Endlich, nachdem jetzt der alte Svendsen unten seine eintönige
Patrouille eingestellt hatte, konnte sich auch Olaf nicht mehr
länger aufrecht erhalten.
Die lange Nachtwache, der scharfe Karboldunst, der das ganze enge,
schwüle Zimmer füllte, das feine Ticken der Taschenuhr drüben vom
Sofatische her, das leise, unermüdliche Brühen und Blaffen, mit dem
sich das Öl in der kleinen, tief heruntergeschraubten Lampe
verzehrte, sein eigenes Blut, das ihm in den Ohren summte und
zwischendurch wie fernes, dünnes Glockengeläute klang: das alles
betäubte ihn!
Er hatte sich jetzt in den alten, großen, kattunenen Lehnstuhl dicht
neben dem Bett noch tiefer zurücksinken lassen. Die glitzernde
Flüssigkeit in dem halbvollen Glase neben ihm, die er vergeblich zu
fixieren suchte, war jetzt in einen orangefarbnen Lichtklecks
verschwommen, der allmählich ins Bläuliche überging, Schließlich
war's nur noch ein braunroter Funke, der übrigblieb, zuletzt war
auch der verloschen. Alles schien jetzt schwarz! Das Glas, das Bett,
die Lampe, das ganze Zimmer ...
Sein Kinn war ihm auf die Brust gefallen, er war eingeschlafen.
... Gott sei Dank! Er war wieder wach geworden. Es musste eine
Maus gewesen sein!
Sein Schatten, der jetzt lang und wunderlich geknickt drüben über
die weiße, niedrige Tür weg, das kleine, blaue Stück Tapete drüber
und die alte, verräucherte Zimmerdecke hinfiel, brachte ihn wieder
zu sich.
Er sah nach der Uhr.
Drei!
Der Kranke lag noch immer da wie tot.
Er hatte sich jetzt über ihn gebeugt.
Das trübe, grellrote Lampenlicht zeichnete die Augenhöhle neben der
spitz vorspringenden Nase wie ein tiefes, scharf umrändertes Loch in
den Schädel.
»Armer Kerl!«
Das große, feuchte Handtuch über seiner Stirn war jetzt wieder
behutsam zurechtgerückt, er war jetzt abermals in seinen Lehnstuhl
zurückgefallen.
»Armer Kerl!«
Und nun wieder nur das leise, unermüdliche Brühen der Lampe, das
Ticken der Uhr und Jens, der sich jetzt auf dem alten, wackligen
Sofa drüben im Schlaf auf die andere Seite gedreht hatte ...
Olaf seufzte.
Der schmutzige, gelbe Lichtfleck oben an der alten, rissigen Decke
zitterte und zitterte, die Uhr tickte, das Blut summte, er war
abermals eingeschlafen.
»O ... Oolaf!!«
Unten, irgendwo auf dem totenstillen Hofe hatten eben
ohrenzerreißend ein paar Katzen aufgekreischt; jetzt war auch Jens
in die Höhe gefahren.
»Um Gottes willen! Was ...«
»Halt's Maul! ... Diese verfluchten Biester!«
Er war jetzt wieder total munter.
Jens gähnte.
»Ha ... hach! Ich ... ich glaub', ich – hab 'n bisschen geschlafen!«
Er hatte den Kneifer, der ihm auf das Sofa gerutscht war,
aufgeknipst und drückte ihn jetzt wieder auf seine Stumpfnase. »Hm!«
»Geht's besser?«
»Nein! Er schläft immer noch!«
»Hm!«
Eine Weile war alles wieder still. Sogar die Katzen draußen hatten
sich auf einen Augenblick beruhigt. Jetzt sah auch Jens nach seiner
Uhr. Sie war stehngeblieben.
»Drei! Nicht wahr?«
»Ja! Erst!!«
»Schön! ... Ist noch Bier da?«
»Ja! Ich glaube.«
Jens ging nachsehn. Seine dicken Filzsocken machten seine Schritte
unhörbar. Vor dem Bette blieb er einen Augenblick stehn.
»Du! Vielleicht wird's doch besser!«
Olaf zuckte nur die Achseln.
Eins ... zwei ... drei ... fünf Stück noch.
»Dir auch eine?«
»Nein! Danke!«
»Aah! das tut wohl! – Übrigens ... scheußlicher Muff hier!«
»Ja! Zum Zerschneiden!«
»Schauderhaft! Schauderhaft!«
Er hatte sich jetzt, beide Hände in den Hosentaschen, dicht vor das
Fenster gestellt.
»Dieses verdammte Viehzeug!«
Olaf, der schon eine ganze Zeit auf dem kleinen, rotgeheizten
Bücherregal über der Kommode gekramt hatte, sah auf.
»Ja! Weiß Gott! Schon die ganze Nacht!«
Jens sah jetzt auf den Hof hinaus. Er hatte die Gardinen beiseite
genommen.
Drüben auf die dunkle Wand des Hinterhauses hatten die beiden
Fenster ihre zwei trüben Lichtvierecke gelegt, oben auf einem
Schornstein zeichneten sich die schwarzen Schattenrisse zweier
Katzen deutlich gegen den blauen Nachthimmel ab. Zwei, drei
Sternchen flinkerten müde über den mit einem leisen, grauen Lichte
überzogenen Dächern.
»Tegnér? Hm! Na! Ist ja schließlich egal!«
Plötzlich hatten sich beide wieder unruhig umgedreht.
Ein scharfes Knacken war deutlich durch das totenstille Zimmer
gegangen.
»Nein! ... Nein! ... Es war wieder nur der dämliche Schrank!«
»Ich dachte schon ... hm! Wenn's nur nicht wiederkommt!«
Jens hatte unwillkürlich tief aufgeatmet.
Seiner ganzen Länge nach hatte er sich jetzt wieder über das Sofa
geworfen.
Olaf hatte sich den Tegnér dicht unter die kleine, altmodische Lampe
gerückt, um deren Glocke ein großer, gelber Zeitungsbogen gesteckt
war, dessen Zipfel bis auf den Tisch herunterreichte.
Die Blätter knitterten unter seinen Händen. Den Ellbogen
aufgestützt, las er jetzt halblaut vor sich hin.
»Wie schön die Sonne lacht! Wie freundlich
Von Zweig zu Zweigen ...«
Wieder knitterten die Blätter. Die Furche zwischen seinen
dichten, buschigen Augenbrauen hatte sich noch tiefer gegraben.
Jens, der jetzt auf dem Bauch liegend über das Seitenkissen des
Sofas weg zwischen den Arabesken der Gardinen hindurch den kleinen,
grünen Stern drüben über dem Schornstein beobachtete, langweilte
sich scheußlich.
»Willst du nicht lieber 'n bisschen schlafen?«
»Nein!«
»Aber Kind! ... Warum nicht? Ich löse dich ab!«
»Lass nur! ... Kann nicht schlafen!«
»Ae! Eigentlich! Ich auch nicht mehr!«
Ein langes Schweigen war eingetreten. Stumpf und müde starrten die
beiden vor sich hin.
»Du!«
»Ja?«
»Nichts!«
»Was denn?«
»Still! Hörst du nichts?!«
Unten im Flur krackelte jetzt etwas an der Haustür herum. »Aha!«
Schläfrig blinzelte jetzt Jens wieder nach seinem Stern hinüber.
»Hm!«
Olaf blätterte wieder weiter.
Unten hatte es unterdessen das Schlüsselloch gefunden und drehte nun
mühsam auf. Es torkelte herein.
»Du! Hör mal den!«
»Na? Ei, du Donnerwetter!«
Schwer kam es jetzt die Treppe in die Höhe gestapft. Am Geländer
hielt es sich. Manchmal polterte es wieder ein paar Stufen zurück.
Es schnaufte und prustete. Eine tiefe, heisere Bassstimme brummte.
Jetzt, endlich kam es schwerfällig über den Flur. Ein dicker Körper
war dumpf gegen eine Tür geschlagen. Ein abgebrochener Fluch, dann
half es sich wieder weiter.
»Heiliger Bimbam!«
Jens lachte leise.
Jetzt hatte es sich sogar gegen die Wand gestemmt und schurrte sich
daran entlang. Ein paar Kalkstücke waren abgebröckelt und prasselten
unten auf die Dielen.
»Was?! Famose Kröte!«
»Still mal!!«
Es kam ... ja! ... es kam sogar ... auf die Tür zu?
Jetzt ... Schwer war es dagegen gekracht! Der dumpfe Schlag war
durch das ganze Zimmer gegangen.
»Herrgott! Was ist denn das für ein Knote?!!«
Olaf war steil in die Höhe gefahren.
Auch Jens war die Sache etwas bunt geworden ...
Sie standen jetzt beide mitten im Zimmer, die Augen aufmerksam auf
die Tür gerichtet.
Es tastete nach der Klinke.
»Das heißt ...«
Schnell, auf den Zehen, war jetzt Olaf auf die Tür zugegangen.
Aber in demselben Augenblicke war sie auch bereits aufgeprallt und
ein unförmiger, schwarzer Klumpen über die Schwelle weg prustend ins
Zimmer gekugelt.
Der kühle Luftzug hatte die kleine Lampe neben dem Bett hoch
aufflackern lassen.
Jens war sofort zugesprungen.
Mit Olafs Hilfe gelang es ihm endlich, den Betrunkenen aufzurichten.
In dem matten Schein der Lampe jetzt ein blaurotes, gedunsenes
Gesicht, das mit seinen kleinen, verschwommenen Augen blöde im
Zimmer umherglotzte. Unter dem eingedrückten Hut vor dünne,
flachsblonde Haare in die rote, fette, schweißtriefende Stirn.
»Mein Herr! Bitte!«
Ein Schlucken und Schnieben war die einzige Antwort.
»Sie sind fehlgegangen!«
»Wa ... hbf ... wa ... waas? Hbf! ...«
»Sie sind fehlgegangen!«
»Ah! ... En ... en ... hbf! ... schul ... jen ... i ... hbf! ...
ich ...«
»Bitte!«
»Hb! Hbf! ...«
Hinterrücks war jetzt der Dicke mit seiner Verbeugung auf den Flur
zurückgetaumelt. Olaf drückte die Tür fest an und drehte den
Schlüssel um ...
»Nette Wirtschaft hier!«
Endlich hatten sie sich wieder beruhigt.
Olaf blätterte wieder zerstreut in seinem Tegnér herum, Jens hatte
sich auf das Sofa zurückgeworfen und blinzelte wieder schläfrig vor
sich hin durch die Gardine.
Am Kopfende des Bettes, in irgendeinem Winkel, summte verschlafen
ein durch das Licht aufgestörter Brummer.
Die Taschenuhr tickte, vom Schrank her ein paar Holzwürmchen. Jetzt,
oben in der dritten Etage, klappte endlich auch die Tür zu.
Durch die dünne Decke durch hörte man deutlich, wie es plump auf ein
Bett fiel ...
Das matte, fahle Licht oben auf den Dächern war jetzt ein wenig
heller geworden ...
Olaf schüttelte sich. Ihn fröstelte. Den Lampendocht schraubte er
etwas höher. Das scharfe, totblasse Gesicht des Kranken, in dessen
feuchte Stirn unter dem Handtuch vor wirr die schwarzen, nassen
Haare quollen, zeichnete sich jetzt noch schärfer.
»Ach Gott, ja!«
Müde hatte Olaf den Kopf auf seine beiden Arme gelegt, die er gegen
die Tischkante gestützt hatte.
Plötzlich waren sie beide erschrocken zusammengefahren!
Das Bett hatte diesmal ganz deutlich geknarrt.
Ein unruhiges Rauschen. Ein Stöhnen. Bleischwer hatte es auf das
bauschige Deckbett geklappt.
Atemlos starrten die beiden hin ...
»Ah! ... aaah!! ...«
Schnell hatte sich jetzt Olaf über den Kranken gebeugt.
»Jens! Jens!«
»Hier!«
Der Kranke war jetzt noch unruhiger geworden. Sein Kopf drehte sich
nach allen Seiten. Seine tiefliegenden, dunklen Augen waren weit
aufgerissen. Seine Nägel kratzten scharf über den Bettbezug. Seine
blassen, bläulichen Lippen bewegten sich. »Du! Komm her!«
»Ja!«
Aber wieder lag er jetzt regungslos. Nur seine langen, abgemagerten
Hände, die unruhig an dem Deckbett zupften. Ein paar Sekunden lang
war alles still ...
Jetzt, kaum hörbar:
»Wasser ...«
»Schnell! Schnell!«
»Da!«
Olaf hatte sich mit dem Glase wieder über das Bett gebeugt.
Vorsichtig, leise schob er dem Kranken seinen langen, sehnigen Arm
unter den Kopf. Behutsam rückte er ihn ein wenig in die Höhe und
drückte ihm das Glas an den Mund ...
Gierig hatte der Kranke getrunken! Seine irren Blicke waren jetzt
starr auf den schmutziggelben, bebenden Kreis oben über den
weißgestrichenen, niedrigen Querbalken der Decke gerichtet ...
Das leise, zitternde Klappen des leeren Glases, das Jens auf den
Tisch zurückstellte, und die Taschenuhr drüben.
»H ... h ... Los! Los denn doch!!«
»Du! Du!«
»Ja!«
»Auf die Mensur! Fertig! Los!!! ... Ah! ... Hier! Hier!
In die Seite! ... Ah! Aaah! ... Es schmerzt! Es schmerzt, Olaf!
Olaf! ... Hu! Das Blut! Das Blut! ... Das ganze Gras ... aaah! ...
Das ganze – Gras ... Das ganze Gras ...«
Jens schüttelte sich. Es überlief ihn.
Olaf hatte sich jetzt noch tiefer über das Bett gebückt.
»Martin! Martin! Alter Junge!«
Seine Stimme zitterte etwas.
»Jens! 'n frisches Tuch!« ...
»Hier!«
»Ah ... das Gras ist ... feucht! ... kühl ... so kühl ...
Wir müssen fort, Olaf ... Die Droschke ... unten ... Ruhig, Kind!
Ruhig! Der Kerl soll dran glauben!! – Wart mal! Wart mal! Der
Briefträger? Flinsberg, alter Junge! Keinen Schilling mehr, aufs
Wort! ... Geld! Geld! Mutterchen hat doch geschickt ... Mutterchen!
... Aber es wird ihr schwer, Olaf! ... Sie sagen's nur nicht
...sagen's nur nicht! Hier, Herr Doktor! ... Bitte! ... Wunderschön!
... das Getreide ... Die Vögel ... Ach, Herr Doktor! ... Lasst doch!
... ihr braucht mich doch nicht zu halten ... ich kann ja allein ...
nicht doch! ... Lasst doch!!«
Er wand sich. Olaf hatte jetzt beide Arme um ihn geschlungen.
»Nein! Nicht doch! Lass doch, Jens! ... Mach keinen Unsinn! Gib meine
Mappe her! ... Ich muss ins Kolleg! ... Sauf's! Sauf's! ... Rest
weg! ... Donnerwetter! So 'ne wüste Zecherei! ... Aber ... aber ...
nicht, nicht doch! ... Lass doch – los!! ... Ach – lass doch nur!
Lass!! ... Silentium! Wir wollen eins singen!«
Mit seinen abgemagerten Armen schlug er jetzt wild in der Luft
herum. Seine langen, schmalen Hände schlenkerten in den dürren
Gelenken.
Olaf stöhnte.
»Wir singen eins! ... Das erste Lied! ... Seite ... Nein doch! ...
Lass! ... Lass!! Lass doch – loos!!!«
»Jens! ... Fass ... mit – zu!«
»Los! Los!! – Loos!!! ... Lasst mich doch! Lasst mich doch!! ...
Aah! Aaahh!!«
»Fest! – Fest!! ... Er – will – raus!!!«
Ein Brett, das sich unten aus der alten Bettlade gelöst hatte, war
jetzt auf die Dielen gekracht. Sie wurden hin und her geschleudert
...
Endlich hatten sie Martin in das zerwühlte Bett wieder
niedergezwängt. Er lag jetzt erschöpft da. Er schwatzte nur noch
halblaut vor sich hin. Das runtergezerrte Deckbett hatte Jens wieder
sorgsam über ihm zurechtgerückt. Beide atmeten schwer ...
Draußen in der Nachbarschaft krähte jetzt ein Hahn.
»Ah! Es schmerzt! Es schmerzt ja so!! Aah!! Aaaah!!! ...
Olaf! Olaf!!«
»Ja? Mein Junge? ... Ich bin's ja! Und Jens! ... Wird dir besser?«
Er hatte sich wieder zu ihm niedergebeugt. Seine Brust keuchte noch.
Er konnte kaum sprechen.
»Ja! – Ja ... Die Sonne scheint so wunderschön ... Draußen ... Heut
abend bei Bergenhuus ... am Strand ... Nicht wahr, Nora? ... Ach,
schon Morgen ... Bloß ein Frosch! ... Nicht doch ... bloß ein Frosch
... Hier! Hier! Das Gras ist so schön ... Oh, nicht wahr? Wir werden
uns nie vergessen? ... Nie ... nie ... Oh, nicht wahr? ... Noch ein
Kuss? ... Hm? ... Gute Nacht ... Der Mond ... so schön ... dort ...
über der See ... so rot ... so groß ... so groooß ...«
Er lag jetzt da, mit halbgeschlossenen Augen. Er lächelte.
»Er wird ruhig!«
»Ja ...«
Olaf hatte sich jetzt wieder aufgerichtet. Einen Augenblick hatte er
seinen Arm gerieben. Jens wischte sich mit dem Handrücken über die
Stirn.
»So kühl ... so schön ... so ...«
Olaf hatte Martin wieder das feuchte Handtuch festgerückt. Jens war
zur Lampe getreten.
»Vier ... vier erst ... h! ...«
Er stand jetzt wieder am Fenster.
»Wenn's doch erst Tag wär'!!«
Der fahle Lichtschein draußen auf den Dächern war jetzt heller
geworden. Das erste Morgendämmern legte ein mattgoldiges Gelb auf
die moosigen, schwarzroten Dachziegel und auf den viereckigen
Schornstein drüben. Der enge Hof unten lag in einem silbergrauen
Dämmerlicht. Langsam schlich sich der anbrechende Morgen an der
Fensternische entlang in das dumpfige Zimmer. Das Glanzleder des
Sofas hatte leise zu schimmern angefangen, der unruhige Lichtfleck
oben an der Decke wurde immer blasser. Der Docht der Lampe, von
welcher Olaf den Zeitungsbogen genommen hatte, war nur noch ein
rötlich kohlender, stinkender Ring.
Draußen krähte wieder der Hahn. Ein leiser Windstoß strich am
Fenster vorbei. In der Nachbarschaft kräuselte sich aus einem
Schornstein ein feiner, weißer Rauch in das mattblaue, eckige Stück
Himmel über den Hinterhäusern.
»Wann können sie denn da sein?«
»In zwei Stunden, denk' ich!«
Jens hatte sich wieder umgedreht.
»Du! Komm! – Schnell!«
»Nein! Nein! ... Die Bummelei hat keinen Zweck! Wir wollen jetzt
arbeiten! Arbeiten!!«
»Du!«
»Herrgott! Herrgott!«
Leise schwatzte er jetzt wieder vor sich hin.
Plötzlich hatte er sich blitzschnell, mit einem jähen Ruck, steil
aufgerichtet.
»Jens! ... Schnell! ... Schnell! ... Nie-der! Nie-der!
Der Ver-band!«
»Wir wollen eins singen!! ... Wir wollen eins singen!!«
Martin sang ...
Seine Stimme gellte heiser durch das Zimmer.
»Fest! Halt – fest!!«
»Fttt!! Das war ein inkommentmäßiger Hieb! ... Bitte den Herrn
Unparteiischen zu konstatieren ... h!! ...h!!
Hierher ... Aaaahh!! ...«
Martin war sich mit beiden Händen nach seinem Leib gefahren.
»Fass fest zu! Um – Gottes willen! ... Er – reißt sich ... den –
Verband los!!«
Martin raste.
»Halt ... was ... du – kannst!«
Jens war mit dem Kopf gegen den Bettpfosten geflogen.
»Die verfluchte Kugel! ... Es wird mir dunkel ... so dunkel ... Jens
... ich sterbe! ... Ich – sterbe ja!! ... Ida! Mutterchen! ... Sie
waren so stolz auf mich ... Ah! Herr Doktor? ... Gratuliere, mein
lieber Junge! ... Gratuliere! ... Aber, ich ... ich will ja! ...
Nein, Nora! nur ein Frosch, Kind! ... Sieh doch! ... das Meer ... es
wird ... ganz schwarz ... schwarz ... Mutterchen! ... Mutterchen ...
Es wird ja alles noch gut ... gut ... Ah! Aaah!! ... Gute Nacht ...
h! – h! – Gute Nacht, Herr ... H ... Herr – Doktor ...«
»Lass 'n bisschen los! – Er wird ruhig!«
Jens richtete sich auf. Sein Atem ging schwer, mühsam.
Er besah sein Handgelenk. Es war blau. Ein paar blutige Streifen
zogen sich drüber hin.
»Lösch ... die ... Lampe aus! Sie kohlt!«
Erschöpft war Olaf wieder in seinen Lehnstuhl zurückgesunken.
Im Zimmer wurde es jetzt hell. Die Messingtüren an dem weißen
Kachelofen neben der Tür funkelten leise. Draußen fingen die Spatzen
an zu zwitschern. Vom Hafen her tutete es.
Unten hatte die Hoftür geklappt. Jemand schlurfte über den Hof. Ein
Eimer wurde an die Pumpe gehakt. Jetzt quietschte der
Pumpenschwengel. Stoßweise rauschte das Wasser in den Eimer. Langsam
kam es über den Hof zurück. Die Tür wurde wieder zugeklappt.
Sie sahen zu dem hellen Fenster hin. Unwillkürlich hatten sie beide
tief aufgeatmet.
»Du! Olaf! Sieh mal!«
Olaf antwortete nicht. Er hatte nur den Kopf ein wenig zum Bett
hingedreht.
»Er liegt wie tot!«
»Ich glaube ... Hm!«
Er sah nach der Uhr.
»Wir müssen 'n neu'n Verband anlegen! Gib doch mal den Eisbeutel!«
Jens reichte ihm den frischen Eisbeutel vom Tisch herüber. Behutsam
legten sie Martin den neuen Verband an.
Olaf brummelte etwas Unverständliches in seinen langen, strohgelben
Schnauzbart.
»Ich glaube, die Wunde ist – nicht sorgfältig genug gereinigt! Es
sind sicher noch Stoffäserchen von der Hose dringeblieben! ... Sieh
mal!«
Sie hatten sich beide auf die Schusswunde niedergebückt, die Martin
seitwärts im Unterleibe hatte.
»Du! Sieh doch nur! ... Er verändert sich ordentlich!«
»Hm!«
»Er liegt so still!«
»Ja! Wir müssen den Arzt holen lassen!«
»Ich will klingeln?«
»Ja!«
Hastig war Jens zur Tür gegangen. Grell tönte die Klingel unten
durch das noch stille Haus ...
Der erste Sonnenstrahl blitzte jetzt goldig über die Dächer weg
in das Zimmer. Er lebte einen hellen Schein auf die dunkelblaue
Tapete über dem Bett und zeichnete die Fensterkreuze schief gegen
die Wand. Die Bücherrücken auf dem Regal funkelten, die Gläser und
Flaschen auf dem Tisch fingen an zu flinkern. Die Arabesken des
blanken Bronzerahmens um die kleine Photographie auf dem Tisch
mitten zwischen dem weißen, auseinander gezerrten Verbandzeug und
dem Geschirre glitzerten. Auf den Dächern draußen lärmten wie toll
die Spatzen. Unten auf dem Hofe unterhielten sich ganz laut ein paar
Frauen.
»Donnerwetter! Ist das eine wüste Wirtschaft hier!«
Jens, der zum Sofa ging, war über ein paar Stiefeln gestolpert, die
mitten im Zimmer auf dem verschobenen, staubigen Teppich lagen.
»Mir ist ganz öd im Schädel!«
Schwer hatte er sich wieder auf das knackende Sofa sinken lassen.
Olaf hatte nicht geantwortet.
Jens reckte sich.
»Übrigens ... Es war eine schneidige Mensur!«
»Ja! Sehr korrekt!«
»Ja! Sehr ehrenhaft! – Für beide!«
»Eversen ist ins Ausland, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich!«
Jens betrachtete nachdenklich die beiden blitzenden Pistolenläufe
über dem Sofa. –
»Wenn sie nun kommen?«
»Hm!«
»Ae!«
Jens gähnte nervös.
»Wo bleibt denn dieser alte – Ohrwurm?!«
»Wann können sie denn hier sein?«
Olaf hatte sich vom Bett in die Höhe gerichtet.
»Ich denke, nach sechs?«
»Hm!«
... »Na endlich!«
Jens war aufgesprungen. Hastig schloss er die Tür auf.
»Guten Morgen, meine Herren!«
»Guten Morgen, Frau Brömme!«
Die kleine, dürre Frau Brömme stand mit ihrem vorgestreckten,
ängstlichen, verrunzelten Gesicht in der Tür. Ihre kleinen, grauen
Augen hatte sie halb fragend, halb verstimmt gleich auf das Bett
gerichtet. Mit ihren dürren Fingern zupfte sie an ihrem
Schürzenband.
»Wie steht es, Herr Doktor?« »Schlecht! Wollen Sie schleunigst zum
Arzt schicken!«
Olaf hatte nicht vom Bette aufgesehn.
»Ach, du lieber Gott! ... Es wird doch ...«
»Und ... bringen Sie bitte etwas frisches Wasser!«
»Ja! Sofort! Sofort! O du lieber Gott! Du lieber Gott!«
Die letzten Worte waren schon draußen vom Flur gekommen.
Im Zimmer nebenan wurde es jetzt lebendig. Ein Fenster wurde
geöffnet. Jemand stimmte eine Geige.
»Der Philologe! Er steht jeden Morgen um sechs auf und spielt!
Könnten wir nicht das Fenster ein bisschen aufmachen? Es ist zum
Umkommen!«
»Ja! Etwas!«
Jens öffnete. Tief aufatmend sog er die frische Morgenluft ein.
Weich und klagend klangen die Töne der Geige, auf der der
Philologe jetzt nebenan eine alte Volksballade spielte, auf den
sonnigen Hof hinaus in das Zwitschern der Spatzen und das Gurren und
Flügeklatschen der Tauben. Von fern, durch die klare Morgenluft,
deutlich die hellen, zitternden Schläge einer Turmuhr.
Sie lauschten beide. Ihre bleichen, überwachten Gesichter waren
tiefernst ... Vor der Tür hatte es jetzt geklirrt. Jens öffnete.
Frau Brömme kam mit dem Wassereimer und Kaffee. Vorsichtig trippelte
sie auf den Tisch zu. Sie ließ kein Auge vom Bett.
»Hier ... hier, Herr Doktor! Etwas Kaffee, meine Herren! Du lieber
Gott, ja!«
Olaf tauchte ein Handtuch in den Eimer und wrang es aus. Es
plätscherte. Frau Brömme nickte.
Jens schlürfte von dem Kaffee.
»Wie der arme junge Mann aussieht! Du mein Gott! Ach wissen Sie, es
ist eine rechte Sünde, das Duellieren!«
»Eh! Der Arzt kommt doch bald?«
»Sofort! Sofort, Herr Doktor! Sofort! Ach Gott! So ein junger Mann,
an den seine Mutter alles gewendet hat! Entschuldigen Sie! Aber
sagen Sie selbst, meine Herren! Und schließlich, um eine
Kleinigkeit, um nichts, wenn man's so nimmt' Das ist doch wahr,
meine Herren!« Olaf und Jens hatten eine sehr reservierte Miene
angenommen.
»Ach ja! Man kann was erleben, wenn man zwanzig Jahre an Studenten
vermietet hat!«
Olaf war müde in seinen Stuhl zurückgesunken.
»Ach, Sie müssen auch schön müde sein, Herr Doktor! ... Ja, ein
richtiges Buch könnte man schreiben! Glauben Sie? Nebenan wohnte mal
ein Herr Eriksen, der kriegte ganz und gar das Delirium! Hier! In
meinem Hause! O Gott, wenn ich noch ...«
»Hm! ... Wollen Sie – gleich noch etwas Eis heraufbringen!«
»Eis! Eis! Jawohl, jawohl, Herr Doktor! Sofort! O du lieber Gott!«
Sie trippelte hinaus.
»Alte Hexe!«
Olaf hatte das zwischen den Zähnen vorgezischelt. Jens schüttelte
sich. Es fröstelte ihn.
»Unheimlich!«
Nebenan klang noch immer die Ballade durch die dünne Holzwand. Im
Zimmer fingen die Fliegen an zu summen ...
»Du!«
»Was denn?!«
»Er liegt so auffallend still?«
»Ja! ... Und ... Herrgott! Sieh mal!! Seine Nase ist – so spitz? Und
... die – Augen ...«
Olaf hatte sich schnell über Martin gebückt.
Um seinen Mund lag jetzt ein krampfiges Lächeln. Die Arme lagen lang
über das zerwühlte Bett hin. Das scharfe, spitzige Gesicht, auf
welches jetzt schräg die Sonne fiel, war wachsbleich.
»Man ... man spürt – den Puls gar nicht – mehr ...«
»Was??«
»Ach ... Er ... er ist ja – tot??!«
»W ...??«
»Tot!!«
»Tot?? ... Du meinst ... tot???«
Die Worte blieben Jens in der Kehle stecken. Er zitterte.
»Tot?«
Es war, als ob er an dem Worte kaute.
»Es ... es ... ich will ... die Wirtin ...«
»Lass!!«
Olaf hatte sich tief über die Leiche gebeugt. Er drückte ihr die
Augen zu ...
Eine Minute war vergangen. Sie hatten nicht gewagt, sich anzusehn.
Draußen kamen jetzt leichte Schritte die Treppe herauf.
Die Wirtin sprach mit jemand.
Sie sahen sich an.
»Es kommt wer!«
»Ach ... wahrscheinlich – der Arzt!«
Jens zupfte an dem untersten Knopf seines Jacketts herum. Sein Atem
keuchte leise. Unverwandt sahen sie zur Tür hin.
Jetzt ...
»H ... herein ...«
»Bitte, meine Damen! O du lieber Gott! ... Bitte!«
Scheu waren sie jetzt vom Bett zurückgetreten. Sie wagten kaum
aufzusehn.
In der offenen Tür stand eine schmächtige, ältliche Dame in einem
einfachen, schwarzen Tunikakleidchen. Noch halb auf dem Flur draußen
ein frisches, hübsches Gesichtchen, das ängstlich suchend,
schüchtern über ihre Schulter sah.
Leise, mit einem halben Lächeln, war sie jetzt in das dumpfe,
unfreundliche Zimmer getreten. Ihre leise zitternde Hand, durch
deren lila Zwirnhandschuh ein schmaler Goldreif glitzerte, hatte sie
halb wie fragend erhoben ...
Jetzt hatte sie sich über die Leiche gebeugt ...
Draußen zwitscherten die Spatzen, die Tauben gurrten in der
blendenden Morgensonne. Vom Fenster bis zum Bett zog sich ein
lichter Balken wimmelnder Sonnenstäubchen. Nebenan noch immer die
weichen Töne der Geige.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
»Mama!!!«
Dieses Werk (Ein Tod von Arnon Holz), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Arno Holz und Johannes Schlaf: Papa Hamlet. Frankfurt a.M. 1979, S. 123-142.
(Quelle:
http://www.zeno.org/nid/20005096510
»Arno
Holz/Johannes Schlaf, Papa Hamlet (zeno.org)
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