brummer.
Die Taschenuhr tickte, vom Schrank her ein paar Holzwürmchen. Jetzt, oben in der dritten Etage, klappte endlich auch die Tür zu.
Durch die dünne Decke durch hörte man deutlich, wie es plump auf ein Bett fiel ...
Das matte, fahle Licht oben auf den Dächern war jetzt ein wenig heller geworden ...
Olaf schüttelte sich. Ihn fröstelte. Den Lampendocht schraubte er etwas höher. Das scharfe, totblasse Gesicht des Kranken, in dessen feuchte Stirn unter dem Handtuch vor wirr die schwarzen, nassen Haare quollen, zeichnete sich jetzt noch schärfer.
»Ach Gott, ja!«
Müde hatte Olaf den Kopf auf seine beiden Arme gelegt, die er gegen die Tischkante gestützt hatte.

Plötzlich waren sie beide erschrocken zusammengefahren!
Das Bett hatte diesmal ganz deutlich geknarrt.
Ein unruhiges Rauschen. Ein Stöhnen. Bleischwer hatte es auf das bauschige Deckbett geklappt.
Atemlos starrten die beiden hin ...
»Ah! ... aaah!! ...«
Schnell hatte sich jetzt Olaf über den Kranken gebeugt.
»Jens! Jens!«
»Hier!«
Der Kranke war jetzt noch unruhiger geworden. Sein Kopf drehte sich nach allen Seiten. Seine tiefliegenden, dunklen Augen waren weit aufgerissen. Seine Nägel kratzten scharf über den Bettbezug. Seine blassen, bläulichen Lippen bewegten sich. »Du! Komm her!«
»Ja!«
Aber wieder lag er jetzt regungslos. Nur seine langen, abgemagerten Hände, die unruhig an dem Deckbett zupften. Ein paar Sekunden lang war alles still ...
Jetzt, kaum hörbar:
»Wasser ...«
»Schnell! Schnell!«
»Da!«
Olaf hatte sich mit dem Glase wieder über das Bett gebeugt. Vorsichtig, leise schob er dem Kranken seinen langen, sehnigen Arm unter den Kopf. Behutsam rückte er ihn ein wenig in die Höhe und drückte ihm das Glas an den Mund ...
Gierig hatte der Kranke getrunken! Seine irren Blicke waren jetzt starr auf den schmutziggelben, bebenden Kreis oben über den weißgestrichenen, niedrigen Querbalken der Decke gerichtet ...
Das leise, zitternde Klappen des leeren Glases, das Jens auf den Tisch zurückstellte, und die Taschenuhr drüben.
»H ... h ... Los! Los denn doch!!«
»Du! Du!«
»Ja!«
»Auf die Mensur! Fertig! Los!!! ... Ah! ... Hier! Hier!
In die Seite! ... Ah! Aaah! ... Es schmerzt! Es schmerzt, Olaf! Olaf! ... Hu! Das Blut! Das Blut! ... Das ganze Gras ... aaah! ... Das ganze – Gras ... Das ganze Gras ...«
Jens schüttelte sich. Es überlief ihn.
Olaf hatte sich jetzt noch tiefer über das Bett gebückt.
»Martin! Martin! Alter Junge!«
Seine Stimme zitterte etwas.
»Jens! 'n frisches Tuch!« ...
»Hier!«
»Ah ... das Gras ist ... feucht! ... kühl ... so kühl ...
Wir müssen fort, Olaf ... Die Droschke ... unten ... Ruhig, Kind! Ruhig! Der Kerl soll dran glauben!! – Wart mal! Wart mal! Der Briefträger? Flinsberg, alter Junge! Keinen Schilling mehr, aufs Wort! ... Geld! Geld! Mutterchen hat doch geschickt ... Mutterchen! ... Aber es wird ihr schwer, Olaf! ... Sie sagen's nur nicht ...sagen's nur nicht! Hier, Herr Doktor! ... Bitte! ... Wunderschön! ... das Getreide ... Die Vögel ... Ach, Herr Doktor! ... Lasst doch! ... ihr braucht mich doch nicht zu halten ... ich kann ja allein ... nicht doch! ... Lasst doch!!«
Er wand sich. Olaf hatte jetzt beide Arme um ihn geschlungen.
»Nein! Nicht doch! Lass doch, Jens! ... Mach keinen Unsinn! Gib meine Mappe her! ... Ich muss ins Kolleg! ... Sauf's! Sauf's! ... Rest weg! ... Donnerwetter! So 'ne wüste Zecherei! ... Aber ... aber ... nicht, nicht doch! ... Lass doch – los!! ... Ach – lass doch nur! Lass!! ... Silentium! Wir wollen eins singen!«
Mit seinen abgemagerten Armen schlug er jetzt wild in der Luft herum. Seine langen, schmalen Hände schlenkerten in den dürren Gelenken.
Olaf stöhnte.
»Wir singen eins! ... Das erste Lied! ... Seite ... Nein doch! ... Lass! ... Lass!! Lass doch – loos!!!«
»Jens! ... Fass ... mit – zu!«
»Los! Los!! – Loos!!! ... Lasst mich doch! Lasst mich doch!! ... Aah! Aaahh!!«
»Fest! – Fest!! ... Er – will – raus!!!«
Ein Brett, das sich unten aus der alten Bettlade gelöst hatte, war jetzt auf die Dielen gekracht. Sie wurden hin und her geschleudert ...
Endlich hatten sie Martin in das zerwühlte Bett wieder niedergezwängt. Er lag jetzt erschöpft da. Er schwatzte nur noch halblaut vor sich hin. Das runtergezerrte Deckbett hatte Jens wieder sorgsam über ihm zurechtgerückt. Beide atmeten schwer ...
Draußen in der Nachbarschaft krähte jetzt ein Hahn.
»Ah! Es schmerzt! Es schmerzt ja so!! Aah!! Aaaah!!! ...
Olaf! Olaf!!«
»Ja? Mein Junge? ... Ich bin's ja! Und Jens! ... Wird dir besser?«
Er hatte sich wieder zu ihm niedergebeugt. Seine Brust keuchte noch. Er konnte kaum sprechen.
»Ja! – Ja ... Die Sonne scheint so wunderschön ... Draußen ... Heut abend bei Bergenhuus ... am Strand ... Nicht wahr, Nora? ... Ach, schon Morgen ... Bloß ein Frosch! ... Nicht doch ... bloß ein Frosch ... Hier! Hier! Das Gras ist so schön ... Oh, nicht wahr? Wir werden uns nie vergessen? ... Nie ... nie ... Oh, nicht wahr? ... Noch ein Kuss? ... Hm? ... Gute Nacht ... Der Mond ... so schön ... dort ... über der See ... so rot ... so groß ... so groooß ...«
Er lag jetzt da, mit halbgeschlossenen Augen. Er lächelte.
»Er wird ruhig!«
»Ja ...«
Olaf hatte sich jetzt wieder aufgerichtet. Einen Augenblick hatte er seinen Arm gerieben. Jens wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»So kühl ... so schön ... so ...«
Olaf hatte Martin wieder das feuchte Handtuch festgerückt. Jens war zur Lampe getreten.
»Vier ... vier erst ... h! ...«
Er stand jetzt wieder am Fenster.
»Wenn's doch erst Tag wär'!!«

Der fahle Lichtschein draußen auf den Dächern war jetzt heller geworden. Das erste Morgendämmern legte ein mattgoldiges Gelb auf die moosigen, schwarzroten Dachziegel und auf den viereckigen Schornstein drüben. Der enge Hof unten lag in einem silbergrauen Dämmerlicht. Langsam schlich sich der anbrechende Morgen an der Fensternische entlang in das dumpfige Zimmer. Das Glanzleder des Sofas hatte leise zu schimmern angefangen, der unruhige Lichtfleck oben an der Decke wurde immer blasser. Der Docht der Lampe, von welcher Olaf den Zeitungsbogen genommen hatte, war nur noch ein rötlich kohlender, stinkender Ring.
Draußen krähte wieder der Hahn. Ein leiser Windstoß strich am Fenster vorbei. In der Nachbarschaft kräuselte sich aus einem Schornstein ein feiner, weißer Rauch in das mattblaue, eckige Stück Himmel über den Hinterhäusern.
»Wann können sie denn da sein?«
»In zwei Stunden, denk' ich!«
Jens hatte sich wieder umgedreht.
»Du! Komm! – Schnell!«

»Nein! Nein! ... Die Bummelei hat keinen Zweck! Wir wollen jetzt arbeiten! Arbeiten!!«
»Du!«
»Herrgott! Herrgott!«
Leise schwatzte er jetzt wieder vor sich hin.
Plötzlich hatte er sich blitzschnell, mit einem jähen Ruck, steil aufgerichtet.
»Jens! ... Schnell! ... Schnell! ... Nie-der! Nie-der!
Der Ver-band!«
»Wir wollen eins singen!! ... Wir wollen eins singen!!«
Martin sang ...
Seine Stimme gellte heiser durch das Zimmer.
»Fest! Halt – fest!!«
»Fttt!! Das war ein inkommentmäßiger Hieb! ... Bitte den Herrn Unparteiischen zu konstatieren ... h!! ...h!!
Hierher ... Aaaahh!! ...«
Martin war sich mit beiden Händen nach seinem Leib gefahren.
»Fass fest zu! Um – Gottes willen! ... Er – reißt sich ... den – Verband los!!«
Martin raste.
»Halt ... was ... du – kannst!«
Jens war mit dem Kopf gegen den Bettpfosten geflogen.
»Die verfluchte Kugel! ... Es wird mir dunkel ... so dunkel ... Jens ... ich sterbe! ... Ich – sterbe ja!! ... Ida! Mutterchen! ... Sie waren so stolz auf mich ... Ah! Herr Doktor? ... Gratuliere, mein lieber Junge! ... Gratuliere! ... Aber, ich ... ich will ja! ... Nein, Nora! nur ein Frosch, Kind! ... Sieh doch! ... das Meer ... es wird ... ganz schwarz ... schwarz ... Mutterchen! ... Mutterchen ... Es wird ja alles noch gut ... gut ... Ah! Aaah!! ... Gute Nacht ... h! – h! – Gute Nacht, Herr ... H ... Herr – Doktor ...«
»Lass 'n bisschen los! – Er wird ruhig!«
Jens richtete sich auf. Sein Atem ging schwer, mühsam.
Er besah sein Handgelenk. Es war blau. Ein paar blutige Streifen zogen sich drüber hin.
»Lösch ... die ... Lampe aus! Sie kohlt!«
Erschöpft war Olaf wieder in seinen Lehnstuhl zurückgesunken.
Im Zimmer wurde es jetzt hell. Die Messingtüren an dem weißen Kachelofen neben der Tür funkelten leise. Draußen fingen die Spatzen an zu zwitschern. Vom Hafen her tutete es.
Unten hatte die Hoftür geklappt. Jemand schlurfte über den Hof. Ein Eimer wurde an die Pumpe gehakt. Jetzt quietschte der Pumpenschwengel. Stoßweise rauschte das Wasser in den Eimer. Langsam kam es über den Hof zurück. Die Tür wurde wieder zugeklappt.
Sie sahen zu dem hellen Fenster hin. Unwillkürlich hatten sie beide tief aufgeatmet.

»Du! Olaf! Sieh mal!«
Olaf antwortete nicht. Er hatte nur den Kopf ein wenig zum Bett hingedreht.
»Er liegt wie tot!«
»Ich glaube ... Hm!«
Er sah nach der Uhr.
»Wir müssen 'n neu'n Verband anlegen! Gib doch mal den Eisbeutel!«
Jens reichte ihm den frischen Eisbeutel vom Tisch herüber. Behutsam legten sie Martin den neuen Verband an.
Olaf brummelte etwas Unverständliches in seinen langen, strohgelben Schnauzbart.
»Ich glaube, die Wunde ist – nicht sorgfältig genug gereinigt! Es sind sicher noch Stoffäserchen von der Hose dringeblieben! ... Sieh mal!«
Sie hatten sich beide auf die Schusswunde niedergebückt, die Martin seitwärts im Unterleibe hatte.
»Du! Sieh doch nur! ... Er verändert sich ordentlich!«
»Hm!«
»Er liegt so still!«
»Ja! Wir müssen den Arzt holen lassen!«
»Ich will klingeln?«
»Ja!«
Hastig war Jens zur Tür gegangen. Grell tönte die Klingel unten durch das noch stille Haus ...

Der erste Sonnenstrahl blitzte jetzt goldig über die Dächer weg in das Zimmer. Er lebte einen hellen Schein auf die dunkelblaue Tapete über dem Bett und zeichnete die Fensterkreuze schief gegen die Wand. Die Bücherrücken auf dem Regal funkelten, die Gläser und Flaschen auf dem Tisch fingen an zu flinkern. Die Arabesken des blanken Bronzerahmens um die kleine Photographie auf dem Tisch mitten zwischen dem weißen, auseinander gezerrten Verbandzeug und dem Geschirre glitzerten. Auf den Dächern draußen lärmten wie toll die Spatzen. Unten auf dem Hofe unterhielten sich ganz laut ein paar Frauen.
»Donnerwetter! Ist das eine wüste Wirtschaft hier!«
Jens, der zum Sofa ging, war über ein paar Stiefeln gestolpert, die mitten im Zimmer auf dem verschobenen, staubigen Teppich lagen.
»Mir ist ganz öd im Schädel!«
Schwer hatte er sich wieder auf das knackende Sofa sinken lassen. Olaf hatte nicht geantwortet.
Jens reckte sich.
»Übrigens ... Es war eine schneidige Mensur!«
»Ja! Sehr korrekt!«
»Ja! Sehr ehrenhaft! – Für beide!«
»Eversen ist ins Ausland, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich!«
Jens betrachtete nachdenklich die beiden blitzenden Pistolenläufe über dem Sofa. –
»Wenn sie nun kommen?«
»Hm!«
»Ae!«
Jens gähnte nervös.
»Wo bleibt denn dieser alte – Ohrwurm?!«
»Wann können sie denn hier sein?«
Olaf hatte sich vom Bett in die Höhe gerichtet.
»Ich denke, nach sechs?«
»Hm!«

... »Na endlich!«
Jens war aufgesprungen. Hastig schloss er die Tür auf.
»Guten Morgen, meine Herren!«
»Guten Morgen, Frau Brömme!«
Die kleine, dürre Frau Brömme stand mit ihrem vorgestreckten, ängstlichen, verrunzelten Gesicht in der Tür. Ihre kleinen, grauen Augen hatte sie halb fragend, halb verstimmt gleich auf das Bett gerichtet. Mit ihren dürren Fingern zupfte sie an ihrem Schürzenband.
»Wie steht es, Herr Doktor?« »Schlecht! Wollen Sie schleunigst zum Arzt schicken!«
Olaf hatte nicht vom Bette aufgesehn.
»Ach, du lieber Gott! ... Es wird doch ...«
»Und ... bringen Sie bitte etwas frisches Wasser!«
»Ja! Sofort! Sofort! O du lieber Gott! Du lieber Gott!«
Die letzten Worte waren schon draußen vom Flur gekommen.
Im Zimmer nebenan wurde es jetzt lebendig. Ein Fenster wurde geöffnet. Jemand stimmte eine Geige.
»Der Philologe! Er steht jeden Morgen um sechs auf und spielt! Könnten wir nicht das Fenster ein bisschen aufmachen? Es ist zum Umkommen!«
»Ja! Etwas!«
Jens öffnete. Tief aufatmend sog er die frische Morgenluft ein.

Weich und klagend klangen die Töne der Geige, auf der der Philologe jetzt nebenan eine alte Volksballade spielte, auf den sonnigen Hof hinaus in das Zwitschern der Spatzen und das Gurren und Flügeklatschen der Tauben. Von fern, durch die klare Morgenluft, deutlich die hellen, zitternden Schläge einer Turmuhr.
Sie lauschten beide. Ihre bleichen, überwachten Gesichter waren tiefernst ... Vor der Tür hatte es jetzt geklirrt. Jens öffnete. Frau Brömme kam mit dem Wassereimer und Kaffee. Vorsichtig trippelte sie auf den Tisch zu. Sie ließ kein Auge vom Bett.
»Hier ... hier, Herr Doktor! Etwas Kaffee, meine Herren! Du lieber Gott, ja!«
Olaf tauchte ein Handtuch in den Eimer und wrang es aus. Es plätscherte. Frau Brömme nickte.
Jens schlürfte von dem Kaffee.
»Wie der arme junge Mann aussieht! Du mein Gott! Ach wissen Sie, es ist eine rechte Sünde, das Duellieren!«
»Eh! Der Arzt kommt doch bald?«
»Sofort! Sofort, Herr Doktor! Sofort! Ach Gott! So ein junger Mann, an den seine Mutter alles gewendet hat! Entschuldigen Sie! Aber sagen Sie selbst, meine Herren! Und schließlich, um eine Kleinigkeit, um nichts, wenn man's so nimmt' Das ist doch wahr, meine Herren!« Olaf und Jens hatten eine sehr reservierte Miene angenommen.
»Ach ja! Man kann was erleben, wenn man zwanzig Jahre an Studenten vermietet hat!«
Olaf war müde in seinen Stuhl zurückgesunken.
»Ach, Sie müssen auch schön müde sein, Herr Doktor! ... Ja, ein richtiges Buch könnte man schreiben! Glauben Sie? Nebenan wohnte mal ein Herr Eriksen, der kriegte ganz und gar das Delirium! Hier! In meinem Hause! O Gott, wenn ich noch ...«
»Hm! ... Wollen Sie – gleich noch etwas Eis heraufbringen!«
»Eis! Eis! Jawohl, jawohl, Herr Doktor! Sofort! O du lieber Gott!«
Sie trippelte hinaus.

»Alte Hexe!«
Olaf hatte das zwischen den Zähnen vorgezischelt. Jens schüttelte sich. Es fröstelte ihn.
»Unheimlich!«
Nebenan klang noch immer die Ballade durch die dünne Holzwand. Im Zimmer fingen die Fliegen an zu summen ...
»Du!«
»Was denn?!«
»Er liegt so auffallend still?«
»Ja! ... Und ... Herrgott! Sieh mal!! Seine Nase ist – so spitz? Und ... die – Augen ...«
Olaf hatte sich schnell über Martin gebückt.
Um seinen Mund lag jetzt ein krampfiges Lächeln. Die Arme lagen lang über das zerwühlte Bett hin. Das scharfe, spitzige Gesicht, auf welches jetzt schräg die Sonne fiel, war wachsbleich.
»Man ... man spürt – den Puls gar nicht – mehr ...«
»Was??«
»Ach ... Er ... er ist ja – tot??!«
»W ...??«
»Tot!!«
»Tot?? ... Du meinst ... tot???«
Die Worte blieben Jens in der Kehle stecken. Er zitterte.
»Tot?«
Es war, als ob er an dem Worte kaute.
»Es ... es ... ich will ... die Wirtin ...«
»Lass!!«
Olaf hatte sich tief über die Leiche gebeugt. Er drückte ihr die Augen zu ...
Eine Minute war vergangen. Sie hatten nicht gewagt, sich anzusehn.

Draußen kamen jetzt leichte Schritte die Treppe herauf.
Die Wirtin sprach mit jemand.
Sie sahen sich an.
»Es kommt wer!«
»Ach ... wahrscheinlich – der Arzt!«
Jens zupfte an dem untersten Knopf seines Jacketts herum. Sein Atem keuchte leise. Unverwandt sahen sie zur Tür hin.
Jetzt ...
»H ... herein ...«

»Bitte, meine Damen! O du lieber Gott! ... Bitte!«
Scheu waren sie jetzt vom Bett zurückgetreten. Sie wagten kaum aufzusehn.
In der offenen Tür stand eine schmächtige, ältliche Dame in einem einfachen, schwarzen Tunikakleidchen. Noch halb auf dem Flur draußen ein frisches, hübsches Gesichtchen, das ängstlich suchend, schüchtern über ihre Schulter sah.
Leise, mit einem halben Lächeln, war sie jetzt in das dumpfe, unfreundliche Zimmer getreten. Ihre leise zitternde Hand, durch deren lila Zwirnhandschuh ein schmaler Goldreif glitzerte, hatte sie halb wie fragend erhoben ...
Jetzt hatte sie sich über die Leiche gebeugt ...
Draußen zwitscherten die Spatzen, die Tauben gurrten in der blendenden Morgensonne. Vom Fenster bis zum Bett zog sich ein lichter Balken wimmelnder Sonnenstäubchen. Nebenan noch immer die weichen Töne der Geige.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
»Mama!!!«

Public Domain Mark
Dieses Werk (Ein Tod von Arnon Holz), das durch Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.

Arno Holz und Johannes Schlaf: Papa Hamlet. Frankfurt a.M. 1979, S. 123-142. (Quelle:
http://www.zeno.org/nid/20005096510

»Arno Holz/Johannes Schlaf, Papa Hamlet (zeno.org)

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 28.03.2024

 
   Arbeitsanregungen:

   Interpretieren Sie den Text.

  1. Untersuchen Sie dabei u. a. in welchen Phasen das Geschehen abläuft.

  2. Arbeiten Sie heraus, mit welchen erzähltechnischen und sprachlichen Mitteln die Autoren ihre Aussage gestalten. Inwiefern ist die Gestaltung ein Beispiel für den ▪ naturalistischen Stil?

  3. Formulieren Sie eine Gesamtdeutung des Textes, die Rückschlüsse auf die ihr zugrunde liegende Weltsicht der Autoren zulässt

 
 
 

 
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